Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1

D


ie Digitalisierung zwingt Unterneh-
men weltweit in einen Wettbe-
werb, in dem es vor allem drei Dis-
ziplinen gibt: Geschwindigkeit,
Technologie und Freiraum. Beim
Digitalgipfel in Dortmund diskutieren Politiker,
Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter Ende
Oktober, welche Rolle Deutschland im digitalen
Wettbewerb spielen wird. Denn nur wer in allen
Bereichen punkten kann, hat eine Chance, auch
künftig zu bestehen.
Geschwindigkeit bedeutet: Nur wer mit einem
neuen Produkt oder einer neuen Dienstleistung
der Erste ist, kann Märkte erobern und langfris-
tig Standards setzen; das gilt genauso für einzel-
ne Unternehmen wie für ganze Länder. Der
Schnellste hat die Möglichkeit, große Markt-
macht aufzubauen und zu bestimmen, wo es in
Zukunft langgeht. Technologien wiederum ent-
wickeln sich in immer kürzeren Innovationszy-
klen, erreichen schnell Marktreife und werden
dann in Unternehmensprozesse integriert – sie
sind der entscheidende und am besten sichtbare
Teil der Digitalisierung. Damit es solche Techno-
logien bis zur Marktreife schaffen, braucht es in-
novative Köpfe – und die wiederum müssen den
nötigen Freiraum in Forschungseinrichtungen
und Unternehmen haben, um nicht nur den all-
täglichen Betrieb am Laufen zu halten, sondern
auch innovative Ideen entwickeln zu können.
Übermäßige Bürokratie ist Gift: Sie schränkt die
Handlungsfähigkeit oft ein.


Europa hinkt im globalen
Technologiewettlauf hinterher


Im digitalen Wettlauf mit den USA und China
wirkt es, als hinke Europa in allen drei Diszipli-
nen hinterher. Besonders wenn es um Dienstleis-
tungen für Endkunden geht, bestehe deutlicher
Nachholbedarf, so wird häufig testiert. Dafür gibt
es eine ganze Reihe von Indizien: So sitzen Un-
ternehmen mit digitalen, auf den Endkunden ge-
richteten Geschäftsmodellen wie Uber, Airbnb,
Alibaba vor allem in den USA und China. Knapp
die Hälfte aller hoch bewerteten Plattformunter-
nehmen befindet sich in China, ein Drittel in den
USA, und nicht einmal fünf Prozent befinden
sich in Europa. Das Erfolgsgeheimnis dieser gro-
ßen Unternehmen: Sie nutzen die Skalenvorteile
des Geschäftsmodells Plattform perfekt und sind
damit rasant gewachsen.
Ein weiteres Indiz: Daten liefern die Basis für
digitale Innovationen und neue Geschäftsmodel-
le. Auch hier dominieren die großen amerikani-
schen und chinesischen Plattformen wie Google,
Facebook und WeChat: Sie verfügen über Milliar-
den Nutzer, deren Daten sie teilweise schon seit
Jahren sammeln und auswerten – eine wahre
Goldgrube.
Und dann sind da auch noch die Europäische
Datenschutz-Grundverordnung und die geplante
E-Privacy-Verordnung. Sie setzen den Unterneh-
men in Europa Grenzen für den Umgang mit per-
sonenbezogenen Daten – entsprechend bewegen
sich die Unternehmen hierzulande in deutlich
engerem Rahmen als Unternehmen in den USA
und in China.
Europa muss in der digitalen Transformation
vor allem im Vergleich zu China und den USA
insgesamt, das heißt nicht nur in der B2B-
(Business-to-Business)-Welt, wettbewerbsfähig
bleiben. Gelänge dies nicht, wären die Folgen


alarmierend: Mittelfristig könnte Europa wirt-
schaftlich in eine starke Abhängigkeit von außer-
europäischen Konzernen geraten, die Standards
und Rahmenbedingungen festlegen, ohne dass
eine Wahrnehmung europäischer Interessen
möglich wäre. Europa kann und muss jetzt seine
Stärken einsetzen, um das zu verhindern.
Die deutsche und europäische Industrie birgt
enormes Potenzial für die Nutzung von Daten,
vor allem im B2B-Umfeld. Hier besteht ein deutli-
cher Vorteil, insbesondere gegenüber den USA,
denn dort fehlt schlichtweg die Industrie. In
Deutschland macht das Verarbeitende Gewerbe
22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus,
in den USA sind es lediglich rund elf Prozent. Das
Rennen um Plattformen als Geschäftsmodell im
B2B-Bereich ist noch nicht entschieden. Das Ziel
der Politik muss es sein, den Unternehmen
marktkonform Unterstützung zu geben und des
Weiteren Leitplanken für die Verwendung von
Daten zu setzen. Dies beinhaltet, einerseits die
Datennutzung von Unternehmen zu fördern und
andererseits auch Standards zu fordern, die Da-
tensouveränität ermöglichen.

Daten und Geschwindigkeit entschei-
den im digitalen Wettbewerb
Die Unternehmen müssen ihre Daten kennen,
nutzen und schließlich so handeln, dass sie da-
mit die bestmögliche Position im Digitalisie-
rungswettbewerb einnehmen können. Hand-
lungsbedarf besteht auch im Zusammenhang mit
der Speicherung von Daten in der Cloud. Aktuell
wird der deutsche Cloudmarkt vor allem von den
amerikanischen Unternehmen Amazon, Micro-
soft und Google beherrscht. Durch den „Cloud-
Act“ vom 6. Februar 2018 können jedoch US-Be-
hörden auch auf die Daten von europäischen Un-
ternehmen zugreifen, die bei diesen Anbietern
gespeichert sind. Damit Datensicherheit und Da-
tensouveränität für die europäische Wirtschaft
trotzdem weiterhin gewährleistet werden, sind
europäische Angebote für Services aus der Cloud
dringend notwendig.
Wichtige Bausteine einer digitalen Infrastruk-
tur liegen vor. Beispielsweise ermöglichen die
Standards der International-Data-Spaces-Initiati-
ve einen souveränen, den europäischen Werten
entsprechenden Datenaustausch zwischen Un-
ternehmen. Gerade in Bezug auf die Digitalisie-
rung der Wirtschaft ist inzwischen ein Wettbe-
werb der Standorte entbrannt, den Länder wie
China durch exorbitante öffentliche Investitio-
nen etwa in Künstliche Intelligenz für sich zu ent-
scheiden versuchen.

Für unsere Datensicherheit brauchen
wir eine europäische Cloud
Daher kommt einer zielgerichteten und vor al-
lem angemessenen öffentlichen Förderung in
diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige
Rolle zu. Bis 2025 will die Bundesregierung im
Rahmen ihrer KI-Strategie drei Milliarden Euro in
KI-Förderung investieren. Das ist einfach zu we-
nig, gerade im Vergleich zu China, das bis 2030
zur Nummer eins in KI werden will und wo
schon einzelne Städte dafür viermal so viel inves-
tieren wie die Bundesregierung hierzulande ins-
gesamt.
Auch wenn die Regulierung in der EU einen
strikten Rahmen setzt und die Unternehmen da-
durch eingeschränkt werden, können so gleich-

zeitig Standards für den Umgang mit Daten und
neuen Geschäftsmodellen entstehen. Da Regulie-
rungsarbitrage wegen der dadurch bedrohten
Skalierungsvorteile für die großen amerikani-
schen Technologiekonzerne zu teuer ist, besteht
die Chance, dass der gesetzgeberische „First Mo-
ver“ den globalen Standard setzt.

Europäer müssen globale Standards
in der Digitalwirtschaft setzen
Beispielsweise wurde die neue Datenschutzrege-
lung in Kalifornien an die DSGVO angelehnt. Zu-
dem bemühen sich die großen amerikanischen
Internetkonzerne inzwischen oftmals, durch ihr
Geschäftsgebaren einer noch strengeren Regulie-
rung zuvorzukommen. Die europäische Regulie-
rung wirkt so auch über Europa hinaus. Dass Da-
tenschutz auch international an Bedeutung ge-
winnt, zeigt der zum diesjährigen G20-Treffen in
Japan initiierte „Osaka Track“, dessen Ziel welt-
weite Regeln für den freien, sicheren Datenaus-
tausch unter Schutz von persönlichen Daten und
geistigem Eigentum sowie Cybersicherheit sind.
Der Umgang mit Daten und Geschäftsmodellen
im Rahmen der digitalen Transformation bein-
haltet normative und ethische Entscheidungen.
Konkret bedeutet das: Die Geschäftsmodelle, die
zukünftig Wohlstand in Europa generieren, müs-
sen auch zu den europäischen Werten passen.
Für Europa kann das zu einem Vorteil werden,
wenn Kunden sich bewusst nur für Produkte
oder Dienstleistungen entscheiden, die explizit
unter der Berücksichtigung gewisser, in Europa
kulturell verankerter Normen und Werte entstan-
den sind. Ein Beispiel für solches Kundenverhal-
ten ist der Boom der Verkäufe von Bio-Lebens-
mitteln in den vergangenen Jahren. Konventio-
nelle Lebensmittel sind oft günstiger, aber für
nachhaltig hergestellte Produkte greifen die Men-
schen tiefer in den Geldbeutel. In Bezug auf den
Umgang mit Daten ist Datensouveränität ein ho-
hes Gut, das einen europäischen Wert darstellt,
den es zu schützen lohnt und aus dem sich ein
Wettbewerbsvorteil für die europäischen Unter-
nehmen ergeben kann.

Europa kann mit seinen Werten auch
in der digitalen Welt punkten
Auch Unternehmen handeln mit Blick auf die ge-
sellschaftlich informell formulierte, aber wir-
kungsmächtige „Betriebserlaubnis“ zunehmend
nach diesem Prinzip. Social Responsibility und
Nachhaltigkeit sind für viele Firmen ausschlagge-
bend, wenn es beispielsweise um die Wahl eines
Dienstleisters geht. Das Gleiche lässt sich an der
Börse beobachten: „Sustainable funds more like-
ly to be top performers“ (nachhaltige Fonds ge-
hören mit höherer Wahrscheinlichkeit zu den
renditestärksten Anlagen), berichtete die „Finan-
cial Times“ unter Berufung auf das Analyseunter-
nehmen Morningstar. Bei diesen drei Beispielen
sind die Endkunden die Treiber – sie fordern
Nachhaltigkeit und europäische Werte. Genau
hier muss Europa in Bezug auf Daten ansetzen –
und ist in Bezug auf Digital Responsibility und
ethische Fragen der Datenökonomie die ersten
richtigen Schritte gegangen.

Aufholjagd mit


Köpfchen


Der Technologiewettlauf ist noch nicht ent -


schieden, sagen Michael Hüther und Boris Otto.


Die deutsche


und euro -


päische


Industrie


birgt


enormes


Potenzial für


die Nutzung


von Daten, vor


allem im


B2B-Umfeld.


Michael Hüther ist Direktor des Instituts der
deutschen Wirtschaft Köln. Boris Otto leitet
das Fraunhofer-Institut für Software und
Systemtechnik in Dortmund.

dpa, Fraunhofer [M]

Gastkommentar
WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
64

Free download pdf