Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1

Die Seite Drei


Ein Nachruf auf den


„Bayernkurier“,


das Zentralorgan der CSU 3


Meinung


Chinahat kein Angebot an die


Welt, wie es eine konstruktive


Rolle spielen kann 4


Feuilleton


Warum ist die Arbeit für Netflix ein


Luxus? Regisseur Bong Joon-ho


im Interview 10


Wirtschaft


Sorgenfrei vorsorgen:


Für wen lohnt sich


die Riester-Rente? 18


Sport


DanLorang, Trainer der deutschen


Ironman-Sieger, erklärt die


Quälerei auf Hawaii 25


Medien, TV-/Radioprogramm 15,
Forum & Leserbriefe 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 15
Traueranzeigen 11


Immerhin nutzten die Testkäufer die gan-
ze Breitedes Angebots, das Ratschiller
aus Holzkirchen in seinen Münchner Filia-
len im Regal hat. An einem Sonntag im Fe-
bruar 2016 waren eine Pugliesestange
und eine halbe Elsässer Flute dabei, an
Pfingsten 2017 eine Breze und zwei Krus-
ti. Und an einem Märzsonntag vergange-
nes Jahr kauften sie zwei Vinschgauer,
zwei Kartoffelsemmeln, ein halbes Elsäs-
ser und ein Kasten-Finnenbrot. Für ein
Frühstück reichte das allemal, aber eben
auch für eine Klage der Zentrale zur Be-
kämpfung unlauteren Wettbewerbs –
weil die Bäckerei länger offen hatte als die
drei am Sonntag erlaubten Stunden. Vor
dem Land- und dem Oberlandesgericht
hat der Bäcker gewonnen. An diesem Don-
nerstag verhandelt die höchste Instanz
über den Münchner Semmelstreit – der
Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
Die juristischen Streitpunkte mögen
eher kleinteilig wirken, aber an der Frage,

wo und wann man am Sonntag frische
Brötchen kriegt, hängt ein Stück Wochen-
endlässigkeit. Der Bäcker hatte ein paar
Stühle und Tische hingestellt, weshalb er
letztlich auch ein Café – das deutlich län-
ger offen bleiben darf – betreibt. Und
Gaststätten dürfen eben „Getränke und
zubereitete Speisen ... abgeben“, und zwar
zum „alsbaldigen Verzehr“ – so steht es
im Gaststättengesetz. Weshalb die Juris-
ten nun über die Begriffe nachgrübeln: Ist
die trockene Semmel eine „zubereitete
Speise“? Dient so ein Kilo-Laib Brot wirk-
lich dem „alsbaldigen“ Verzehr? Da gibt
es keine letztgültigen Wahrheiten.
Das OLG München gab sich großzügig.
„Zubereitet“ ist demnach auch, was vor-
her gebacken wurde, selbst wenn der Kun-

de erst zu Hause Käse drauflegt. Das hatte
das Verwaltungsgericht Braunschweig im
Jahr 2011 viel strenger gesehen. „Zuberei-
tet“ seien nur belegte Brötchen. Ohne et-
was drauf seien es „Einzelhandelswaren“.
Man merkt schon: Hinter der Begriffs-
klauberei lauert der Kulturkampf um den
Sonntag. Seit Jahrzehnten geht es hin und
her, auf der einen Seite eine Koalition aus
Gewerkschaften und Kirchen, auf der an-
deren der Einzelhandel. 2009 hat das Bun-
desverfassungsgericht sich zur Rettung
des Sonntags vor einer nie endenden Ge-
schäftigkeit in die Bresche geworfen und
eine Öffnung an allen vier Adventssonnta-
gen in Berlin für verfassungswidrig er-
klärt. Seither sind es die Gerichte, die im-
mer neue Spundwände gegen den Wasser-

druck des Kommerzes errichten. Wohin-
gegen Kommunen und Warenhäuser sich
allerlei Stadtteilfeste und Kunsthandwer-
kermärkte ausdenken, die – nur ganz aus-
nahmsweise – doch einen Sonntagsver-
kauf rechtfertigen könnten.
Aber selbst bei Kritikern des Sonntags-
handels dürfte der freie Brötchenverkauf
konsensfähig sein. Andreas Ottofülling,
Geschäftsführer der Wettbewerbszentra-
le, versichert, dass sich seine Klage ja
nicht gegen den Verkauf an sich richte,
sondern dagegen, dass die Ketten den
Kleinbäckern, die kein Café haben, das Ge-
schäft wegnehmen. „Die großen Filialis-
ten umgehen das, was Bayern reglemen-
tieren wollte, nämlich die Begrenzung auf
drei Stunden Sonntagsverkauf.“ Und die
Kunden? Dem Freistaat sei es unbenom-
men, den Brötchenverkauf sonntags auf
vier, fünf oder sechs Stunden auszuwei-
ten, wie anderswo in Deutschland. Aber
dann eben für alle.wolfgang janisch

Berlin– Im Bundestag deutet sich eine
Mehrheit für eine Grundgesetzänderung
zur Reform der Grundsteuer an. Neben
den Koalitionsfraktionen und der FDP wol-
len auch die Grünen zustimmen. Die nöti-
ge Zweidrittelmehrheit stünde auch ohne
die Stimmen der Grünen.dpa  Seite 5

von matthias kolb
und alexander mühlauer

Brüssel/London– Vor dem EU-Gipfel an
diesem Donnerstag sind Großbritannien
und die Europäische Union fest entschlos-
sen, eine Einigung im Brexit-Streit zu erzie-
len. Die Verhandler arbeiteten noch am spä-
ten Mittwochabend an einem Entwurf für
ein neues Austrittsabkommen. Der Brüsse-
ler Chefunterhändler Michel Barnier infor-
mierte die Botschafter der 27 EU-Staaten
und betonte, dass neben den Zollregeln für
die irische Insel vor allem die Vorschriften
für die Mehrwertsteuer umstritten seien,
die nach dem Brexit gelten sollen.
In London musste der britische Premier-
minister Boris Johnson um die Unterstüt-
zung für einen möglichen Deal kämpfen.
Sowohl die nordirische DUP als auch die
Brexit-Hardliner in Johnsons eigener Kon-

servativer Partei zeigten sich skeptisch, ob
sie der anvisierten Lösung zustimmen kön-
nen. Um Grenzkontrollen auf der irischen
Insel zu vermeiden, soll Nordirland zwar
rechtlich Teil der britischen Zollunion blei-
ben, aber in der Praxis die EU-Zollregeln
anwenden. Damit wären jedoch Kontrollen
zwischen Nordirland und Großbritannien
nötig. Die DUP lehnte diese Lösung am
Mittwoch erneut ab, weil Nordirland dann
anders behandelt würde als der Rest des
Vereinigten Königreichs.
Parteichefin Arlene Foster bekräftigte
zudem ihre Forderung nach einem Mit-
spracherecht für das nordirische Regional-
parlament. Nach dem Willen der DUP soll
Nordirland über die künftige Anwendung
von EU-Regeln mitentscheiden dürfen. Ei-
ne Art Veto lehnte Brüssel in den Verhand-
lungen ab. Um die DUP dennoch von einem
Deal zu überzeugen, stellte Johnson finan-

zielle Hilfen für Nordirland in Aussicht.
Der britische Premier ist auf die Unterstüt-
zung der DUP angewiesen, da die Konserva-
tiven keine Mehrheit im Parlament haben.
Gelingt es Johnson nicht, beim EU-Gipfel
am Donnerstag und Freitag eine Einigung
zu erreichen, ist er gesetzlich verpflichtet,
bereits am Samstag um eine Verlängerung
der Austrittsfrist zu bitten, um das Chaos
eines ungeordneten Brexit abzuwenden.
Bislang ist der EU-Austritt des Vereinigten
Königreichs für den 31. Oktober geplant.
EU-Diplomaten zufolge könnte dieser
Termin aber wohl auch im Fall einer Gipfel-
Einigung nicht mehr haltbar sein. Ein „for-
males Ja“ sei aus Zeitgründen nahezu un-
möglich, da ein neuer Rechtstext in den 27
Hauptstädten bewertet werden müsse,
hieß es. Ein solches Dokument lag auch am
Mittwochabend immer noch nicht vor und
es schien unklar, ob dieser Text bis zum Be-

ginn des Gipfels um 15 Uhr den Staats- und
Regierungschefs präsentiert werden kann.
Je stärker diese Fassung vom bisherigen
Austrittsvertrag abweiche, umso länger
dauere eine Prüfung, so EU-Diplomaten.
Denkbar sei daher ein positives „politi-
sches Signal“. Es müsse alles nahezu ideal
laufen, um von Seiten der EU-27 im Okto-
ber fertig zu werden, hieß es. Auch das Eu-
ropaparlament muss noch zustimmen. Als
unsicher gilt weiter, ob Johnson eine Mehr-
heit im Unterhaus organisieren kann. Sei-
ne Vorgängerin Theresa May hatte diese
oft zugesichert, aber nie einhalten können.
Auf EU-Seite war bis zuletzt die Sorge
groß, dass das Vereinigte Königreich aus
dem Brexit wirtschaftliche Vorteile ziehen
könnte. Brüssel drängte deshalb auf mög-
liche Verpflichtungen Großbritanniens,
auch künftig EU-Sozial- oder Umweltstan-
dards nicht zu unterbieten.  Seite 2

München– Dertürkische Präsident Recep
Tayyip Erdoğan hat die kurdischen YPG-
Milizen in Nordsyrien aufgefordert, ihre
Waffen niederzulegen. Nur dann werde die
Militäroffensive seines Landes enden, sag-
te er und wies damit Forderungen der USA
und der EU nach eine Waffenruhe zurück.
Auch Vermittlungsangebote Washingtons
lehnte er ab; die Türkei verhandle nicht
mit „Terroristen“. An diesem Donnerstag
soll Erdoğan in Ankara US-Vizepräsident
Mike Pence und US-Außenminister Mike
Pompeo treffen.sz  Seiten 4 und 6

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Berlin– Zwei Männer aus dem nordrhein-
westfälischen Mönchengladbach stehen
im Verdacht, das sogenannte „Manifest“
von Stephan B., dem mutmaßlichen Atten-
täter von Halle an der Saale, im Internet
verbreitet zu haben. Die Polizei hatte die
Wohnung in Mönchengladbach bereits am
Wochenende aufgesucht. Am Mittwoch er-
folgte dann eine Durchsuchung mit richter-
lichem Beschluss. Dies zeigen Recherchen
vonSüddeutscher Zeitung, NDR und WDR.
Laut der Staatsanwaltschaft Mönchen-
gladbach bestehe der Verdacht, dass die
Männer „vom Attentäter herrührende“ Do-
kumente mit volksverhetzendem Inhalt
„zeitnah zum Attentat von Halle“ verbrei-
tet hätten. Die Behörde bestätigte, dass es
sich dabei um die Hassschrift des Atten-
täters handele. B. soll ein rund 15-seitiges

Dokument erstellt haben, das zeitnah zur
Tat im Internet veröffentlicht wurde.
Die Ermittler des Bundeskriminalam-
tes (BKA), die mit der Aufklärung des An-
schlags in Halle betraut sind, konnten die
Verdächtigen aus Mönchengladbach
durch einen Hinweis aus dem Ausland
identifizieren. US-Behörden sollen zuvor
die IP-Adressen des Computers übermit-
telt haben, der von einem oder beiden ge-
nutzt wurde. Einer der Männer soll der Poli-
zei bereits am Wochenende bereitwillig
den Computer ausgehändigt haben. Er soll
zudem erklärt haben, Stephan B. nicht zu
kennen. Politisch sei er selbst eher „links“.
Weder Polizei noch Verfassungsschutz ist
die Person als Extremist bekannt. Ermitt-
ler des Bundeskriminalamts gehen dem
Verdacht nach, dass die Männer mit dem

Attentäter in Verbindung gestanden haben
und über die geplante Tat informiert gewe-
sen sein könnten.
Derzeit versucht die Polizei zu ermit-
teln, ob B. bei seiner Tat möglicherweise
Unterstützer oder Mitwisser hatte. Unter
anderem werden die von ihm verwendeten
Schusswaffen und Sprengsätze auf DNA-
Spuren und Fingerabdrücke untersucht.
Stephan B. befindet sich in Untersuchungs-
haft. Der Generalbundesanwalt wirft ihm
Mord in zwei Fällen sowie versuchten
Mord in mehreren Fällen vor. Er soll am


  1. Oktober 2019 versucht haben, in die Syn-
    agoge von Halle einzudringen, um die dar-
    in befindlichen Gläubigen zu ermorden.
    Bei seiner Anhörung vor dem Ermittlungs-
    richter soll B. die Tat gestanden und mehre-
    re Stunden lang ausgesagt haben.


Bei einer nicht öffentlichen Sitzung des
Innenausschusses des Bundestages am
Mittwoch wurden weitere Informationen
über Stephan B. bekannt. Die Behörden
prüfen demnach, ob B. Hilfe beim Verfas-
sen seines 15-seitigen Schreibens erhalten
habe, da das Englisch darin besser ist als je-
nes, das B. in einem Bekennervideo
sprach. B. gilt allerdings als Einzelgänger.
Er soll sich zudem im September 2018 als
Zeitsoldat bei der Bundeswehr beworben
haben. Den Angaben zufolge zog er seine
Bewerbung dann allerdings wieder zurück


  • weshalb, ist unklar. Außerdem soll er
    sich bereits 2015 im Internet eine Schuss-
    waffe besorgt haben. Ob er die Waffe im of-
    fenen Internet oder im sogenannten Dark-
    net fand, ist noch nicht geklärt.
    florian flade, reiko pinkert


Toulouse– Frankreich und Deutschland
haben sich auf Regeln für Rüstungsexpor-
te geeinigt. Nun gebe es eine „wichtige Ver-
einbarung“, sagte Frankreichs Staatschef
Emmanuel Macron am Mittwoch nach Ab-
schluss des deutsch-französischen Minis-
terrates.dpa  Seiten 4 und 7

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Die SZ gibt es als App
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phone: sz.de/zeitungsapp

Im Westen und Norden gibt es dichte Wol-
kenund etwas Regen. Im Tagesverlauf lo-
ckert es auf. Auch im Südwesten und in der
Mitte kann es regnen, im Südosten bleibt
es anfangs noch trocken. Temperaturen:
15 bis 21 Grad.  Seite 13 und Bayern

VielstimmigDie SoulsängerinJorja Smith
über rassistische Schönheitsstandards
und die Kunst, bei sich zu bleiben.

EinsilbigSie gelten als Softies: Weinende
Männer haben es nicht leicht. Dabei ist es
höchste Zeit, die Schleusen zu öffnen.

RedseligNotlügen waren schon immer ei-
ne üble Gewohnheit, aber auch ein Stück
Freiheit – bis die sozialen Medien kamen.
Liegt nicht der gesamten Auslandsauflage bei

Ermittler überprüfen mögliche Mitwisser im Fall Halle


Zwei Mönchengladbacher werden verdächtigt, die Hetzschrift des Attentäters kurz nach der Tat im Internet verbreitet zu haben


Erst Kastenbrot, dann Klage


Ein Bäcker kämpft vor Gericht, weil er sonntags länger öffnen will


Opposition macht Weg


frei für Grundsteuer


Paris und Berlin einigen


sich bei Rüstungsexporten


Raus,


aber wie?


Vor dem entscheidenden Gipfel


zum Brexit feilschen


Großbritannien und EU um einen


Deal in letzter Minute.


Alles deutet darauf hin, dass


sich der Abschied weiter in


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FOTO: AP

Erdoğan lehnt


Waffenruhe ab


Auch Vermittlungsangebote aus
Washington weist er zurück

ILLUSTRATION: STEFAN DIMITROV

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(SZ)Heutzutage gibt es zu allem Studien.
Zum Beispiel hat eine Studie vor einiger
Zeit herausgefunden, dass Männer, die
denselben Arbeitgeber haben, öfter als
Frauen, die denselben Arbeitgeber haben,
nach Feierabend gemeinsam ein Bier trin-
ken gehen und dass das gut fürs Netzwer-
ken ist. Das wussten die Frauen dieser
nach der Arbeit besoffen nach Hause kom-
menden Männer schon seit der Erfindung
der Eckkneipe, sie wussten nur nicht, dass
man das Netzwerken nennen darf. Aber
erst nach einer Studie zu Männern, die
nach der Arbeit Bier trinken, wurde öffent-
lich über die Schwierigkeiten gesprochen,
die Frauen mit Netzwerken haben. Weil
Studien eine ganz andere Aussagekraft ha-
ben als selbstgemachte Beobachtungen,
hat die Wissenschaft nun eine einmalige
Chance verpasst, als das norwegische
Thronfolgerpaar zur Buchmesse nach
Frankfurt fuhr – im Literaturzug, gemein-
sam mit norwegischen Schriftstellern.
Die Chance wäre gewesen, mit zwei ex-
emplarischen Versuchspersonen eine Stu-
die zu den Unterschieden im weiblichen
und männlichen Leseverhalten aufzuset-
zen. Es saßen aber keine Wissenschaftler
im Literaturzug nach Frankfurt, nur Jour-
nalisten. Deshalb kam ohne jede empiri-
sche Grundlage heraus, dass Norwegens
Kronprinz Haakon, 46, „ein langsamer
Leser“ ist, wie er bei der Gelegenheit fest-
stellte, während seine Frau Mette-Marit,
46, laut Kronprinz immer fünf bis zehn Bü-
cher dabeihabe. Was hätte das für eine Stu-
die über das Lesetempo von Männern und
Frauen werden können! Also wie die einen
sich von einer Seite zur nächsten Seite wie
durch die Wüste schleppen; wie sie mit
buchstabierenden Lippen von Wort zu
Wort klettern, vor sich die Leerzeichen wie
Schluchten. Wie die Frauen dagegen von
Kapitel zu Kapitel fliegen, mit jenen geflü-
gelten Schuhen an den Füßen, wie sie vor
1968 nur dem Götterboten Hermes zustan-
den, die aber inzwischen längst eine Heer-
schar von Herminen trägt.
So bleibt die vage Alltagsbeobachtung
von Kronprinz Haakon das Einzige, was
künftigen Generationen von lesemüden
Männern als Hinweis taugt, wie sie den Le-
seturbo anschmeißen könnten. Haakons
Lieblingslektüre war Astrid Lindgrens
„Die Brüder Löwenherz“, das beschleunig-
te seinen Puls und sicher auch seine Bum-
melzug-Leserei. Auch norwegische Mär-
chen haben einst der Kronprinzen-Lese-
lokomotive ordentlich Schub gegeben.
Wenn Männer nur genug Märchen mit in
den Zug nehmen, werden sie eines Tages si-
cher den Weltrekord des Amerikaners
Sean Adams knacken. Der liest 3850 Wör-
ter pro Minute. Durchschnittsleser schaf-
fen um die 260. Das heißt, Adams hätte
Tolstois „Krieg und Frieden“ mit seinen
550 000 Wörtern in etwas mehr als zweiein-
halb Stunden weggeschmökert. Und da-
nach wäre im Literaturzug genug Zeit für
alle Knausgård-Bände gewesen!


DAS WETTER



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