Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1
interview: fritz göttler
unddavid steinitz

D


er südkoreanische Regisseur Bong
Joon-ho, 50, beherrscht die engli-
sche Sprache gut, er hat schon
mehrfach mit Hollywoodstars gedreht,
seinen Science-Fiction-Thriller „Snowpier-
cer“ zum Beispiel oder das Märchen „Ok-
ja“. Beim Interview in München vertraut er
trotzdem lieber auf eine Koreanisch-Dol-
metscherin, weil ihm die Details wichtig
sind. Das merkt man auch in seinen Fil-
men, in denen sich aus den kleinsten Din-
gen die irrsten Wendungen ergeben. Mit
Thrillern wie „Memories of Murder“, „The
Host“ und „Mother“ hat er sich einen Ruf
als einer der aufregendsten Regisseure des
modernen Kinos erarbeitet. Für „Parasite“,
eine Familiengeschichte zwischen Komö-
die, Drama und Horrorthriller, wurde er im
Mai in Cannes mit der Goldenen Palme für
den besten Film geehrt. Das Werk geht für
Südkorea ins Rennen um den Oscar.

SZ: In „Parasite“ erzählen Sie von einer
armen Arbeiterfamilie, die sich als Ange-
stellte bei einer reichen Familie in einem
schönenHaus einnistet und immer verbre-
cherischer deren Lebensstil ausbeutet.
Die traurige Botschaft: Mit legalen Mit-
teln hätten sie ewig arbeiten müssen, um
sich dieses Leben leisten zu können.
Bong Joon-ho: Also um genau zu sein,
wären es 547 Jahre gewesen.
Bitte?
Wir haben das ausgerechnet und ein mittle-
res südkoreanisches Einkommen als
Grundlage genommen, um zu sehen, wie
lange die arme Familie arbeiten müsste,
um sich das Haus der reichen Familie ganz
normal kaufen zu können. Und dabei kam
heraus, dass es 547 Jahre wären.
Uff.
Ja, das habe ich mir auch gedacht. Das war
überhaupt der Ausgangspunkt, dieses
Drehbuch zu schreiben, die Unmöglichkeit
der Armen, innerhalb von Recht und Ge-

setz den Aufstieg zu schaffen, weil die Ge-
sellschaft es kaum zulässt. Und zwar nicht
nur in Korea. Nachdem ich mit „Okja“ und
„Snowpiercer“ zwei Filme in fantastischen
Welten gedreht hatte, wollte ich diese
Geschichte an einem realen Ort spielen
lassen. Da ich in Südkorea die Verhältnisse
am besten kenne, ist das auch der Schau-
platz des Films. Aber bis auf ein paar De-
tails könnte er vermutlich überall auf der
Welt spielen, die Misere wäre dieselbe.

Der Filmschwankt trotz des traurigenThe-
maselegant zwischen Tragödieund Komö-
die – würden Sie sich eher als Pessimisten
oder als Optimisten bezeichnen, was ge-
sellschaftliche Entwicklungen angeht?

Wenn ich von fantastischen Welten erzäh-
le, wie in „Snowpiercer“, kann ich mir im-
mer noch ein paar optimistische Elemente
ausdenken, weil es sich ja um eine Fantasie-
welt handelt. Wenn ich wie jetzt von der Re-
alität erzähle, werde ich aber blitzschnell
zum Pessimisten. Als Regisseur ist man
heutzutage leider nicht für Hoffnung zu-
ständig.

Die Protagonisten in Ihren Filmen sind oft
miteinander verwandt, und diese Ver-
wandtschaft führt zu zusätzlichen Ver-
wicklungen. Was fasziniert Sie daran?
Mich interessieren die Strukturen von Fa-
milien jenseits der Idealisierung, die sie oft
im Kino erleben, zum Beispiel in dieser hei-

len Disney-Welt. Ich will keine perfekte Fa-
milie sehen, sondern Familienverbände,
deren Zusammenhalt sich aufgrund einer
Extremsituation verändert. Mangel, Lust
und Gier beeinflussen Menschen und
Familien, und das ist ein gutes Thema, wes-
halb sich viele Regisseure damit beschäfti-
gen. Besonders toll konnte das einer aus Ih-
rem Land, den ich sehr bewundere, Rainer
Werner Fassbinder. Wie heißt dieser be-
rühmte Film von ihm mit der älteren Frau?

„Angst essen Seele auf“?
Genau. Hat er den nicht sogar hier in Mün-
chen gedreht? Wie die Familie der Frau dar-
auf reagiert, als sie ihnen ihren Liebhaber
Ali vorstellt, einen Ausländer, wie Fassbin-
der diese Ressentiments zeigt, das hat
mich immer sehr beeindruckt.

Sind diese Filme in Südkorea bekannt?
Südkoreanische Regisseure haben ein Fai-
ble fürs deutsche Autorenkino, zum Bei-
spiel mein Kollege Park Chan-wook, der
„Oldboy“ gemacht hat. Fassbinder, Wim
Wenders ... Mein Favorit ist Werner Her-
zog. Seine Filme haben eine einzigartige
Kraft, als Student war ich verrückt danach.
Besonders mag ich seinen Kaspar-Hauser-
Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“.

Damals wurde viel am Set improvisiert,
liegt Ihnen das auch?
Nein, ich mache wenig spontan bei der Ar-
beit. Wenn Sie das Drehbuch und das Story-
board und den fertigen Film nebeneinan-
derlegen, gibt es da nur sehr wenige Abwei-
chungen.

Ihre Geschichten beginnen immer so
harmlos, und dann folgt in der Regel ein
fieses Inferno...
Das macht mir am meisten Spaß, die Zu-
schauer mit Figuren zu konfrontieren, die
ganz normal wirken, mit einer Story, die
auf den ersten Blick nicht sehr spektakulär
erscheint. Und dann schleichen sich lang-
sam diese kleinen Irritationen ein, erst

kaum merklich, dann immer stärker, bis es
immer verrückter und blutiger wird. Um
die Zuschauer zu packen, müssen Sie im
Kino immer etwas Unberechenbares ma-
chen. Dazu gehört auch das Springen zwi-
schen den Genres, was als Komödie be-
ginnt, kann in einem Horrorfilm enden,
und umgekehrt – das sind die Geschich-
ten, die ich als Zuschauer mag und die ich
auch gern erzähle.

„Parasite“ hat im Vergleich zu Ihren bishe-
rigen Filmen nur wenige Schauplätze, ist
sehr reduziert, die Idee wirkt fast, als sei
sie für ein Theaterstück gedacht gewesen.
Ich kenne viele Schauspieler, die am Thea-
ter arbeiten und die mir schon mehrfach
vorgeschlagen haben, mal ein Stück zu in-
szenieren. Daran musste ich bei der Arbeit
an „Parasite“ denken, denn ich glaube tat-
sächlich, dieses Drehbuch würde sehr gut
als Theaterstück funktionieren. Vielleicht
probiert das ja mal jemand aus.

Sie sind berühmt für Ihre ästhetischen
Spielereien und wilden Kamerafahrten.
Wie positionieren Sie sich in der Frage, ob
man Kinofilme noch aufklassischem Film-
material drehen sollte oder digital?
„Snowpiercer“ war mein letzter Film auf
35-mm-Material. Bei „Okja“ habe ich erst-
mals Digitalkameras verwendet, und ich
werde auch dabei bleiben. „Parasite“ ha-
ben wir auf einer Alexa-Kamera gedreht,
die hier bei Ihnen in München gebaut wur-
de, von Arri.

Martin Scorsese oder Quentin Tarantino
sind da konservativer. Sie weinen dem
analogen Filmmaterial gar nicht nach?
Nein. Das klassische Kinoformat geht ja
nicht verloren, nur die Form des Aufzeich-
nens und Speicherns ändert sich. Ich gehö-
re zu einer Generation, die mit Filmmateri-
al aufgewachsen ist. Aber dieser etwas
nostalgische Streit, was nun besser sei, das
halte ich für überbewertet. Egal, wie Sie es
aufzeichnen, am wichtigsten bleibt doch,

was Sie aufzeichnen. Ich bin mir sicher, Al-
fred Hitchcock würde heute ohne Hem-
mungen digital drehen.

Es ist ja auch billiger, digital zu drehen...
Im Independentbereich ja. Da können Sie
mit kleinen Budgets heute viel mehr anstel-
len als früher. Bei größeren Produktionen
aber ist der logistische Aufwand meistens
ohnehin so hoch, dass es keinen großen Un-
terschied macht, meiner Erfahrung nach.

IhrenFilm „Okja“ haben Sie für Netflix ge-
dreht,Sie waren einer der ersten Regisseu-
re, mit denen der Streamingdienst unbe-
dingt zusammenarbeiten wollte. War das
eine angenehme Kooperation?

Was bei denen wirklich toll war: dass sie
nicht knausern beim Budget. Wenn sie
dich engagieren, darf es schon etwas kos-
ten. Genauer gesagt haben wir für „Okja“
57 Millionen Dollar bekommen, das ist für
diese Art Film ein ganz schöner Batzen.
Außerdem war es toll, dass sie mir den
Director’s Cut überlassen haben, also die fi-
nale Schnittversion des Films. Das ist in
Amerika selten, da liefern Sie in der Regel
ihr Material ab, und das Studio entscheidet
darüber im Schneideraum.

„Okja“ war einerder ersten Netflix-Filme,
die beim Festival von CannesPremiere fei-
erten. Mittlerweile haben die Organisato-
ren sich aber mit dem Streamingdienst
überworfen und laden deren Produktio-
nen nicht mehr in den Wettbewerb ein. Da
haben Sie aberGlück gehabt, dass „Parasi-
te“ kein Netflix-Film ist, sonst hätten Sie
dieses Jahr nicht die Goldene Palme in
Cannes gewinnen können.
Das stimmt. Mir ist klar, dass die Kinobe-
treiber, vor allem die Multiplexe, über Net-
flix und deren Heimvideopolitik nicht so
glücklich sind und deshalb auch Druck auf
Festivals wie Cannes ausüben. Mir wäre es
am liebsten, Cannes und Netflix würden ih-
ren Streit beilegen. Ich finde es gut, wenn
es beides gibt, und ohnehin belebt die Kon-
kurrenz das Filmgeschäft weltweit. Wenn
Sie mich allerdings zwingen würden, mich
zwischen Kino und Streaming zu entschei-
den, stehe ich natürlich ganz klar auf der
Seite des Kinos.

Im Kino laufen derzeit ja vor allem Super-
heldenfilme. Könnten Sie sich vorstellen,
für Disney einen Marvel-Film zu drehen?
Die Agentur, die mich in Hollywood ver-
tritt, ärgert mich manchmal zum Spaß mit
dieser Frage, weil sie ja wissen, was für Fil-
me ich mache und dass ich Nein sagen wür-
de. Menschen, die in hautengen Latexkos-
tümen Superhelden spielen, halte ich lei-
der nicht aus, das kann ich nicht ernst neh-
men, da müsste ich ständig lachen.

Bei Ihrem Film „Snowpiercer“ sind Sie
vor ein paar Jahren an den Produzenten
Harvey Weinsteingeraten, vorden Enthül-
lungen über seine sexuellen Übergriffe.
Wie haben Sie ihn erlebt?
Er war dafür bekannt, dass er Filme, die er
kauft, gerne nach seinem Geschmack um-
schneidet, ohne Rücksicht auf die Regis-
seure. Deshalb hatte er ja auch diesen Spitz-
namen, Harvey Scissorhands, Harvey mit
den Scherenhänden. Als seine Firma 2012
die US-Verleihrechte für meinen Film
„Snowpiercer“ kaufte und er da fast eine
halbe Stunde rausschneiden wollte, hat
das natürlich zu Streit zwischen uns ge-
führt. Ich hatte bis dahin alle meine Filme
so geschnitten, wie ich es für richtig hielt.
Besonders eine Szene, in der ein Fisch aus-
genommen wird, ging ihm auf die Nerven,
die wollte er raushaben.

Und dann?
Dann habe ich ihm erzählt, dass mein Vater
Fischer gewesen sei und ich die Szene als
Erinnerung an ihn eingebaut hätte. Das
hat ihn irgendwie beeindruckt, und er hat
mir die Szene gelassen – obwohl es eine
komplette Lüge gewesen ist. Mein Vater
war gar kein Fischer.

Im Gefängnis Evin in Teheran haben im
Laufe der Jahrzehnte so viele Intellektuelle
eingesessen, dass es den Spitznamen „Uni-
versität von Evin“ trägt. Schon zur Zeit des
Schahs wurden dort politische Gefangene
untergebracht, und mit dieser Tradition
wollte das Regime nach der islamischen
Revolution in Iran dann nicht brechen. Die
Massaker an linken Oppositionellen Ende
der Achtzigerjahre fanden dort statt, der
Filmemacher Jafar Panahi beispielsweise
war in Evin inhaftiert nach seiner Fest-
nahme 2010, die britische Journalistin
Nazanin Zaghari-Ratcliffe ist immer noch
dort. Die Schauspielerin und Regisseurin
Maryam Zaree wurde dort geboren. Da-
von, was das bedeutet, handelt ihr Doku-
mentarfilm „Born in Evin“.
Aufgewachsen ist Maryam Zaree in
Deutschland, ihre Mutter floh mit ihr nach
der Freilassung nach Frankfurt, der Vater
kam Jahre später nach. Maryam Zaree –
sie spielt beispielsweise in „Systemspren-
ger“ mit und in Christian Petzolds „Tran-
sit“ – war erst zwei Jahre alt, als sie nach
Deutschland kam und kann sich an das
Gefängnis natürlich nicht erinnern. Und
niemand möchte mit ihr darüber reden.
Die Eltern sind inzwischen getrennt, die
Mutter ist wieder verheiratet. An der Ober-
fläche sieht alles in Ordnung aus. Es gibt ei-

ne rührende Familienfeier zu Nouruz, dem
persischen Neujahr, bei der Maryams Stief-
vater hebräisch singt, und die jüdische No-
te fügt sich wunderbar in den alten Brauch.
Aber wenn sie nach Evin fragt, weicht
der Vater aus, und die Mutter fühlt sich
angegriffen. Maryam hat als Kind zufällig
davon erfahren, sie rekonstruiert das mit
ihrer Tante – die war diejenige, die sich

verplappert hat, weil sie dachte, das Kind
wüsste Bescheid. Inzwischen ist Maryam
Zaree 36 Jahre alt, aber so recht Bescheid
weiß sie immer noch nicht.
Sie sucht sich also andere Quellen. Die
Kinder anderer Häftlinge wollen nicht re-
den. Es gibt ehemalige Inhaftierte, die sich
bis heute treffen, die erzählen ihr ein we-
nig, und jedes dieser Gespräche ist auf eine

andere Art schmerzlich. Sie sieht sich Auf-
nahmen vom Iran-Tribunal in Den Haag
2012 an, wo die ungeheuerlichen Men-
schenrechtsverletzungen in Evin vorgetra-
gen wurden. Was sie findet, sind Geschich-
ten von Grausamkeit, Folter, Todesangst,
letzten Gesprächen vor einer Hinrichtung.
Und so bewegt sich „Born in Evin“ weit
heraus aus der Familie, hier wird kein
Einzelschicksal verhandelt. Man lernt eine
ganze Menge über die Achtzigerjahre in
Iran, darüber, wie sich die frühe islamische
Republik ihrer Kritiker entledigte; aber
das, was Maryam Zaree über sich selbst
lernt, wäre in jedem anderen historischen
Kontext wohl gleich.
Es ist normal, dass Eltern etwas Furcht-
erregendes von einem Kind fernhalten wol-
len; und vielleicht sogar, dass sie ein Leben
lang dem Reden das Schweigen vorziehen.
Aber Schrecken, Angst und Unterdrü-
ckung hinterlassen in der Generation der
Kinder auch dann noch Spuren, wenn man
mit ihnen nicht darüber redet. Als hätten
auch die Kinder noch einen Fußabdruck
auf der Seele. susan vahabzadeh

Born in Evin, Deutschland/Österreich 2019 – Regie
und Buch: Maryam Zaree. Kamera: Siri Klug. Mit:
Maryam Zaree, Real Fiction, 95 Minuten.

„Deshalb hatte er auch
diesenSpitznamen,
Harvey mit den
Scherenhänden.“

Die Starts ab 17. Oktober auf einen Blick,
bewertet von den SZ-Kritikern. Rezensio-
nen ausgewählter Filme folgen.


After The Wedding
martina knoben:Auf ein Hollywood-
Remake von Susanne Biers „Nach der
Hochzeit“ (2006) hat wohl niemand
(mehr) gewartet.Bart Freundlichhat es
dennoch inszeniert, mit seiner Frau
Julianne Moore in einer Hauptrolle. Sie
spielt eine New Yorker Medienunterneh-
merin, die die Leiterin eines indischen
Waisenhauses (Michelle Williams) mit
der Aussicht auf eine Riesenspende nach
New York lockt. Es folgen abenteuerli-
che Enthüllungen, die einen jedoch
merkwürdig kaltlassen, ebenso wie das
eigentlich interessante Gedankenexperi-
ment, was mehr zählt, Familie oder idea-
listisches Engagement. Die großen Fra-
gen wirken hier nur wie ein Vorwand: für
exquisite Ausstattungen und Starperfor-
mances, beides Luxusgüter.


Born in Evin
(Siehe Kritik unten.)


Das Geheimnis des grünen Hügels
doris kuhn:Baden im Teich, Lagerfeu-
er machen, manchmal Fremden hinter-
herschleichen.Čejen Černićhat einen
kroatischen Kinderbuchklassiker von
1956 verfilmt, in dem eine Bande von
Freunden sich die Sommerferien mit De-
tektivarbeit vertreibt, weil sich in ihrem
Dorf die Einbrüche häufen. Spannend
erzählt er von wundersam altmodischen
Zeiten – es gibt keine Handys, dafür gibt
es ungewohnt tragische Momente am
Schluss.


Ich war noch niemals in New York
david steinitz:Stünde der Mensch
vor zwei Türen, von denen die linke in
ein Udo-Jürgens-Musical und die rechte
in einen IS-Folterkeller führte – es gäbe
vermutlich Personen, deren Überlebens-
instinkt zumindest kurz schreien wür-
de: rechts! Aber alle Sorgen sind unbe-
rechtigt, weil der Regisseur Philipp
Stölzl und seine Schauspieler (Heike
Makatsch, Katharina Thalbach, Moritz
Bleibtreu, Uwe Ochsenknecht) das Gen-
re Musicalkomödie so behandeln, wie es
sich im Idealfall gehört: mit dem nötigen
Ernst.


Die Insel der hungrigen Geister
doris kuhn: Rigoros kasernierte
Flüchtlinge, bei denen die Hilfe einer
Therapeutin meist zu spät kommt. Chi-
nesische Einwanderer, die sich um die
Seelen ihrer Toten sorgen. Rote Land-
krabben, die jährlich einen Marsch zum
Ozean antreten, von Naturfreunden
begleitet. Solche Eigenarten der Weih-
nachtsinsel werden vonGabrielle Bra-
dynebeneinandergesetzt und unkom-
mentiert beobachtet, wodurch ihre
Dokumentation allmählich das unter-
schiedliche Verständnis von Schutz oder
von Beschützen illustriert.


Das Kapital im 21. Jahrhundert
susan vahabzadeh:Es ist schon ziem-
lich erstaunlich, wenn ein Ökonom über
die historische Verteilung des Kapitals
und die Folgen der Ungleichheit für die
heutige Gesellschaft schreibt und das
Buch dann ein Bestseller wird. So ist es
dem französischen Wirtschaftswissen-
schaftler Thomas Piketty im Jahr 2013
ergangen. Jetzt hat er zusammen mit
dem RegisseurJustin Pembertonselbst
eine Filmfassung seines Werks erarbei-
tet, die einen Überblick über seine
Thesen verschafft. Die filmische Umset-
zung ist manchmal ein wenig bemüht,
aber ein guter Crash-Grundkurs zu
Pikettys Erkenntnissen ist der Film alle-
mal.


Lino – Ein voll verkatertes Abenteuer
ana maria michel:In einem hässli-
chen Katzenkostüm tritt Lino bei Kinder-
partys auf, wo er jedes Mal drangsaliert
wird. Als er dann auch noch aus seiner
Wohnung fliegt, will der Pechvogel sein


Leben dringend verändern. Ein Zauber
soll helfen, doch auch der geht schief:
Lino wird in einen Kater verwandelt (FO-
TO: LITTLEDREAMENTERTAINMENT). Als solcher
flieht er im Animationsfilm des brasilia-
nischen RegisseursRafael Ribaszusam-
men mit einem Baby und einem Quack-
salber vor der Polizei. Das ergibt ein
durchaus amüsantes Abenteuer, in dem
es pausenlos drunter und drüber geht.


Maleficent: Mächte der Finsternis
nora voit:Die aus Dornröschen be-
kannte böse Fee Maleficent (bestechend
düster und zugleich mütterlich-warm:
Angelina Jolie) darf im neuen Disney-
Fantasy-Film zum zweiten Mal ihre eige-
ne Geschichte spinnen. Unter der Regie
des Norwegers Joachim Rønning
(„Fluch der Karibik 5“) poltert sie erst
gegen die bevorstehende Hochzeit ihrer
Ziehtochter, legt sich dann mit deren in-
triganter Schwiegermutter (Michelle
Pfeiffer) an und soll zuletzt noch kurz die
Welt retten. Nach zwei Stunden aufgebla-
senem CGI-Spektakel um eine Horde un-
beseelter Fabelwesen reibt man sich die
Augen und stellt fest: Manche Märchen
bleiben besser unerzählt.


Bis das Blut fließt


Wieüberlistet man Harvey Weinstein, und warum ist die Arbeit für Netflix ein Luxus?


Der Regisseur Bong Joon-ho über das südkoreanische Kino und seinen Film „Parasite“


Bong Joon-howurde
1969 in der südkoreani-
schen Stadt Daegu gebo-
ren und studierte Regie
an der Filmhochschule in
Seoul. Er ist einer der
erfolgreichsten Regisseu-
re seines Landes. Sein
Film „Parasite“ startet
am Donnerstag.

Nevrland
juliane liebert:Hier werden Schwei-
ne in zwei Hälften gesägt und mit Porno-
bildern gegengeschnitten, damit will
Gregor Schmidingerzeigen, wie sich ei-
ne Angststörung anfühlt. Der Held (der
aussieht wie ein Model) hat eine, arbeitet
in einer Schlachterei und geht in Thera-
pie. Die hilft nicht, dafür lernt er einen
jungen Künstler kennen (der auch aus-
sieht wie ein Model). Sie gehen in Clubs,
nehmen Drogen und sehen ästhetisch
aus. Aber schönen Menschen beim Lei-
den zusehen macht deutlich mehr Spaß
als bei hässlichen, insofern: Alles super.

Parasite
tobias kniebe:In dem südkoreani-
schen RegisseurBong Joon-hosteckt
ein echter Klassenkämpfer, was man
sehr blutig in „Snowpiercer“ sehen konn-
te. Hier geht es subtiler und realer zu, als
sich die Leben zweier Familien in Seoul
verstricken. Die reichen Parks suchen
Hilfe, mit Englischstunden für die Toch-
ter fängt es an, und die armen Kims er-
schleichen sich nicht nur diesen Job, sie
nisten sich in dem luftig-modernisti-
schen Traumhaus in den Hügeln prak-
tisch ein. Die tragikomischen Kämpfe
zwischen Knechten und Herren, aber
auch Knechten und Knechten wurden in
Cannes sehr zu Recht mit der Goldenen
Palme gefeiert (s. SZ vom Mittwoch).

Fußabdruck auf der Seele


„Born in Evin“: Maryam Zaree erforscht, warum sie in einem iranischen Gefängnis geboren wurde


NEUE FILME (1)


(^10) FILM Donnerstag, 17. Oktober 2019, Nr. 240 DEFGH
Der Hausherrin der Luxusvilla, gespielt von Cho Yeo Jeong, schwant langsam Böses – Szene aus „Parasite“ von Bong Joon-ho. FOTO: KOCH FILMS
NEUE FILME (2)
Die geflüchteten Eltern schweigen, die Tochter fragt nach. FOTO: REAL FICTION

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