Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1





      1. Oktober, Tutzing
        #Junges Europa. We are one. Mit Dani-
        ela Braun, Carla Reemtsma u.a.Evangeli-
        sche Akademie, Tel. (08158) 251 - 123.









      1. Oktober, Leipzig
        „Sprachhandeln“ - Reflexionen über
        die deutsche Sprache nach dem Holo-
        caust. Mit Aurélia Kalisky u. a.Simon-
        Dubnow-Institut, Tel. (0341) 21 735 753.





  1. Oktober, Essen
    Was heißt liberale Migrationsethik?
    Vortrag und Diskussion. Mit Reinhard
    Merkel, Volker Heins. Kulturwissen-
    schaftliches Institut, Tel. (0201) 72 04 - 0.

  2. Oktober, Göttingen
    Meinen - Glauben - Wissen: Klimawan-
    del und die Ethik der Wissenschaften.
    Mit Antje Boetius u. a.Kontakt: Deut-
    scher Ethikrat, Tel. (030) 203 70 - 242.





      1. Oktober, Wolfenbüttel
        Leopold Zunz und die Kreise seiner
        Wirksamkeit. Mit Cord-Friedrich Berg-
        hahn, Grit Schorch u. a.Herzog August Bi-
        bliothek, Tel. (05331) 808 - 0.









      1. Oktober, Weimar
        Schalten und Walten. TowardsOperati-
        ve Ontologies. Mit Lorenz Engell, Wolf-
        gang Schäffner u. a.Internationales Kol-
        leg für Kulturtechnikforschung und Medi-
        enphilosophie, Tel. (03643) 58 40 10.









      1. Oktober, Halle/Saale
        Poland 1989: Negotiations, (Re)Cons-
        tructions, Interpretations. Mit Leszek
        Balcerowicz, Helmut Fehr u. a.Universi-
        tät, Tel. (0345) 55 24 328.





  3. Oktober, München
    Was uns bewegt – Ein Plädoyer zum
    Emotionalen in der Kunst. Neue Ergeb-
    nisse aus den Verhaltenswissenschaf-
    ten und der Hirnforschung. Vortrag
    von Rita Marie De Muynck.Bayerische
    Akademie der Schönen Künste, Tel. (089)
    29 00 77 - 0.

  4. Oktober, Berlin
    Größenwahn am Golf? Modernisie-
    rung und Autoritarismus in Politik, Ge-
    sellschaft und Kultur. Mit Ulrike Frei-
    tag, Claudia Lux u. a.Katholische Akade-
    mie, Tel. (030) 28 30 95 - 0.

  5. Oktober, Wien
    Of Plots and Men. The Heuristics of
    Conspiracy Theories. Eric Wolf Lecture
    von Didier Fassin. Kontakt: IFK, Tel.
    (0043) 1 504 11 26.





      1. Oktober, Frankfurt a. Main
        DasHelle unddas Dunkle der Paulskir-
        che. Mit Thomas Michael Seibert, Chris-
        tian Wevelsiep u.a.Kontakt: Konrad-Ade-
        nauer-Stiftung, Tel. (030) 26 996 - 0.









      1. Oktober, Konstanz
        Movement, Protest, Activism -Interdi-
        sciplinary Approaches to an Elusive
        Phenomenon. Mit Sven Reichhardt u. a.
        Universität, Tel. (07531) 88 47 64.









      1. Oktober, Erfurt
        What is Western about the West? Ideo-
        logical chronologies and cartogra-
        phies. Mit Klaus Vieweg, Sam Haddad
        u.a.Universität, Tel. (0361) 737 4215.






Am kommenden Freitag wird der Soziolo-
ge und Gesellschaftstheoretiker Armin
Nassehi im Rahmen der Frankfurter Buch-
messe auf dem „Blauen Sofa“ des Fernseh-
senders ZDF mit dem Moderator und Philo-
sophieprofessor Gert Scobel über sein
Buch „Muster – Theorie der digitalen Ge-
sellschaft“ sprechen. Das Buchmessen- Ge-
spräch wird einen Ruck in der digitalen De-
batte akzentuieren, welcher derzeit die Na-
tur- und Technikwissenschaften mit den
Geisteswissenschaften versöhnt. Und der
dazu führt, dass die interessantesten Bü-
cher dieser Debatte in Europa erscheinen.
Der Ruck hat eine gewisse Dringlich-


keit. Mit den Automatisierungsprozessen
der künstlichen Intelligenz (KI), den im-
mer greifbareren Möglichkeiten der Quan-
tencomputer und den Fortschritten bei der
Entwicklung von Robotern und Sensoren,
wird die nächste Stufe der Digitalisierung
sehr viel mehr Aspekte des Lebens und des
Alltags erfassen als die vorangegangene,
die der Menschheit das Internet beschert
hat. Vor allem aber wird die KI das Verhält-
nis von Mensch und Maschine neu ordnen.
War die Maschine bisher immer nur Werk-
zeug, so wird sie, sobald sie selbst lernen
und auf dem Selbsterlernten Entscheidun-
gen fällen kann, zum Begleiter. Die Fragen,
die sich damit stellen, können Naturwis-
senschaft und Technik nicht mehr alleine
beantworten, die Geistes- und Gesell-
schaftswissenschaften sind gefordert. Da-
durch verschiebt sich das Debattenzen-
trum von Amerika nach Europa, was vor al-
lem aus dem Umgang amerikanischer
Hochschulen und Institute mit den Geistes-
wissenschaften resultiert.
Geisteswissenschaften gelten dort als
„soft skills“, als Studien- und Forschungs-
felder ohne direkten Nutzen. Was vor al-
lem heißt, man kann das alles nicht mone-
tarisieren. An vielen Universitäten hat das
zu einem Mangel an Geldern und Personal
geführt. Warum sollte man auch Philoso-


phie studieren, wenn man mit einem tech-
nischen Abschluss der Stanford University
oder dem MIT nicht nur die Garantie auf ei-
nen Job, sondern auch auf ein hohes Ein-
kommen bekommt?
Weil KI-getriebene Maschinen, egal, ob
Pflegeroboter oder soziales Netzwerk,
aber nicht nur funktionieren, sondern sich
auf ihre eigene Weise auch verhalten, wer-
den sie die Gesellschaften noch sehr viel
deutlicher prägen als die letzten Generatio-
nen der Technologien. Gerade deswegen
ist ein Buch wie Armin Nassehis „Muster“
so wichtig, auch wenn es die Leser mit sei-
ner akademischen Sprache erst einmal for-
dert. Denn Nassehi hat die Muster, die in
der Gesellschaft immer schon angelegt wa-
ren, als strukturelle Oberfläche der Muster-
erkennung und -verarbeitung digitaler
Technologien mit Brillanz anal ysiert(SZ
vom 3. September).
Vor diesem Hintergrund gibt es derzeit
noch ein paar andere Bücher europäischer
Autoren, die Pflichtlektüre sind. Dazu ge-
hört „Digitale Ethik – ein Wertesystem für
das 21. Jahrhundert“ der Wirtschaftsinfor-
matikerin Sarah Spiekermann von der
Wirtschaftsuniversität Wien. Wobei Titel
und Institut davon ablenken, dass hier die
Geisteswissenschaften und die abendlän-
dische Ideengeschichte ins Feld geführt
werden, um der digitalen Debatte ein Fun-
dament aus Ethik zu geben.
So geht sie in ihrem Kapitel „Die Wur-
zeln unseres negativen Menschenbildes“
bis zu Martin Luther, Thomas Hobbes und
Jean-Jacques Rousseau zurück, um deut-
lich zu machen, dass die Hybris des Silicon
Valley keineswegs in den anti-intellektuel-
len Echokammern des Silicon Valley, son-
dern in den Grundlagen des westlichen
Denkens wurzelt. Es sei aber gerade diese
Hybris und Arroganz des digitalen Herr-
schaftswissens, die den Fortschritt immer
wieder in die falsche Richtung gelenkt hät-
ten. Weil das Digitale aber gar nicht in der
Lage sei, die menschliche soziale Realität
und die Wertewelt, welche die Menschen
bestimmt, abzubilden, sei es eben nicht
nur ein technischer Fortschritt, der sich da
vollziehe, sondern zugleich auch ein gesell-
schaftlicher Rückschritt.

Sarah Spiekermann analysiert aber
nichtnur mit der intellektuellen Präzision
der Geisteswissenschaften. Sie entwickelt
zudem aus ihren Erkenntnissen klare For-
derungen. Etwa nach Bildung und Wissens-
produktion, die den Menschen an die Spit-
ze der Erkenntnispyramide stellen. Nach
kritischem Umgang mit dem Fortschritt.
Und vor allem nach einem Wertekanon,
der eine Ethik für die Anforderungen der
Zukunft möglich macht, die so robust ist,
dass sie auch Entwicklungen standhält,
die man heute noch gar nicht absehen
kann.
Bei aller Skepsis, die sich durch ihr Buch
zieht, bleibt immer klar, dass sich Fort-
schritt nicht aufhalten lässt und dass dies
kein sinnvolles Ziel sein kann. „Digitale
Ethik“ ist deswegen im Subtext auch ein
Plädoyer für eine Vereinigung aller Diszipli-
nen, um der Zukunft zu begegnen.
Nicht alle sind so grundsätzlich optimis-
tische wie Spiekermann. Die Automatisie-
rung als eigentliche Gefahr der nächsten
Digitalisierungswelle spricht sie durchaus
an. Doch im geschichtlichen Kontext, den
der schwedische Wirtschaftshistoriker
Carl Benedikt Frey von der Oxford Univers-

ity in seinem Buch „The Technology Trap –
Capital, Labor and power in the Age of Auto-
mation“ aufstellt, steckt ein zutiefst pessi-
mistischer Kern. Noch gibt es das Buch nur
im englischen Original, aber es ist anzuneh-
men, dass es in diesen Tagen auf der Buch-
messe einen deutschen Verlag findet.

Die Entwicklung der Automatisierung
während der industriellen Revolution des


  1. Jahrhunderts beschreibt Frey mit der
    Differenzierung des Historikers. Immer-
    hin brachten die Maschinen ja nicht nur
    wirtschaftlichen Fortschritt auf Kosten
    der meisten, sondern auch gesellschaftli-
    che Befreiungsmomente, die den Weg für
    die Emanzipationsbewegungen des 20.
    Jahrhunderts und die Demokratisierung
    des Wohlstandes im Mittelstand ebneten.
    Die neue Automatisierungswelle durch
    Digitalisierung und KI sieht Frey aller-
    dings als Motor einer Rückentwicklung,
    die zu einer neuen Polarisierung der Gesell-
    schaften und zur Erosion des Mittelstan-
    des führen könnte. „Demokratie und Mit-
    telstand – eine sehr kurze Geschichte“ lau-
    tet der Titel eines Kapitels, der seinen Pes-
    simismus auf den Punkt bringt.
    Die Euphoriker der Digitalisierung wer-
    den diese Bücher sicherlich meiden. „Kul-
    turpessimismus“ ist im Silicon Valley und
    seinen globalen Ablegern eine Art Hochver-
    rat an der großen Idee von einer besseren
    Welt. An den Schlüsselstellen aber, an de-
    nen es darauf ankommt, sind die Geistes-
    wissenschaften als Regulativ zu den Na-
    tur- und Technikwissenschaften schon
    auf dem Radar. Beim „Sci Foo Camp“, ei-
    nem jährlichen Ideenfestival auf dem Goo-
    gle Campus, sind seit dem vergangenen
    Jahr Geisteswissenschaftler geladen. Und
    auch in den Konzernzentralen selbst steigt
    das Interesse an den lange vernachlässig-
    ten Disziplinen. Die Motive mögen dort
    wirtschaftlicher Natur sein. Doch im Endef-
    fekt geht es auch dann um Erkenntnis.
    andrian kreye


von felix stephan

A


m Tag vor der Eröffnung geht es in
den Messehallen noch einmal zu wie


  1. Bierflaschen auf den Tresen,
    Zigaretten in den Mundwinkeln, stattliche
    Bäuche in den Gängen, hin und wieder ver-
    einzelt: eine Frau. Das sind die Stunden
    der Wahrheit, in denen die Stände aufge-
    baut, Auslegeware verlegt und Mythen von
    empfindlichen Feuermeldern widerlegt
    werden. Ab Mittwoch dann hängen die Pos-
    ter an den Wänden, die von geschäftlichen
    Möglichkeiten in autoritär geführten Län-
    dern künden, von permanentem Wandel
    und kontinuierlichem Wachstum, vibrie-
    renden Märkten und Content. Es ist wieder
    das Jahr 2019 und das Buchgeschäft ein
    Fall für Profis und Marathonläufer.
    In den abgeschiedenen Fluren sieht man
    hinter den Fenstern also schlanke, austrai-
    nierte Agenten und Lektoren von allen Kon-
    tinenten, die einander umarmen, Küss-
    chen verteilen, sich gegenseitig Lizenzen
    verkaufen oder vorenthalten, Deals ab-
    schließen oder ablehnen, beides später
    wahrscheinlich bereuen, und hin und wie-
    der fällt ein Verleger oder eine Verlegerin
    erschöpft aus dem Karussell und in den In-
    nenhof. 7450 Aussteller aus 104 Ländern
    sind dabei.


Am besten darin, die Kritik an ihrem ei-
genen leer laufenden Elitismus zur Verede-
lung des eigenen Brandings zu integrieren,
waren immer schon die Franzosen. In
Frankreich ist die Kritik an der Vermen-
gung von Kultur und Konzerninteressen
auf Kosten der Armen zu einem eigenen li-
terarischen Genre herangereift. Annie Er-
naux, Didier Eribon und Édouard Louis ge-
hören heute zu den große Exporterfolgen
der französischen Literatur. Schöner Kom-
mentar in diesem Zusammenhang: Am Ein-
gang zum Stand der französischen Verlage
hat die Verlagsgruppe Flammarion ein gro-
ßes Dior-Plakat aufgehängt, auf dem fünf
umwerfend gekleidete Models einen Mo-
ment der Ausgelassenheit teilen.
Im Vorfeld hatten auch die rechten Verla-
ge wieder eine E-Mail verschickt, in der sie
sich über irgendetwas beschwert haben,
aber eigentlich nur halbherzig. Die Rechte
braucht die Frankfurter Buchmesse nicht
mehr als Aufmerksamkeitsverstärker,


darüber ist sie lange hinaus. Sie hat jetzt
die Parlamente. Die Konfliktlinien sind in
diesen Tagen andere. Vor der Halle, in de-
nen die internationalen Buchverbände ih-
re jeweiligen Länder vorstellen, parkt ein
Mannschaftswagen der Polizei, offenbar
erwartet man Einsatzmöglichkeiten. Be-
sonders gewagt ist die Prognose nicht,
schließlich hat auch die Türkei hier einen
großen Stand. Dort herrscht in den ersten
Stunden der Messe gespenstische Ruhe.

Wie 2018 wurde auch in diesem Jahr wie-
der kurz vor der Messe eine renommierte
deutsche Verlegerin auf eine Weise von ih-
rem Posten entfernt, die von außen kaum
anders denn als unehrenhafte Entlassung
verstanden werden kann. Im vergangenen
Jahr war die Rowohlt-Verlegerin Barbara
Laugwitz betroffen, in diesem Jahr die
Hoffmann-und-Campe-Verlegerin Birgit
Schmitz. In beiden Fällen hatten die Ent-
scheidungen offene Briefe bekannter Auto-
ren zur Folge, die sich mit ihren Verlegerin-
nen solidarisierten und Protest gegen de-
ren Demissionen einlegten. Und in beiden
Fällen fragte sich kurz danach die versam-
melte Branche in Frankfurt, wie es kommt,
dass ausgerechnet die Buchbranche nicht
in der Lage zu sein scheint, Arbeitsverhält-
nisse so zu beenden, dass die Beteiligten
trotzdem ihre Würde bewahren.
Ansonsten ist vieles beim Alten: Der spa-
nische Anagrama-Verlag verkündet stolz,
in fünf Jahren drei Nobelpreise eingestri-
chen zu haben, für Patrick Modiano, Kazuo
Ishiguro und jetzt Olga Tokarczuk. Joa-
chim Gauck sitzt auf verschiedenfarbigen
Sofas und erklärt, dass man nicht von allen
Deutschen die gleiche Toleranz erwarten
könne, aber wenn es keine Ausländer gebe,
wer pflege dann unsere Großeltern und
pflücke unsere Erdbeeren? Und auf auffal-
lend vielen Bühnen ist von Natur, Klima-
wandel und Achtsamkeit die Rede, als be-
stehe da ein Zusammenhang. Vielleicht ist
ja doch etwas dran an dem Verdacht, dass
sich die meisten Probleme am Ende ein-
fach wegmassieren lassen.
Dass die Messe insgesamt versöhnlich
gestimmt ist, hat vielleicht auch mit der An-
kunft des norwegischen Kronprinzenpaa-
res Haakon und Mette-Marit zu tun, das
die Autoren des Gastlandes persönlich im
ICE nach Frankfurt gebracht hat. Großes
Aufsehen bei der Ankunft des „Literaturzu-
ges“ am Hauptbahnhof, die Norweger stie-
gen aus, Minister und Direktoren über-
reichten Blumensträuße, die Lokalpresse
interviewte überwiegend ergriffene Pas-
santen.
Später, auf der Eröffnungsveranstal-
tung, trug die Kronprinzessin ein Gedicht
vor („Wir tragen einen Traum mit uns“), in
dem sich Türen öffneten und alles gut war.
Heiko Maas warnte vor der Gefahr von

rechts, Karl Ove Knausgård zitierte Hölder-
lin. Und irgendwo in der Ferne brach Peter
Handke ein Interview ab.
Handke steht für den Konflikt zwi-
schen Literatur und Journalismus. Die tu-
nesische Journalistin Hanène Zbiss hat an-
dere Sorgen und kennt wahrscheinlich ab-
gebrochene Interviews aus der anderen
Perspektive. Sie arbeitet als Investigativ-
reporterin in Tunis und kannte schon das

Regime des Autokraten Zine el-Abidine
Ben Ali, der 2011, im Arabischen Frühling,
gestürzt wurde. Nun beklagt sie, dass viele
Medien in ihrem Land von Unternehmern
oder Politikern gekauft worden sind. Ihr
Ziel: „Ich will enthüllen, wer dafür verant-
wortlich ist, dass wir die Früchte unserer
Revolution noch nicht geerntet haben.“
Hanène Zbiss ist am Mittwoch auf der
Frankfurter Buchmesse mit dem Raif-Ba-

dawi-Preis für mutigen Journalismus aus-
gezeichnet worden. Der Preis, mit dem die
Friedrich-Naumann-Stiftung Journalistin-
nen und Journalisten aus dem Nahen Os-
ten und Nordafrika auszeichnet, ist nach
dem inhaftierten saudischen Blogger Raif
Badawi benannt, der wegen seiner Texte
2012 verhaftet und 2014 zu 1000 Peitschen-
hieben und zehn Jahren Haft verurteilt
wurde.

In Breslau gab der Bürgermeister nach der
Bekanntgabe des Nobelpreises an Olga To-
karczuk Kontrolleuren der städtischen Ver-
kehrsbetriebe eine eindeutige Anweisung:
Jeder, der ein Buch Tokarczuks vorweisen
könne, fahre kostenlos – zumindest einige
Tage. Dabei verkaufen sich Tokarczuks Bü-
cher auch ohne die Breslauer Freifahrtga-
rantie wie warme Brötchen: Die Buchhan-
delskette Empik zählte binnen Stunden
12000 verkaufte Tokarczuk-Bücher. Ihr
Hausverlag Wydawnictwo Literackie kam
bis zum Wochenende auf 20 000 E-Books
und Hörbücher. Gedruckte Tokarczuk-Ro-
mane waren flächendeckend vergriffen.
Das Interesse an Tokarczuk steigt wahr-
scheinlich weiter an: DieGazeta Wyborcza
feierte die Nobelpreisträgerin mit acht Sei-
ten Sonderbeilage ebenso wie das Wochen-
magazinPolityka; das katholische Maga-
zinTygodnik Powszechnyhob „Frau Litera-
tur“ statt der Parlamentswahl auf den Ti-
tel. Also lässt der Verlag 200000 Exempla-
re von Tokarczuk-Romanen nachdrucken.
Ein unerhofftes Existenzförderpro-
gramm ist dieser Nobelpreis für den Zür-
cher Kampa-Verlag. „Für uns als junger
Verlag ist dies ein absoluter Glücksfall –
wir können es kaum fassen“, sagt Meike
Stegkemper vom Kampa-Verlag. Erst im
Herbst 2018 erschien der Verlag des lang-
jährigen Diogenes-Mitarbeiters Daniel
Kampa auf dem Buchmarkt und kaufte zur
gleichen Zeit die Rechte an Tokarczuks Ro-
manen ein. Die erst für den 22. Oktober ge-
plante Startauflage von 3000 Exemplaren
von Tokarczuks Opus Magnum „Die Ja-
kobsbücher“ ist schon vergriffen. Bis Ende
Oktober sollen 15 000 weitere Exemplare
der „Jakobsbücher“ in deutschsprachigen
Buchhandlungen liegen, genauso der Ro-
man „Unrast“. Die Romane „Gesang der
Fledermäuse“, „Taghaus, Nachthaus“ und
„Urzeiten“, die der Verlag erst 2020 veröf-
fentlichen wollte, erscheinen jetzt im No-
vember.
In Polen ist der Nobelpreis für Olga To-
karczuk gleichsam eine Staatsaffäre, bei
der auch der Finanzminister mittut. Jerzy
Kwieciński erklärte nach der Bekanntgabe
des Nobelpreises: „Ich habe eine Entschei-
dung über die Aufhebung der Einziehung

der Einkommensteuer von den mit dem
Nobelpreis verbundenen Einkünften ge-
troffen. In allernächster Zeit gebe ich den
entsprechenden Erlass heraus.“
Eigentlich müsste Tokarczuk auf das No-
bel-Preisgeld von umgerechnet 944000
Euro und nach Abzug von 20 Prozent Pro-
duktionskosten für ein „selbstgeschaffe-
nes literarisches Werk“ 32 Prozent Einkom-
mensteuer zahlen und zudem eine neue
Reichensteuer von 4 Prozent. Macht unter
dem Strich 955 800 Złoty, also ein Viertel
des Preisgeldes, rechnete dieRzeczpospoli-
tavor.

Der Finanzminister könnte Tokarczuk
von der Steuerpflicht für das Nobelpreis-
Geld wegen „wichtigem Interesse des Steu-
erzahlers oder öffentlichem Interesse“ be-
freien. Eine solche Entscheidung durch ei-
nen Minister der nationalpopulistischen
Regierung wäre besonders apart. Schließ-
lich haben Anhänger der Regierungspartei
die für Demokratie und Umweltschutz, eth-
nische Minderheiten und Schwule und Les-
ben auftretende Tokarczuk in der Vergan-
genheit gern als „Anti-Polin“ oder Verräte-
rin diffamiert und gar ihre Ausweisung ge-
fordert.
Möglichkeit Nummer 2: Ein Erlass des Fi-
nanzministers umfasst nicht nur Tocarc-
zuk, sondern „eine Gruppe von Steuerzah-
lern, zum Beispiel alle, die prestigeträchti-
ge Preise im Ausland bekommen – jetzt
und in der Zukunft“, so der Steuerspezia-
list Andrzej Maczak. Das Finanzministeri-
um erklärte auf Anfrage, der Erlass sei
noch in Arbeit – dem Sprecher des Finanz-
ministers zufolge wird er „auch künftige
polnische Nobelpreisträger umfassen“.
Ökonomen des Londoner FachdienstesCa-
pital Economicshalten zudem einen Rat be-
reit: Wegen des andauernden Verfalls des
Wertes der schwedischen Krone seien No-
belpreisträger „gut beraten, ihre Preise so
schnell wie möglich in andere Währungen
umzutauschen“. florian hassel

Sarah Spiekermann fordert


eineEthik, die dem


Fortschritt standhalten kann


Kulturpessimismus ist im
Silicon Valley Hochverrat an der
Idee von einer besseren Welt

AGENDA


Dienorwegische Kronprinzessin Mette-Marit bei der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse. FOTO: DPA

Rückkehr zum Geist


In der digitalen Debatte geben europäische Bücher einen neuen Ton an


Auf dem


großen Karussell


Eine träumende Kronprinzessin und Gespräche über


geschasste Verlegerinnen: Die Buchmesse ist eröffnet


Geldfragen


DerNobelpreis zahlt sich für viele aus


Carl Benedikt Frey:Tech-
nology Trap. Capital,
Labor and Power in the
Age of Automation.
Princeton University
Press, Princeton 2019.
456 Seiten, 24,99 Euro.

Sarah Spiekermann:
DigitaleEthik. Ein Werte-
system für das 21. Jahr-
hundert. Droemer Knaur
Verlag, München 2019.
304 Seiten, 19,99 Euro.

Auf auffallend vielen Bühnen
ist von Natur, Klimawandel und
Achtsamkeit die Rede

Anhänger der PiS haben
Tokarczuk in der Vergangenheit
gern als „Anti-Polin“ diffamiert

(^12) LITERATUR Donnerstag, 17. Oktober 2019, Nr. 240 DEFGH
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