von joachim mölter
E
s brennt seit Wochen und Monaten
in der chinesischen Sonderverwal-
tungszone Hongkong, seit ein Ge-
setzentwurf über die Auslieferung von
Straftätern nach China den Widerstand
der bislang noch einigermaßen selbstbe-
stimmten Bevölkerung in der ehemali-
gen britischen Kolonie entfacht hat. Es
brennt symbolisch, weil die Stimmung in
den Straßen aufgeheizt ist. Es brennt
auch tatsächlich: In diesen Tagen waren
es Trikots mit Namen und Nummer des
amerikanischen Basketballers LeBron
James, die in Flammen aufgingen.
Was hat der denn jetzt mit den De-
monstrationen in Hongkong zu tun?
Nun, LeBron James ist gerade aus Chi-
na zurückgekehrt, wo er mit seinen Los
Angeles Lakers zweimal gegen die Brook-
lyn Nets gespielt hat. Die Auftritte sollten
zum einen der Vorbereitung auf die in ei-
ner Woche beginnende Saison dienen
und zum anderen werben für die Basket-
ball-Profiliga NBA und ihre Produkte, Tri-
kots zum Beispiel. Die Werbung ist gründ-
lich missglückt: Noch bevor die Teams in
Shanghai landeten, hatte der Manager
der Houston Rockets, Daryl Morey, mit ei-
nem Tweet für Aufregung gesorgt, mit
dem er Sympathie für die Hongkonger De-
monstranten bekundete. In China kam
das ganz schlecht an, die Gastgeber lie-
ßen ihren Ärger an der ganzen NBA aus:
Sie sagten alle Aktivitäten rund um die
Spiele ab, stornierten Sponsoren-Deals,
rissen Werbeplakate von Hauswänden,
Firmenlogos vom Spielfeld. Die Partien
selbst fanden statt, aber in bedrückender
Atmosphäre, wie die Profis erzählten.
Wieder daheim in den USA, kritisierte
LeBron James dann auch den Rockets-
Manager Morey: „Er war falsch infor-
miert und nicht mit der Situation ver-
traut.“ Außerdem mahnte James: „Man
muss vorsichtig sein mit dem, was wir
twittern, sagen und tun. Es gibt negative
Folgen, wenn man nicht an andere denkt,
wenn man nur an sich denkt.“
In China kam das prima an. In Hong-
kong nicht: Dort verbrannten die Fans
verärgert die Trikots des Basketballers.
Selbst in seiner Heimat geriet James ins
Kreuzfeuer der Kritik. In den USA pflegt
der Sportler das Image eines politisch en-
gagierten Mannes: Er setzte sich gegen
Rassismus ein, positionierte sich gegen
den Präsidenten Donald Trump. Das hat
LeBron James nicht viel gekostet, allen-
falls Sympathien im Lager der Konserva-
tiven, aber sicher nicht bei den zahlungs-
kräftigen, jungen Städtern, im Gegenteil.
Deshalb lautet der Vorwurf an LeBron
James jetzt: Dass er des Geldes wegen vor
dem Druck aus China einknickt. Für sei-
ne größten Geldgeber, die NBA und den
Sportartikelhersteller Nike, ist China ja
der wichtigste Markt außerhalb der USA;
während daheim die Umsätze stagnie-
ren, wuchsen sie in Asien immer noch be-
achtlich. Trotz der drohenden finanziel-
len Folgen hat NBA-Chef Adam Silver in
dem Konflikt mit China stets das Recht
von Daryl Morey auf freie Meinungsäuße-
rung verteidigt. Dass ausgerechnet Le-
Bron James, der prominenteste NBA-An-
gestellte, die freie Meinungsäußerung re-
lativiert, gefällt nicht jedem. Der australi-
sche Profi Andrew Bogut von den Golden
State Warriors twitterte vielsagend: „Je-
der ist für eine Sache, bis ihn diese Sache
$$$$$ kostet......“ Haltung gibt’s nicht um-
sonst, die muss man sich notfalls was kos-
ten lassen – diese Lektion lernt LeBron
James gerade. Im Konflikt zwischen Chi-
na und Hongkong und der NBA hat auch
er sich jetzt schon die Finger verbrannt.
interview: johannes knuth
SZ: Herr Lorang, Sie sind seit sieben Jah-
ren Trainer von Jan Frodeno, Anne Haug
kennen Sie sogar noch länger – haben Sie
damit gerechnet,dass beide einmal im sel-
ben Jahr den prestigeträchtigenIronman-
Triathlon auf Hawaii gewinnen können,
wie am vergangenen Wochenende?
Dan Lorang: Man hat zuletzt gesehen, in
welche Richtung es im Training ging. Aber
dass es bei beiden für den Sieg gereicht
hat, ist schon außergewöhnlich. Es wird
noch dauern, bis sich das bei mir setzt.
DieVorbereitungen verliefen ja allesande-
re als störungsfrei ...
Jan hatte sechs Wochen vor dem letztjähri-
gen Hawaii-Rennen ja einen Ermüdungs-
bruch in der Hüfte. Da war schon die Frage,
wie belastbar der Knochen in seinem Alter
überhaupt noch mal wird(mit 38 Jahren,
Anm.). Er war damals schon auch frus-
triert, weil er seine extrem gute Form auf
Hawaii nicht zeigen konnte. Aber als die
Verletzung im vergangenen Dezember aus-
gestanden war, haben wir im Lauftraining
sehr bald gesehen, dass es keine weiteren
Komplikationen gab. Seitdem konnten wir
alles sehr gezielt Richtung Hawaii vorberei-
ten. Bei Anne lief es etwas zäher ...
... mit einer gereizten Plantarfaszie in der
Fußsohle ...
... die kam nach ihrem dritten Platz im Vor-
jahr auf Hawaii auf, nachdem sie einen
Schuh von einem neuen potenziellen Spon-
sor ausprobiert hatte. Als die Verletzung
ausgestanden war, hat sie sich dann auf-
grund einer biomechanischen Fehlstel-
lung einen Ermüdungsbruch im Schien-
bein zugezogen. So richtig laufen konnte
sie erst vier, fünf Wochen vor dem Iron-
man in Kopenhagen(Mitte August, Anm.).
Aber sie bringt natürlich ein gewisses
Grundniveau mit.
Wie plant man als Trainer für 3,8 Kilome-
ter Schwimmen, 180 Kilometer Radfah-
ren und einem Marathon auf einer schwü-
len Pazifikinsel – für ein Rennen also, das
im Grunde nicht planbar ist?
Man guckt sich erst einmal an: Was brau-
che ich, um acht Stunden Höchstleistung
zu bringen? Wie muss ich den Energiestoff-
wechsel trainieren? Die Muskelausdauer?
Die Ernährung? Wie geht man mit der Hit-
ze um? Da muss ich schon allein schauen,
wie ich im Vorfeld unter ähnlichen Bedin-
gungen trainieren kann. Zum anderen
muss man Strategien entwickeln, mit de-
nen ich den Körper immer wieder herunter-
kühle. So versucht man allmählich dieses
riesige Puzzle zusammenzusetzen.
Aber das gehen Sie ja anders an als bei
Emanuel Buchmann, der bei der Tour de
France zuletzt Vierter wurde und den Sie
in dessen Radsport-Team auch betreuen.
Sowohl Radsport als auch Triathlon sind
Belastungen über einen langen Zeitraum.
Wobei der Radsportler schon dynamischer
ist. Da geht es darum, auch mal Tempover-
schärfungen mitzugehen und kurzzeitig
hochintensiv zu fahren. Im Triathlon ver-
läuft die Belastungskurve deutlich gleich-
mäßiger. Ganz grob kann man sagen, dass
ein Ironman-Triathlet versucht, als Letz-
ter in einem Wettkampf physiologisch und
mental auseinanderzufallen.
Welches ist als Trainer da Ihr größtes Steu-
erungswerkzeug?
Das Training fußt heute schon sehr auf
Leistungsdaten. Wir können mittlerweile
viel besser in den Sportler reingucken. Der
Trainer muss nicht mal mehr am Ort sein,
die Daten werden nach jeder Einheit digi-
tal erfasst und verschickt. Das ist natürlich
ein großer Vorteil, die Sportler trainieren ja
an unterschiedlichen Orten für sich. Wenn
ich Jans Daten nach einem Training nur an-
gucke, weiß ich sofort, ob ihm die Einheit
leichtgefallen ist oder nicht.
Worauf schauen Sie da?
Zunächst auf den Klassiker: Wie verhält
sich die Wattleistung, also der Energieum-
satz in einer bestimmten Zeitspanne, zum
Puls? Wenn er etwa die Vorgabe hat, fünf-
mal acht Minuten bei 320 bis 340 Watt auf
dem Rad zu fahren, dann sehe ich sofort:
Hat er sich eher an den 320 Watt orientiert
oder an den 340? Wie schnell hat sich der
Puls nach jedem Intervall erholt? Und
dann gibt es noch viele weitere Indikato-
ren. Das geht so weit, dass ich sehe, ob er
mit dem linken oder rechten Fuß effizien-
ter tritt und für wie lange. Ein riesiger Da-
tenberg alleine hilft mir aber auch noch
nicht weiter – das Empfinden des Sport-
lers ist schon noch immer sehr wichtig.
Ausdauersport erinnert heute oft frappie-
rend andie Formel 1 – der Athlet hört in ei-
ne Maschine hinein, nur dass es sich bei
der Maschine um den Körper handelt.
Ich sehe das tatsächlich so, dass der Triath-
let der Fahrer des Autos ist und wir Trainer
die Ingenieure sind. Wobei der Fahrer die
Leistung noch mal ganz anders wahr-
nimmt und am besten weiß, wie er das Letz-
te aus dem Auto herauskitzeln kann. Wenn
Jan, wie jetzt am Wochenende auf Hawaii,
auf den letzten 20 Kilometern mit dem Rad
noch mal attackiert, dann ist das eine intui-
tive Entscheidung – er richtet sich dabei
aber auch nach Wattwerten, die wir im Vor-
feld ermittelt haben. Früher hat man so et-
was rein nach Gefühl gemacht, da war die
Gefahr natürlich größer, dass man über-
zieht. Ausdauerwettbewerbe sind heute
tatsächlich eher ein Risikomanagement.
Wird der Athlet bei all der Datenvermes-
sung nicht immer unwichtiger?
Die Daten sind nur die Grundlage. Das ge-
hört heute einfach dazu. Aber den Unter-
schied macht immer noch der Mensch, der
mit seiner mentalen Stärke zum Beispiel
auf gewisse Rennsituationen reagiert.
Man kann einem Athleten heute viel mehr
Informationen an die Hand geben – aber
dadurch, dass das mittlerweile jeder
macht, ist dieser Vorsprung relativ schnell
wieder aufgebraucht.
Sehen Sie bei Haug, Frodeno und Buch-
mann Gemeinsamkeiten, was diese
menschliche Komponente angeht?
Ich sehe bei allen zunächst einmal, dass sie
den absoluten Willen zum Erfolg haben
und diesem Ziel alles unterordnen. Und
dass sie zu 100 Prozent an das glauben, was
sie tun. Wir besprechen uns, und dann
stellt niemand infrage, ob das Training am
Ende zum Erfolg führt oder nicht. Wenn
ich mein System ständig hinterfrage, ist
das problematisch. Die Unterschiede lie-
gen im Grunde darin, dass jeder etwas an-
ders zum Ziel kommt. Jan geht wirklich ex-
trem ins Detail, er will die Mechanik hinter
vielen Dingen genau verstehen. Wenn ich
Emanuel sage, dieses oder jenes würde dir
helfen, dann taucht er nicht noch selbst
tief in die Materie ein. Und bei Anne arbei-
ten wir in erster Linie mit Daten, um die
Entwicklung im Hintergrund zu kontrollie-
ren. Ich muss ihr aber nicht sagen, dass sie
jetzt mit so und so viel Watt fahren soll. Das
muss ich eher in ein Gefühl übersetzen.
Mentale Härte und Willen sind ja kein Al-
leinstellungsmerkmal in der Weltspitze.
HabenSie Verständnis für alle, die Ausdau-
erleistungen generell skeptisch sehen?
Natürlich. Es gab immer wieder Betrugsfäl-
le und gibt es heute noch. Von daher verste-
he ich, dass vor allem die Sieger besonders
im Fokus stehen. Aber auch da sind die Da-
ten von Vorteil: Wir erheben sie seit Jahren
von jeder Einheit; da hat sich jeder meiner
Athleten in einem kleinen Fenster verbes-
sert, das physiologisch glaubwürdig ist.
Das kann sich theoretisch auch jeder an-
schauen, wenn er mag. Das Problem ist na-
türlich auch, dass es selbst bei vielen Do-
pingtests immer Athleten gibt, die etwas
nehmen, das noch nicht nachweisbar ist.
Letztlich weiß jeder Spitzenathlet nur für
sich, ob er ein Betrüger ist oder nicht.
Sie haben schon 2010 Leistungsdaten von
Thor Hushovd und Carlos Sastre ausge-
wertet, kurz nach den zutiefst dopingum-
witterten Jahren im Radsport, sind seit
2011 im Triathlon unterwegs – haben Sie
das Gefühl, dass die Leistungen tatsäch-
lich nachvollziehbarer werden?
Grundsätzlich halte ich die Leistungen heu-
te für deutlich nachvollziehbarer. Es gibt
im Radsport immer mehr Experten; Ärzte
schreiben nicht mehr die Trainingspläne,
es wurden viele Maßnahmen getroffen.
Aber ich sage immer, der Sport ist auch nur
ein Abbild der Gesellschaft, Betrug wird
uns immer verfolgen. Wenn mir etwas auf-
fallen würde, wäre ich der Erste, der das in-
tern und sicherlich auch extern melden
würde. Ich würde sogar so weit gehen, dass
ich den Sportler verklagen würde. Ein Ath-
let, der dopt, riskiert ja nicht nur seine Kar-
riere, er riskiert den Ruf und auch die Ar-
beitsplätze eines Teams, das nach bestem
Gewissen arbeitet. Um das klarzustellen:
Ich vertraue meinen Athleten absolut –
aber wenn es Auffälligkeiten gäbe, würde
ich entsprechend handeln.
Ein überfrachteter Trainingsplan kann ja
auch Doping nahelegen ...
Wir haben bei Bora-hansgrohe und auch
im Triathlon die Philosophie, dass man
über einen längeren Zeitraum schon viel
trainiert, aber keine extremen Einheiten
macht. Immer konstant, immer so, dass
der Körper Zeit hat, sich zu erholen. Aber
er kriegt jeden Tag einen Reiz. So passieren
im Ausdauersport die Anpassungen, so
kann man die Entwicklung auch gut nach-
vollziehen. Und so kann man sich auf Dau-
er auch noch mal auf ein neues Niveau he-
ben. Sogar mit 38 Jahren, wie jetzt bei Jan.
Los Angeles–Es sieht nicht gut aus für
Gardner Minshew. Der Quarterback der
Jacksonville Jaguars befindet sich nach al-
lem, was über Sport, Wirtschaft und Tech-
nologie bekannt ist, auf direktem Weg ins
Tal der Enttäuschungen. Am vorigen Wo-
chenende wirkte er zum ersten Mal in
seiner Karriere, die ja erst vor ein paar Wo-
chen und nur aufgrund der Verletzung von
Stammspielmacher Nick Foles in Fahrt ge-
kommen ist, tatsächlich wie ein Neuling in
der US-Profiliga NFL: Bei der 6:13-Nieder-
lage gegen die New Orleans Saints wurde
Minshew von den gegnerischen Verteidi-
gern regelrecht gejagt, er sah fahrig und
bisweilen hilflos aus, nicht einmal die Hälf-
te seiner Pässe kam bei den Mitspielern an.
„Believe the Hype!“ So nennen die Ame-
rikaner das, wenn einer nicht grundlos ge-
feiert wird, sondern die Begeisterung mit
grandiosen Leistungen rechtfertigt. Die Ja-
guars hatten Minshew nach der schlim-
men Schulterverletzung von Foles ins kal-
te Wasser geworfen, und Minshew hielt
sich nicht bloß irgendwie über Wasser, son-
dern schwamm wie Michael Phelps, der
23-malige Olympiasieger: Die Zahlen in
den für Spielmacher wichtigen Statistiken
Passquote (73,9 Prozent) und Passer Ra-
ting (110,6) waren die besten, die je ein
Quarterback in den ersten drei Spielen sei-
ner Karriere erreicht hat.
Zu Minshews Popularität trägt bei, dass
er wie ein cooler Hund wirkt. Er trägt einen
Tom-Selleck-Schnurrbart und ein Jane-
Fonda-Stirnband, dazu selbst abgeschnit-
tene Jeans und Fliegerbrille, in Interviews
spricht er davon, wie er seine Hand einst
mit dem Hammer brechen wollte, um
länger am College spielen zu können. So
wurde Minshew zur Kultfigur, die Jaguars-
Fans kommen mit angeklebten Bärten zu
den Spielen, im Internet gab es Sprüche
über ihn wie sonst nur über den Schauspie-
ler Chuck Norris. Ein Beispiel: „Als Min-
shew zur Uni ging, sagte er zu seinem Va-
ter: Du bist jetzt der Mann im Haus!“ Das
Netzwerk Snapchat führte einen Minshew-
Filter mit Bart, Brille und Stirnband ein.
Kaum ein Mannschaftssport ist derart
auf einen Einzelnen fokussiert wie Ameri-
can Football auf den Quarterback, und so
wird Minshew zum Symbol einer Saison, in
der Ersatzleute auf der Spielmacherpositi-
on für Furore sorgen: Bei den Saints
übernahm Teddy Bridgewater für den ver-
letzten Drew Brees, bei den Pittsburgh
Steelers spielt nun Devlin Hodges, nach-
dem erst Ben Roethlisberger und dann
dessen erster Ersatzmann Mason Rudolph
ausfiel; bei den Indianapolis Colts steht Ja-
coby Brissett nach dem überraschenden
Karriereende von Andrew Luck auf dem
Feld. Auch die New York Giants (Daniel Jo-
nes für Eli Manning) und die Carolina Pan-
thers (Kyle Allen für Cam Newton) haben
bereits getauscht.
Es wäre zu früh, die vielen Wechsel als
Trend zu betrachten oder die Karrieren der
Super-Bowl-Gewinner Brees und Roethlis-
berger für beendet zu erklären – die des
zweimaligen Titelträgers Manning dage-
gen dürfte vorbei sein. Es lohnt aber, die
ersten Partien von Minshew als Beispiel da-
für zu betrachten, wie es jungen Quarter-
backs während ihrer ersten Saison als
Stammspieler in dieser Liga ergeht, in der
einer schwimmen mag wie Phelps und den-
noch von Haien gefressen werden kann.
Die Wissenschaftlerin Jackie Fenn hat
in den Neunzigerjahren ein Modell für tech-
nologische Innovationen entwickelt, das
„Gartner Hype Cycle“ heißt und sich auf
junge Sportler anwenden lässt: Nach ers-
ten Erfolgen folgt der Gipfel überzogener
Erwartungen, also die wahnwitzige Begeis-
terung um Minshew und der Glaube der Ja-
guars-Fans, nicht nur die Playoffs errei-
chen, sondern womöglich gar die Meister-
schaft gewinnen zu können.
Nur: Football wird manchmal auch des-
halb als „Rasenschach“ bezeichnet, weil
die Gegner fast alles übereinander wissen
und einander zu übertölpeln versuchen.
Kaum ein Sportler ist derart gläsern wie
ein Quarterback, ein junger Ersatzspieler
kann erst einmal Verwirrung auslösen,
wenn nicht viel über ihn bekannt ist und er
aus dem Bauch heraus richtige Entschei-
dungen trifft. Minshew wich bei seinen ers-
ten Partien den heranstürmenden Verteidi-
gern geschickt aus, er agierte unbeküm-
mert und warf die Bälle ebenso unbeküm-
mert zu im Grunde gedeckten Mitspielern.
Diese Spielweise gefällt den Zuschau-
ern, und Minshew gab sich auf und abseits
des Spielfelds derart lässig, dass die Leute
glaubten, dass ihm all der Rummel nichts
ausmache. Minshew kommt daher wie der
bodenständige Typ, der vor der Abfahrt
zum Stadion ein Kätzchen rettet, seinem
Vater beim Reifenwechseln hilft und der
Mutter Blumen bringt – und dann quasi ne-
benbei Footballspiele gewinnt.
Aber nun gibt es Videomaterial von
Minshew aus Partien bei den Profis, und
das zeigt, dass er oft zu lange für einen
Pass braucht. Die Verteidiger wissen, wo-
hin er am liebsten wirft, nämlich zu dem
Receiver D.J. Clark, und mit welchen Manö-
vern er Gegner abschütteln will – ducken,
seitlich nach hinten weg. Die Panthers ha-
ben ihm vor zwei Wochen dreimal den Ball
aus den Händen geschlagen, die Saints lie-
ßen am vergangenen Wochenende keinen
Touchdown zu und fingen dazu einen
Wurf ab. Bei den tollen Statistiken zu Be-
ginn der Saison hatte Minshew die bis dato
führenden Rick Mirer und Trent Edwards
überholt. Kennt keiner mehr? Eben.
Es kann schon sein, dass bei Minshew
nun das Tal der Enttäuschungen folgt, und
dann wird laut Hype Cycle deutlich, wohin
die Reise geht. Die Jaguars haben Min-
shew, so heißt es, nicht nur wegen seiner
sportlichen Fähigkeiten gewählt, sondern
weil er sich beim Probetraining als intelli-
genter und lernwilliger Typ präsentiert
hatte. „Ich muss weiter lernen und besser
werden“, sagt er. Er hat ungefähr sechs Wo-
chen lang Zeit, um im Hype Cycle das soge-
nannte „Plateau der Produktivität“ zu
erreichen. Dann sollte Foles wieder einsatz-
fähig sein, und Jaguars-Trainer Doug Mar-
rone wird entscheiden müssen, ob er an
den Hype glaubt. jürgen schmieder
„Ich würde so weit gehen,
dassich einen dopenden
Sportler verklagen würde.“
„Ausdauerwettbewerbe sind
heutetatsächlich eher ein
Risikomanagement.“
DEFGH Nr. 240, Donnerstag, 17. Oktober 2019 HF2 25
Hype um einen Schnurrbart
Football-Profi Gardner Minshew hat sich in kurzer Zeit zur Kultfigur der diesjährigen NFL-Saison entwickelt – aber nun kommt die Phase, in der er die Begeisterung rechtfertigen muss
Die Verteidiger wissen jetzt, wie
Minshew sie abschütteln will –
und zu wem er am liebsten wirft
Die Kritik am US-Präsidenten hat
LeBron James nicht viel gekostet,
zumindest nicht viel Geld
DIE NBA UND CHINA
Haltung
kostet etwas
Dan Lorang ,40, ist seit
13 Jahren als Sportwissen-
schaftler und Trainer im
Hochleistungssport aktiv.
Bis 2016 betreute er die
deutschen Kurzdistanz-Tri-
athleten, seitdem arbei-
tet er für das deutsche
Profi-Radteam Bora-hans-
grohe. FOTO: EIBNER / IMAGO
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sz.de/sportpodcast
„Man kann sich auch mit 38 auf ein neues Niveau heben“
Dan Lorang, Trainer der deutschen Ironman-Sieger Anne Haug und Jan Frodeno, über die Vorbereitung auf die achtstündige Quälerei auf Hawaii,
was Ausdauersport mittlerweile mit der Formel 1 gemein hat und den Verdacht gegenüber außergewöhnlichen Leistungen
SPORT
Cooler Hund: Gardner Minshews Popularität basiert nicht nur auf seiner sportli-
chenLeistung, sondern auch auf seinem Aussehen. FOTO: USA TODAY SPORTS / REUTERS
„Absoluter Wille zum Erfolg“: Jan Frodeno ist der erste deutsche Triathlet, der den Ironman auf Hawaii dreimal gewonnen hat. FOTO:DAVID PINTENS / DPA