Berlin – Vielleicht war es Zufall, vielleicht
aber auch politisches Kalkül. Kurz vor der
für diesen Mittwoch geplanten ersten An-
hörung der Grundsteuerreform im Bundes-
tag teilte die FDP recht vernehmlich mit,
dass sie dem Gesetz keinesfalls zustim-
men werde, wenn sich der zuständige Bun-
desfinanzminister Olaf Scholz (SPD) nicht
noch überzeugen lasse, die Reform weni-
ger bürokratisch zu machen. Ganz kon-
kret: Mit der FDP werde es keine zweite
Steuererklärung, extra für die Grundsteu-
er, geben. Parteichef Christian Lindner for-
derte auf Twitter, im Grundsteuergesetz
von Olaf Scholz müsse „Doppelrechnung
für Grundstückseigentümer eindeutig aus-
geschlossen werden“. Dazu habe er einen
Brief an den Chef der Unionsfraktion im
Bundestag geschrieben. Was beim interes-
sierten Leser sicher die Frage aufgeworfen
haben dürfte, wieso sich Lindner an die
Union wendet, wenn das Gesetz doch von
der SPD kommt.
Andererseits, was für ein Einsatz! Es pas-
siert nicht häufig, dass sich der FDP-Chef
persönlich in die Feinheiten der Steuerge-
setzgebung einmischt; er ist eher für die
großen Linien zuständig. Aber womöglich
griff Lindner gerade des großen Ganzen
wegen ein, wegen der Zukunft der FDP. Die
Zustimmung der Wähler schwindet gera-
de, die Fünf-Prozent-Marke ist wieder in
Blickweite. Am Dienstag hatteBildberich-
tet, dass die FDP einer Umfrage zufolge
nur noch auf 7,5 Prozent der Wählerstim-
men komme und damit einen Prozent-
punkt zur Vorwoche verloren habe.
Am Mittwoch sah es so aus, als habe sich
die FDP die Grundsteuerreform ausge-
wählt, um zu zeigen, wie sie für Bürgerin-
teresse kämpft. Die Koalition braucht die
FDP ebenso wie die Grünen bei dem Ge-
setz, weil auch das Grundgesetz geändert
werden muss. Und, wenig überraschend,
Scholz sowie die Fraktionen von SPD und
Union lenkten ein. Weil man die Grund-
steuerreform beschließen will, um Städten
und Gemeinden die Einnahmen zu si-
chern, einigte man sich auf zwei zusätzli-
che Sätze im Gesetz. Unverhältnismäßiger
Steueraufwand sei zu vermeiden. Und für
die Steuerpflichtigen dürfe keine gesonder-
te Erklärungspflicht entstehen.
Damit ist der Weg frei, um die Reform
der Grundsteuer bis Ende des Jahres kom-
plett zu beschließen, wie vom Bundesver-
fassungsgericht verlangt. Sie spült jährlich
14 Milliarden Euro in die Kassen der Kom-
munen. cerstin gammelin
von markus balser
Berlin – Vorwürfe gegen Verkehrsminister
Andreas Scheuer (CSU) wegen der geplatz-
ten Einführung der Pkw-Maut gibt es
schon seit Monaten. Am Dienstag machten
Grüne, FDP und Linke nun ihre Drohung
wahr und beantragten einen Unter-
suchungsausschuss des Bundestags. Die
Süddeutsche Zeitungbeantwortet die wich-
tigsten Fragen zu diesem Gremium und
dessen Möglichkeiten:
Warum wurde die Pkw-Maut überhaupt
zum Problem?
Die große Koalition hatte die Umsetzung
der Pkw-Maut bereits 2017 im Bundestag
beschlossen. Als Scheuer 2018 Verkehrsmi-
nister wurde, trieb er den Start dieser Stra-
ßenbenutzungsgebühr mit hohem Tempo
voran. Sein Ziel: die Einführung im Okto-
ber 2020. Doch der Europäische Gerichts-
hof durchkreuzte die Pläne und erklärte
die Maut im Juni 2019 für rechtswidrig,
weil sie Ausländer diskriminiere. Scheuer
steht nun unter Druck, weil er die Verträge
mit den Betreibern Kapsch und CTS Even-
tim schon zum Jahreswechsel geschlossen
hatte – lange also bevor Klarheit bestand,
ob er das Projekt umsetzen darf. Deshalb
drohen dem Bund laut Insidern nun Scha-
denersatzforderungen der Betreiber von ei-
ner halben Milliarde Euro.
Wie lauten die Vorwürfe gegen Scheuer?
In den vergangenen Monaten legte Scheu-
er den Abgeordneten schon 50 Ordner zur
Maut vor. Doch noch immer schweigt das
Ministerium zu wichtigen Vorgängen. Der
Untersuchungsausschuss hat nun die Auf-
gabe, die gesamten Mautvorbereitungen
seit dem Start der vorherigen großen Koali-
tion Ende 2013 zu durchleuchten. So geht
es aus dem fünfseitigen Antrag der Opposi-
tion hervor. Im Zentrum steht dabei, ob
Scheuer zu hohe Risiken einging, Kosten
für den Steuerzahler verschleierte und den
Bundestag belog, um die Pkw-Maut trotz
aller Zweifel schnell einzuführen. Auch
Inhalte von Geheimtreffen mit den Maut-
betreibern sollen aufgeklärt werden. We-
gen des langen Untersuchungszeitraums
muss sich wohl nicht nur Scheuer verant-
worten. Auch Scheuers Vorgänger, CSU-
Landesgruppenchef Alexander Dobrindt,
könnte ins Visier der Opposition geraten.
Kann der Ausschuss dem Minister wirk-
lich gefährlich werden?
Weist die Opposition Scheuer nach, dass er
zur Mauteinführung bei zentralen Fragen
gegenüber dem Bundestag nicht die Wahr-
heit gesagt hat, dann dürfte es ziemlich
eng für ihn werden. Eine Rolle wird dabei
etwa spielen, ob es bei den Geheimtreffen
mit den Mautbetreibern wirklich, wie
Scheuer behauptet, nur um Nebensächlich-
keiten ging. Oder ob auch zentrale Punkte
des geplanten Vertrags besprochen wur-
den. Zu den brisanten Themen zählt auch
die Frage, ob die wahren Kosten der Maut
im Vergabeprozess versteckt und verschlei-
ert wurden. Dann hätte Scheuer den Bun-
destag hintergangen, der ein Budget von
rund zwei Milliarden Euro für das Projekt
abgesegnet hatte.
Wie können die Abgeordneten überhaupt
aufklären?
Ein parlamentarischer Untersuchungsaus-
schuss ist ein mächtiges Instrument der
Opposition, um das Regierungshandeln zu
überprüfen. Das Gremium kann selbst Zeu-
gen laden und vernehmen und ihr Erschei-
nen sogar erzwingen. Es kann sie auch un-
ter Eid aussagen lassen, um die Wahrheit
zu erfahren. Und es kann weitere Akten
anfordern. „Gerichte und Verwaltungsbe-
hörden sind zur Rechts- und Amtshilfe ver-
pflichtet“, heißt es dazu im Grundgesetz.
Oft allerdings ist die Aufklärung wie etwa
im Abgas-Untersuchungsausschuss zähe
Detailarbeit. Zeugen können Politiker bis
zum Minister sein, Spitzenbeamte oder
auch Manager von Unternehmen. Der Aus-
schuss könnt also auch die Chefs der Maut-
betreiber aussagen lassen, mit denen sich
Scheuer getroffen hat. Solche Befragun-
gen finden öffentlich statt.
Wie reagiert der Minister? Und hat er
noch Rückhalt in der großen Koalition?
Scheuer weist die Vorwürfe zurück, er ha-
be wichtige Vorgänge geheim gehalten.
Das Ministerium habe den Bundestag um-
fänglich informiert. Allerdings schweigen
Scheuer und sein Ministerium beharrlich
zu Details der Geheimtreffen. Unionsfrakti-
onschef Ralph Brinkhaus (CDU) gab Scheu-
er dennoch schon vorab Rückendeckung.
„Der Stuhl von Herrn Scheuer wackelt na-
türlich nicht“, sagte er. Auch der Koalitions-
partner SPD hält sich bislang mit Kritik
zurück.
Wann nimmt das Gremium die Arbeit auf?
Zunächst muss der Bundestag die Einset-
zung des Untersuchungsausschusses noch
beschließen. Das dürfte schon in der nächs-
ten Woche geschehen. Mit den ersten Zeu-
genaussagen ist dann frühestens im De-
zember zu rechnen. Seite 4
Berlin – Das Bundeskabinett hat am Mitt-
woch weitere Einzelmaßnahmen aus dem
großen Klimaschutzpaket verabschiedet.
Bis auf die geplanten Änderungen bei der
KfZ-Steuer, die für Wagen mit besonders
hohem Kraftstoffverbrauch deutlich stei-
gen soll, sind damit die wichtigsten steuer-
lichen Maßnahmen auf den Weg gebracht.
Sie sollen möglicht bis Dezember durch
den Bundestag gebracht werden. Hier sind
die Beschlüsse im Überblick:
Flugtickets
Fliegen soll durch eine höhere Luftverkehr-
steuer unattraktiver werden. Die Steuer
steigt für Flüge bis 2500 Kilometer, also
alle Inlandsflüge, von 7,50 Euro auf
13,03 Euro. Für Flüge zwischen 2500 und
6000 Kilometern werden 33,01 Euro fällig,
für ganz lange Strecken 59,43 Euro. Die
Änderungen sollen ab 1. April 2020 gelten.
Fluggesellschaften sind gesetzlich nicht
verpflichtet, die Tickets teurer zu machen.
Das Verbot, bei Flugtickets mit Nettoprei-
sen ohne Steuern und Gebühren zu werben,
ist noch nicht auf den Weg gebracht.
Bahnfahrkarten
Die Einnahmen aus der höheren Luftver-
kehrsteuer sollen dazu dienen, die Sen-
kung der Mehrwertsteuer für Bahntickets
auf den ermäßigten Satz gegenzufinan-
zieren. Der ermäßigte Satz soll allerdings
schon von Januar 2020 an gelten. Auch
hier gilt: Die Bahn ist nicht verpflichtet, die
Entlastung bei der Steuer an die Kunden
weiterzugeben.
Pendlerpauschale
Weil Berufspendler wegen steigender CO2-
Preise mehr für Kraftstoff zahlen müssen,
soll die Pendlerpauschale für lange Stre-
cken von Januar 2021 bis Dezember 2026
erhöht werden. Ab Kilometer 21 soll es
künftig 35 Cent pro Kilometer geben.
Mobilitätsprämie
Bis zu 250 000 pendelnde Geringverdiener
sollen erstmals mit gut verdienenden Pend-
lern gleichgestellt werden. Wer nur etwa
den steuerlichen Grundfreibetrag ver-
dient, bekommt auf Antrag eine Über-
weisung vom Finanzamt.
Gebäudesanierung
Wer in selbst genutztem Wohneigentum
die Wände oder das Dach dämmt oder Fens-
ter, Türen, Lüftungsanlagen und die Hei-
zung erneuert, soll über drei Jahre steuer-
lich gefördert werden. Bis zu 20 000 Euro
können über den Zeitraum verteilt fließen,
sie sollen von der Steuerschuld abgezogen
werden.
Ausbau der Windenergie
Kommunen dürfen ab Januar 2020 eine
höhere Grundsteuer für ausgewiesene
Windradflächen kassieren. Das soll den
Bau der Anlagen befördern. gam
Hören Sie zu diesem Thema
auch den Podcast.
sz.de/nachrichtenpodcast
Minister in der Mangel
Die Opposition wirft Verkehrsminister Scheuer vor, bei der Pkw-Maut das Parlament getäuscht zu haben:
Warum der nun eingesetzte Untersuchungsausschuss dem CSU-Politiker gefährlich werden kann
Hamburg– Bernd Lucke stützt sich aufs
Pult, legt den Zeigefinger an die Lippe, sagt
kein Wort. Er hatte den Laptop angeschlos-
sen und versucht, seine Präsentation zu
starten, aber gleich haben sich Studieren-
de auf die hinteren Bänke gestellt, Regen-
schirme aufgespannt und vor den Beamer
gehalten.
Hörsaal B, ganz oben unter der Dach-
kuppel im Hauptgebäude der Hamburger
Uni, ist bis auf den letzten Zentimeter ge-
füllt, Protestierer stehen auf den Gängen,
der Treppe, der Galerie. Zwei Studenten
und eine Studentin klettern auf den Tisch
neben Luckes Stehpult und entrollen ein
Transparent: „Lucke hat den Schneeball
geworfen, der die rechte Lawine ins Rollen
gebracht hat“, steht darauf. Die drei
Protestierer stimmen ein: „Hau ab, hau
ab.“ Sprechchöre. Klatschen im Takt.
Dann rennt eine Gruppe von der Antifa
nach vorn und spannt ihre schwarze
Flagge vor Luckes Gesicht auf. Der tritt zur
Seite, entkabelt das Headset, faltet seine
Jacke und stopft sie in den Rucksack. Man
versperrt ihm den Ausgang, er setzt sich zu
seinen Studierenden, vierte Reihe von
vorn. Papierkugeln fliegen in die Richtung.
An „Makroökonomik II“ ist an diesem
Tag nicht mehr zu denken. Die erste Vor-
lesung von Professor Bernd Lucke, Mit-
gründer und erster Bundessprecher der in-
zwischen weitgehend offen rechtsextre-
men AfD, geht unter im Tumult; es kommt
sogar zu kleineren Handgreiflichkeiten.
Nachdem Lucke mit der AfD gebrochen
und im Mai den Wiedereinzug ins Europa-
parlament verpasst hatte, ist er nun zu-
rück auf seinem alten Lehrstuhl an der Uni
Hamburg. Darf Lucke nach seiner umstrit-
tenen politischen Karriere so einfach zu-
rück in die Forschung und Lehre?
Für Karim Kuropka, den Vorsitzenden
des Allgemeinen Studierendenausschus-
ses (Asta), ist die Antwort klar: „Wir den-
ken, so ein Mensch gehört nicht an die
Universität“, hatte er am Morgen bei einer
Protestkundgebung vor dem Hauptgebäu-
de vor vielleicht 200 bis 300 Zuhörern ge-
sagt. Seit Wochen ringt man an der Uni; der
Asta erklärt, er sei bereits im Vorfeld mit
rechten Hassmails überflutet worden.
An seiner Alma Mater versucht der
Rückkehrer das Bild zu verbreiten, er habe
das Abdriften der Partei an den ganz rech-
ten Rand stets zu verhindern versucht.
Den Studierenden seiner Einführungsvor-
lesung schickte er vergangene Woche eine
Dokumentensammlung, 93 PDF-Dateien,
Beschlüsse, Zeitungsartikel, E-Mail-Korre-
spondenzen mit sorgsam geschwärzten
Empfängerzeilen, eine Sammlung von fast
manischer Akribie, die ihn entlasten soll.
„Der Asta wirft mir vor, in meiner Zeit als
Bundessprecher der AfD ‚skrupellos rech-
te bis rechtsextreme Positionen‘ in Kauf ge-
nommen zu haben“, heißt es in der Mail an
die Vorlesungsteilnehmer, die derSüddeut-
schen Zeitungvorliegt: „Das ist ein völlig
haltloser Vorwurf – das Gegenteil ist
wahr.“ Das Konvolut hat Lucke auch dem
Asta geschickt: Seht her, mich trifft keine
Schuld, das suggeriert die Sammlung.
Doch in den Augen seiner Kritiker
macht Lucke es sich mit seinem Totalfrei-
spruch zu einfach. Für den Asta-Vorsitzen-
den Kuropka hat Lucke den Rechtskurs
der AfD zumindest lange geduldet – bis er
wegen interner Machtkämpfe mit der Par-
tei brach, was er als inhaltliche Differenz
verbrämte. Am Donnerstag will Lucke sich
mit den Studierendenvertretern treffen
und über seine Rolle in der AfD diskutie-
ren. Eigentlich habe er schon für Anfang
Oktober ein Gespräch vorgeschlagen,
schreibt er der SZ: „Aber der Asta hatte vor
der Protestaktion keine Zeit.“ Eine Asta-
Sprecherin sagt, die Einladung sei zu kurz-
fristig gekommen, das Gesprächsangebot
nehme man aber gern an.
Ein Gespräch findet in Hörsaal B am
Mittwoch nicht statt. Vorn am Pult vertrei-
ben sich zwei Demonstranten die Zeit mit
einer Partie auf einem Reiseschachbrett.
Ein Student sagt in ein Megafon, Lucke ha-
be nun die Gelegenheit, den Saal friedlich
zu verlassen. Lucke steht auf, stemmt die
Hände in die Hüfte, will offenbar etwas sa-
gen, zum ersten Mal, vergebens. „Ich wer-
de Ihnen nicht das Megafon überreichen“,
sagt der Student. bernd kramer
DEFGH Nr. 240, Donnerstag, 17. Oktober 2019 (^) POLITIK HF2 5
50 Ordner mit Akten zur Maut präsentierte Verkehrsminister Andreas Scheuer den Bundestagsabgeordneten im Juli. Darin stand jedoch nicht alles.FOTO: CARSTENSEN/DPA
Scholz’ Werk und
Lindners Beitrag
Wieso sich der FDP-Chef persönlich
in die Grundsteuerreform einmischt
Fliegen für billigere Bahntickets
Das Bundeskabinett bringt weitere Maßnahmen aus dem Klimaschutzpaket auf den Weg
Abgang nach der Vorlesung, die keine
war:Bernd Lucke. FOTO: MARKUS SCHOLZ/DPA
Rückkehr ohne Worte
AfD-Mitgründer Bernd Lucke lehrt wieder an der Uni Hamburg. Er versucht es zumindest
Wiemussman
Energiezukunft
betrachten?
AusSicht desKlimas.
Undaus Sichtder
Versorgungssicherheit.
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