Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1

Rom – Italiens Küstenwache hat 180 im
Mittelmeer gerettete Migranten zur
Insel Lampedusa gebracht. Die Männer,
Frauen und Kinder wurden am Diens-
tag im Rettungsbereich Maltas an Bord
genommen. Wegen der großen Zahl
Menschen und schlechten Wetters habe
man aber entschieden, Lampedusa
anzusteuern, teilte die Küstenwache am
Mittwoch mit. Das zivile Rettungsschiff
Ocean Vikingerreichte mit 176 Migran-
ten am Mittwoch den apulischen Hafen
Taranto. Es hatte die Menschen am
Wochenende vor Libyens Küste aufge-
nommen. Indes hält der Flüchtlingszu-
strom aus der Türkei auf griechische
Inseln an: Allein am Mittwochvormittag
setzten laut griechischer Küstenwache
183 Migranten über. Am Vortag wurden
310 Migranten aufgegriffen. dpa


Viele Flüchtlinge gerettet


Berlin– Berlin und Hamburg machen
sich für neue Regeln bei den Sommerfe-
rien stark. Bei der Kultusministerkonfe-
renz an diesem Donnerstag und Freitag
in Berlin wollen beide Länder beantra-
gen, die freien Tage zeitlich weniger zu
strecken. Generell sollen die Sommerfe-
rien demnach erst vom 1. Juli an begin-
nen, die unterschiedlichen Termine der
Länder sollen enger zusammenrücken
und die jährlichen Verschiebungen
möglichst gering ausfallen. Ziel sei
„mehr Kontinuität“ im Schuljahresab-
lauf, sagte Berlins Bildungssenatorin
Sandra Scheeres (SPD) der Deutschen
Presse-Agentur. Andere Bundesländer
reagierten zurückhaltend bis ableh-
nend auf den Vorstoß. „Bayern bleibt
bei der aktuellen Ferienregelung“, er-
klärte Bayerns Kultusminister Michael
Piazolo (Freie Wähler). dpa


von deniz aykanat
und bernd kastner

I


n Nordsyrien marschieren türkische
Truppen ein – und in Deutschland lö-
sen sich Grenzen auf. „Was die Kurden
untereinander nicht geschafft haben,
schafft die Türkei mit ihrer Invasion“: So
fasst Mehmet Tanriverdi die Stimmung un-
ter den in Deutschland lebenden Kurden
zusammen. Seit Beginn des türkischen An-
griffs auf die Kurdengebiete in Nordsyrien
solidarisieren sich Kurden, sagt der Vize-
vorsitzende der Kurdischen Gemeinde
Deutschland (KGD), egal, welcher politi-
schen Richtung sie anhängen. In deut-
schen Städten gehen Tausende auf die Stra-
ße, um gegen den Angriff zu demonstrie-
ren, und immer wieder wehen dabei PKK-
Fahnen. Ist die kurdische Gemeinde in
Deutschland ein einziger großer PKK-Fan-
klub? „Der Angriff vereint alle“, sagt die Po-
litikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey
und meint: alle Kurden, auch in Deutsch-
land. Was bedeutet das für das ohnehin
schwierige Verhältnis zwischen Kurden
und Türken hierzulande?
Eine bis eineinhalb Millionen Kurden le-
ben geschätzt in Deutschland. Eine Statis-
tik existiert nicht, weil nur die Staatsange-
hörigkeit registriert wird, nicht die ethni-
sche Herkunft. Kurden sind für deutsche
Behörden also Türken, Syrer, Iraker, Ira-
ner. Oder auch Deutsche, wenn sie einge-
bürgert sind. Der größte Teil der deut-
schen Kurden stammt aus der Türkei, sie
kamen als Gastarbeiter. Es folgten weitere
Phasen der Zuwanderung, als die Men-
schen Schutz suchten. Sei es infolge des Mi-
litärputsches in der Türkei 1980 oder des
Chemiewaffenangriffs Saddam Husseins
1988 auf die irakische Stadt Halabdscha
mit Tausenden Toten. Die Zahl der Kurden
in Deutschland hat zuletzt wohl um mehre-
re Hunderttausend zugenommen: Jeder
dritte syrische Flüchtling, schätzt Tanriver-
di, stamme aus Rojava. So nennen die Kur-
den ihr Gebiet in Nordsyrien.

Die meisten dieser Flüchtlinge der letz-
ten Jahre dürften Angehörige in Rojava ha-
ben und nun um deren Leben bangen. Das
erhöht die Anspannung in Deutschland,
erst recht, wenn demnächst weitere Flücht-
linge kommen. Noch halten sich Hundert-
tausende in der Region auf, aber bald,
glaubt Tanriverdi, dürften viele Deutsch-
land erreichen, wo es die mit Abstand größ-
te kurdische Community in Europa gibt.
Das Kürzel PKK steht für „Kurdische Ar-
beiterpartei“, tatsächlich aber ist die PKK
weit mehr als eine Partei. Sie ist ein ebenso
machtvoller wie umstrittener gesellschaft-
licher Akteur, in der Türkei wie in der Dias-
pora. Den einen gilt sie als Terrororganisa-
tion, andere sehen PKK-Aktive als Frei-
heitskämpfer. In Deutschland ist die PKK
seit 1993 verboten, als Reaktion auf gewalt-
tätige Ausschreitungen. Auch damals
schon war der Konflikt aus der Türkei nach

Deutschland geschwappt. Lange Zeit hafte-
te PKKlern der Ruf als militante Krawall-
macher an. Von der EU wird die PKK seit
2002 als Terrororganisation gelistet.
Trotz allem blieb ihre soziale Basis
stark. Kurdische Vereine in vielen Städten
bilden die strukturelle Basis der PKK, der
Dachverband Nav-Dem gilt als ihre organi-
satorische Klammer. Auf 14 500 schätzt
der Verfassungsschutz das „Personenpo-
tenzial“ der PKK, sie sei „weiterhin die mit-
gliederstärkste und schlagkräftigste aus-

länderextremistische Organisation“. Auch
vergangenes Jahr, nach dem türkischen
Einmarsch in der kurdischen Region Afrin,
gab es zahlreiche Proteste, allein, die Mobi-
lisierung blieb laut Verfassungsschützern
hinter dem Erwarteten zurück.
Hilflosigkeit und Ohnmacht: Mit diesen
Worten skizziert Gülistan Gürbey die Ge-
fühle in der kurdischen Community. Der
türkische Einmarsch werde als demüti-
gend empfunden, als neues Trauma, weil
die Staatenwelt wieder zuschaue und diese

Ungerechtigkeit ignoriere, wie so oft. Es
wachse die Wut, und zwar grenzüberschrei-
tend. Das gelte für Staatsgrenzen wie für
politische Grenzen in der Diaspora.
So stark die PKK in Deutschland ist: Es
gibt zahlreiche weitere Organisationen. Zu
den bekanntesten gehört die Kurdische Ge-
meinde Deutschland, sie wird auch von der
Bundesregierung gefördert. Die KGD, die
alle Kurden zur Mäßigung bei Demos auf-
ruft, versteht sich als parteipolitisch neu-
tral, hat bundesweit 22 Mitgliedsvereine

und fünf Landesverbände. Ihr Vorsitzen-
der Ali Toprak war früher Mitglied der Grü-
nen, ehe er zur CDU wechselte. Die KGD
hat die Plattform „Defend Rojava“ mit initi-
iert, „Verteidigt Rojava“; hier mischen sich
PKK-Freunde und andere. Zu PKK-Verei-
nen wiederum gibt es traditionell bei der
politischen Linken in Deutschland die
größte Nähe. Gülseren Demirel, Grünen-
Abgeordnete im bayerischen Landtag und
Kurdin, sagt, sie sei keine Unterstützerin
der PKK. Aber wenn PKKler eine Demo or-
ganisieren, „dann gehe ich auch hin“.
Die Solidarität unter den deutschen Kur-
den fördert ungewollt auch der deutsche
Staat. Dass Deutschland an den Nato-Part-
ner Türkei Waffen liefert, verbittert viele
Kurden. Und wenn die deutsche Justiz
gegen Demonstranten vorgeht, die ver-
botene PKK-Fahnen schwenken, dann
schwächt das keineswegs die Stellung der
PKK. Im Fokus der Justiz stehen auch Deut-
sche, zum Beispiel der Münchner Politik-
wissenschaftler Kerem Schamberger. Mut-
ter Deutsche, Vater Türke, Schamberger
selbst Kommunist und Aktivist für die kur-
dische Sache. Er ist von der Staatsanwalt-
schaft München angeklagt, weil er Zeichen
der YPG gezeigt hat, jener Kurden-Miliz,
die an der Seite der USA gegen das Terrorre-
gime des „Islamischen Staates“ gekämpft
hat. Auch so etwas dürfte die Solidarität in
der prokurdischen Community stärken.

Kenan Engin, Politikwissenschaftler an
der privaten Akkon-Hochschule in Berlin,
selbst Kurde, schätzt, dass 60 bis 70 Pro-
zent der Kurden in Deutschland mit der
PKK sympathisieren, aktiv oder passiv.
Und ja, sagt er, dass sich der Konflikt auf
Deutschland auswirke, „damit rechne ich“.
Gerade dann, wenn Kurden auf Türken
treffen – wie am Montag in Herne gesche-
hen: 350 Kurden zogen an einem türki-
schen Café vorbei, von dort flog offenbar ei-
ne Flasche, so die Polizei, woraufhin einige
Kurden in das Lokal stürmten. Scheiben
und Mobiliar gingen zu Bruch, fünf Men-
schen seien verletzt worden. Bundesweit
aber blieben die meisten Demos friedlich.
„Hilfreich“, sagt Engin, sei immerhin,
dass die Bundesregierung den Einmarsch
verurteile und weitere Waffenlieferungen
erst mal nicht mehr genehmige. Das lasse
bei Kurden das Gefühl entstehen,
„Deutschland ist auf unserer Seite“. Nun
wünscht sich Engin, dass der Staat bei den
aktuellen Demos sensibel agiere: Am bes-
ten wären Sicherheitskräfte, die „mit inter-
kultureller Kompetenz“ die Proteste beglei-
ten. Bloß keine unnötige Provokation.
Auch wenn das Zeigen bestimmter Flag-
gen und Fotos des PKK-Führers Abdullah
Öcalan verboten sei: Klüger wäre es, der-
zeit ein paar Augen zuzudrücken, um Eska-
lationen zu vermeiden, sagt Engin. Aufpas-
sen sollten die Behörden auch, wo die Kur-
den protestieren. Eine Demo durch Berlin-
Kreuzberg, wo viele Türken wohnen, sagt
Engin, wäre keine gute Idee.

Hongkong–Die Hongkonger Regie-
rungschefin Carrie Lam ist am Mitt-
woch in der Regionalvertretung nieder-
geschrien worden. Die 62-Jährige(FO-
TO: BLOOMBERG)musste ihre Regierungser-
klärung zweimal abbrechen, weil prode-
mokratische Abgeordnete dazwischen
riefen, Gesänge anstimmten und Pro-
testplakate hochhielten. Lam verließ
den Sitzungssaal. Nach mehr als einer
Stunde trug sie ihre Regierungserklä-
rung per Video vor. Hongkong wird seit
mehr als vier Monaten von prodemokra-
tischen Protesten bestimmt. Die De-
monstranten fordern unter anderem
ein umfassendes Wahlrecht und eine


unabhängige Untersuchung von Polizei-
gewalt. Die einst angesehene Polizei der
Sonderverwaltungszone ist wegen ihres
Tränengaseinsatzes schwer in Misskre-
dit geraten. Lam sagte, Hongkong erle-
be eine „große Krise“ und die Men-
schen fragten sich, ob Hongkong jemals
wieder „normal wird“. Geschäftsleute
seien zutiefst besorgt wegen der Protes-
te. Sie beendete ihre Ansprache mit
einem Aufruf zum Zusammenhalt. „Wir
müssen unsere Differenzen hintanstel-
len und aufhören, uns gegenseitig anzu-
greifen“, sagte Lam. ap  Seite 4


Berlin– Wie wirkungsvoll die Ankündi-
gung von Außenminister Heiko Maas
(SPD) ist, wegen der Militäroperation in
Nordostsyrien Rüstungsexporte in die
Türkei teilweise zu stoppen, ist in Berlin
umstritten. Eines aber hat Maas erreicht:
Der reizbare türkische Präsident Recep
Tayyip Erdoğan ist verärgert. „Da kommt
der deutsche Außenminister – ein Mann,
der seine Grenzen nicht kennt – und sagt:
‚Wir werden der Türkei keine Waffen ver-
kaufen‘“, wird Erdoğan von türkischen
Medien zitiert. „Wir sind am Ende“, soll Er-
doğan sodann gespottet haben. Verlieren
werde dadurch Deutschland. Maas sei ein
„Dilettant“. Den Deutschen ließ er wissen:
„Wenn du etwas von Politik verstehen wür-
dest, würdest du nicht so sprechen.“
Das sei keine Wortwahl, „die wir uns
gefallen lassen“, kommentierte das der
Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul
(CDU). Erdoğans Worte entsprechen aller-
dings vermutlich in einer Hinsicht den Tat-
sachen: Die Ankündigung aus Berlin hat in
Ankara keinen großen Eindruck gemacht.
Und das, obwohl Deutschland durchaus
ein bedeutender Waffenlieferant für die
Türkei ist. Der Rüstungsexportbericht der
Bundesregierung für 2018 verzeichnet das
Land mit einem Volumen von knapp
243Millionen Euro als wichtigsten Abneh-
mer deutscher Waffen. Entscheidend für
die Türkei ist, dass bereits genehmigte Lie-
ferungen von dem angekündigten Stopp
nicht betroffen sind. Lediglich neue Ge-
nehmigungen für den Export von Waffen,
die in Syrien eingesetzt werden könnten,
sollen nicht erteilt werden.
Eine wirklich neue Lage entsteht da-
durch wohl nicht, denn schon seit der türki-
schen Militäroffensive auf das syrisch-kur-
dische Afrin Anfang 2018 nimmt die
Bundesregierung für sich in Anspruch, re-
striktiv mit Exportgenehmigungen für die
Türkei umzugehen. Wie die nach wie vor
hohen Erlöse zustande kommen, schlüs-
selt der Rüstungsexportbericht zwar nicht
auf. Sie dürften aber vor allem auf die
Lieferung von Bauteilen für U-Boote der
Klasse 214 zu tun haben, die von Thyssen-
Krupp in der Türkei gefertigt werden.
Im Wirtschaftsausschuss des Bundesta-
ges stellte Wirtschaftsstaatssekretär Tho-
mas Bareiß (CDU) am Mittwoch überdies
klar, dass die Ankündigung von Maas
bisher nicht auf einem Beschluss der
Bundesregierung fußt. Zunächst seien das
„Worte“ des Außenministers, zitieren
Abgeordnete den Staatssekretär. Abge-
stimmt dürfte der Vorstoß von Maas aller-
dings durchaus sein. Er entspricht einer Li-
nie mit begrenztem Risiko, die auch einen

handfesten finanziellen Hintergrund hat.
Zöge die Bundesregierung die Genehmi-
gungen zurück, müsste sie die betroffenen
Firmen entschädigen. Auch aus diesem
Grund achteten deutsche Diplomaten sehr
genau auf die Wortwahl einer Erklärung,
die am Montag von den EU-Außenminis-
tern in Luxemburg verabschiedet worden
ist. „Wir möchten nicht, dass der Eindruck
erweckt wird, dass bereits erteilte Geneh-
migungen zurückgezogen werden, mit Ent-
schädigung durch die BuReg“, heißt es in
einer internen Weisung, über die zunächst
Bild.deberichtet hatte. Ein regelrechtes EU-
Waffenembargo stand in Luxemburg ohne-
hin nicht auf der Agenda – ebenso wenig
wie wirtschaftliche Sanktionen wie sie die
USA verhängt haben.

Beim EU-Gipfel an diesem Donnerstag
und Freitag soll nun über weitere Reaktio-
nen auf die türkische Offensive gespro-
chen werden – allerdings wohl ebenfalls
nicht über Wirtschaftssanktionen. Das
Thema gebe es „bisher jedenfalls auf der
europäischen Agenda nicht“, hieß es aus
der Bundesregierung. Hier aber wäre die
Türkei durchaus verwundbar, weshalb die
Opposition in Berlin etwa fordert, keine
Investitionsgarantien mehr im Türkei-Ge-
schäft zu erteilen. Nach einem Bericht des
Wirtschaftsministeriums an den Bundes-
tag laufen derzeit 45 Investitionsgarantien
im Wert von 740 Millionen Euro. Man wer-
de angesichts der „aktuellen Entwicklun-
gen weitere Maßnahmen der wirtschaftli-
chen Zusammenarbeit sorgfältig prüfen“,
heißt es vage. „Makaber“ nennt das der Lin-
ken-Abgeordnete Pascal Meiser. Ungeach-
tet eines völkerrechtswidrigen Krieges mit
katastrophalen humanitären Folgen wolle
das Bundeswirtschaftsministerium „im
wahrsten Sinne des Wortes ‚business as
usual‘ betreiben“. daniel brössler

Streit um Sommerferien


Zorn ohne Grenzen


Erdoğans Syrien-Feldzug eint die Kurden in Deutschland, ob PKK-Anhänger
oder nicht. Ihr Verhältnis zu den Türken droht noch schwieriger zu werden

Proteste stoppen Lams Rede


Erdoğan verspottet Maas


DerTeilstopp deutscher Rüstungsexporte lässt die Türkei kalt


Berlin– Mit antisemitischen und anti-
muslimischen Twitter-Äußerungen
nach dem Anschlag von Halle hat der
AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan
Brandner Empörung ausgelöst. Politi-
ker aller anderen Parteien distanzierten
Brandner sich auf Schärfste vom Vorsit-
zenden des Bundestags-Rechtsaus-
schusses. Im Namen ihrer Kollegen von
Union, SPD, FDP, Linken und Grünen
schrieb die grüne Ausschuss-Obfrau
Manuela Rottmann an Brandner, er
habe „auf abstoßende Weise“ den An-
schlag auf Mitglieder der jüdischen
Gemeinschaft verniedlicht. Damit sei
„eine Grenze überschritten“. Der AfD-
Politiker hatte in einem Tweet den jüdi-
schen Publizisten Michel Friedman
verunglimpft und einen weiteren Tweet
verbreitet, in dem gefragt wurde, war-
um Politiker nach dem Anschlag „mit
Kerzen in Moscheen und Synagogen
rumlungern“. sz


Paris– Die französischen Nationalver-
sammlung hat mit deutlicher Mehrheit
das lange diskutierte neue Bioethik-Ge-
setz angenommen. 359 Abgeordnete
stimmten am Dienstagabend dafür, 114
dagegen, 72 enthielten sich. Umstrit-
tenster Bestandteil der Neuregelungen
ist, dass künftig alle Frauen eine künstli-
che Befruchtung in Anspruch nehmen
können – also auch Alleinerziehende
oder in gleichgeschlechtlicher Bezie-
hung Lebende. Präsident Emmanuel
Macron hatte „künstliche Befruchtung
für alle“ bereits im Wahlkampf als Ziel
genannt. Kirchliche und konservative
Kreisen lehnen sie vielfach ab. In Paris
demonstrierten Zehntausende gegen
das Gesetz. Im Januar entscheidet noch
Frankreichs Senat darüber. sz


München– Die Mitteilung des Weißen
Hauses ist selbstgewiss im Indikativ abge-
fasst: Vizepräsident Mike Pence werde ei-
ne hochrangige US-Delegation anführen,
die mit dem türkischen Präsidenten Recep
Tayyip Erdoğan über „eine sofortige Waf-
fenruhe und die Bedingungen für eine Ver-
handlungslösung“ in Nordsyrien reden
soll. Zu Pence’ Gefolge gehören Außen-
minister Mike Pompeo, zudem Robert
O’Brien, der Sicherheitsberater von Präsi-
dent Donald Trump, und der Sonderge-
sandte für Syrien, James Jeffrey. Sie alle
allerdings will Erdoğan nicht sehen. Sie
könnten an diesem Donnerstag alle ihre
jeweiligen Kollegen treffen, ließ der türki-
sche Staatschef im Interview trotzig wis-
sen. „Wenn Trump kommt, dann werde ich
mit ihm reden“, sagte er dem Sender Sky
News. Einen für November geplanten Be-
such im Weißen Haus stellte Erdoğan infra-
ge, weil die Debatten im US-Kongress über
„meine Person, meine Familie und meine
Minister-Freunde sehr respektlos“ seien.
Am Mittwochnachmittag ruderte Erdo-
ğan doch noch zurück, zu groß wäre der Af-
front wohl gewesen. Er werde Pence und
Pompeo empfangen. Aber die Episode illus-
triert, wie schlecht das Verhältnis der Tür-
kei zu den USA ist. Erdoğan fühlt sich offen-
kundig betrogen. Er war aus seinem Telefo-
nat mit Donald Trump mit dem Eindruck
herausgegangen, der Präsident habe den
Einmarsch der Türkei in die kurdisch kon-
trollierten Gebiete zumindest stillschwei-
gend gebilligt – was Trumps Hintersassen
vehement bestreiten, seit in Washington
parteiübergreifend ein Aufstand gegen
Trumps Syrien-Politik ausgebrochen ist.
Trump beschrieb die Lage im Norden Sy-
riens bei der türkischen Militäroffensive
als eingedämmt. Die Dinge seien „sehr
schön unter Kontrolle“, sagte er in Wa-
shington. Trump verteidigte seine Ent-
scheidung, US-Soldaten aus der syrischen
Grenzregion zu ziehen und er forderte die
Regierung in Ankara zu konstruktiven Ver-
handlungen mit seinem Stellvertreter
Pence über einen Waffenstillstand auf.
Trump sagte, sollte das Treffen nicht gut
verlaufen, werde er Sanktionen verhän-
gen. Die verbotene kurdische Arbeiterpar-
tei PKK sei aus seiner Sicht wahrscheinlich
eine größere terroristische Bedrohung als
die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). „Die
PKK, die – wie Sie wissen – Teil der Kurden
ist, ist vermutlich in vielerlei Hinsicht
schlimmer beim Terror und eine größere
terroristische Gefahr als der IS“.
Erdoğan hatte den USA ein Ultimatum
gestellt, Trump hatte sich gefügt, so die
Sichtweise in Ankara. Und nun kommen

wieder jene, die in den vergangenen Mona-
ten die Türkei hingehalten haben, die ver-
suchten, mit einem Sicherheitsmechanis-
mus und anderen Dingen die Invasion zu
verhindern. Nun wollen sie Trumps angeb-
liche Zusage rückabwickeln, Washington
verhänge Sanktionen. Und Erdoğan sagt,
er könne Trumps Tweets nicht mehr nach-
vollziehen. Dessen abrupte, nicht abge-
stimmte Entscheidung zum Truppenrück-
zug hat den Zusammenbruch der amerika-
nischen Syrien-Diplomatie zur Folge.

Der Einladung des russischen Präsiden-
ten Wladimir Putin dagegen zu einem Ar-
beitsbesuch „in den kommenden Tagen“
werde Erdoğan folgen, gibt der Kreml be-
kannt. Mit Russland wird die Türkei sich
notgedrungen arrangieren müssen. Neben
den Truppen des Assad-Regimes rückten
in Manbidsch nach dem Abzug der USA
auch russische Militärpolizisten ein. Sie
fahren Patrouillen, und selbst die syri-
schen Milizen im Schlepptau der türki-
schen Armee wagen es nicht, sie oder die in
der Stadt weiter präsenten Einheiten der
kurdischen YPG-Milizen anzugreifen. Die-
se aus Manbidsch zu entfernen, verlangte
Erdoğan nun aber auch von Russland.
Erdoğan verkündet, dass eine Waffenru-
he nicht infrage komme, solange die türki-
sche Militäroperation ihr Ziel nicht er-

reicht habe. Die Kurden müssten sich von
der Grenze zurückziehen und ihre Waffen
niederlegen , verlangte er. Verhandlungen
mit den „Terroristen“ lehnte er ab.
Einen Rückzug der kurdischen Milizen
aber auch nicht, wie deren Anführer deut-
lich machen. Zwar haben sich die Kurden
nach einer von der Regierung in Damaskus
veröffentlichten Erklärung Präsident Ba-
schar al-Assad unterstellt und eingewil-
ligt, ihre Einheiten in die Armee einzuglie-
dern. Von einem Abzug ist in der von Russ-
land vermittelten Erklärung keine Rede.
Tatsächlich stockt die türkische Offensi-
ve in Manbidsch, nachdem dort russische
Soldaten eingerückt sind, wie jetzt auch in
Kobanê. In anderen Gebieten entlang der
Grenze gingen die Gefechte weiter, jedoch
ohne dass die türkischen Truppen oder die
mit ihnen verbündeten syrischen Milizen
nennenswerte Geländegewinne erzielten.
Schwere Kämpfe gab es vor allem um die
Grenzstädte Ras al-Ain und Tel Abjad. Laut
den UN mussten 160 000 Menschen vor
den militärischen Auseinandersetzungen
fliehen. Auch Russland ist offenkundig
nicht bereit, eine dauerhafte türkische Ok-
kupation in Nordsyrien zu akzeptieren.
Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow sagte,
Moskau respektiere das Recht der Türkei,
Maßnahmen zu ergreifen, um die eigene Si-
cherheit zu gewährleisten. Die Operation
müsse aber „in Verhältnis zu diesem Ziel“
stehen. Sie dürfe nicht Russlands Bemü-
hungen für „einen Prozess zur politischen
Beilegung“ des Bürgerkriegs in Syrien ge-
fährden. paul-anton krüger

6 HMG (^) POLITIK Donnerstag, 17. Oktober 2019, Nr. 240 DEFGH
Eine Kurden-Demonstration
durch Berlin-Kreuzberg?
Keine gute Idee
Flaggen der als Terrorgruppe eingestuften PKK sind in Deutschland verboten, die Fahnen der Volksverteidigungseinhei-
tenYPG in Syrien sind meist erlaubt: Hier schwenken Demonstranten sie am Samstag in Hamburg. FOTO: AXEL HEIMKEN / DPA
Vor allem Bauteile für U-Boote der Klasse
214 werden in die Türkei geliefert. FOTO: YNA
Syrische Familien fliehen aus der umkämpften Stadt Ras al-Ain an der Grenze zur
Türkei und fahren ins Landesinnere. FOTO: DELIL SOULEIMAN/AFP
Das „Personenpotenzial“ der PKK
liegt laut Verfassungsschutz
bei 14500 Menschen
Einen Rückzug der kurdischen
Milizen werde es nicht geben, das
machen die Anführer deutlich
Empörung über AfD-Mann
Für das neue Bioethik-Gesetz
KURZ GEMELDET
Affront abgewendet
Erstnein, dann ja: Erdoğan will nun doch US-Vizepräsident Pence empfangen

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