Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1

Riace – Der Geruch von Chlorbleiche
hängt in jeder Gasse, beißend scharf. Das
Reinigungsmittel soll alles rausputzen,
den Staub eines ganzen Jahres, auch die
Enttäuschungen. Aus einem alten Radio in
der Bar Gervasi am Hauptplatz tönt „Smo-
ke on the Water“ von Deep Purple, wenn
das Gerocke nur nicht die Betenden in der
Kirche gegenüber stört. Riace wacht auf,
wie aus einem miesen Traum. Das kalabri-
sche Dorf, an einen Hügel über dem Ioni-
schen Meer gebaut, war ein Jahr in allen
Nachrichten, immer wieder, es war Spiel-
ball der nationalen Politik geworden. Nun
sucht es den Weg zurück in die Normalität.
Gleich kommt Domenico Lucano, der
frühere Bürgermeister, den sie alle nur
„Mimmo“ rufen. Er biegt mit seinem Wa-
gen in die Via Garibaldi ein, ziemlich
schnell fährt er durch den schmalen, bun-
ten Holzbogen, der von einer anderen Zeit
kündet. „Villaggio Globale“, steht darauf,
Weltdorf. „Wir müssen wieder Hoffnung
stiften“, sagt er beim Aussteigen. Er wird
umschwärmt von Anhängern und Bittstel-
lern, fasst sich an den Rücken und verzieht
das Gesicht. Er könne kaum stehen. Wahr-
scheinlich hat er einfach keine Lust auf das
Interview, mit Reportern ist Lucano immer
etwas schnippisch. „Der Rücken!“ Dann
lacht er und redet sturzbachartig.
Mimmo Lucano, 61, Aktivist und Idea-
list, ist Erfinder des „Modello Riace“, eines
einst gefeierten Integrations- und Entwick-
lungsprojekts. Vergangenes Jahr wurde er
auch im Ausland berühmt, über Nacht ge-
wissermaßen. Dafür sorgte Matteo Salvini,
Italiens damaliger Innenminister. Der hat-
te ihn zum Gegenspieler erkoren. Salvini
nannte Lucano eine „totale Null“. Bei allen
Auftritten beschimpfte er ihn, wie er es mit
Carola Rackete tat, der Kapitänin derSea
Watch 3: ungehalten, unministerial. Auch
Lucano nannte er einen linken Gutmen-
schen. Nach Salvinis Verständnis sind Gut-
menschen Schwerverbrecher.


Ein Jahr lang ist Lucano nun weggewe-
sen. Die Justiz verbot ihm sogar, den Bo-
den seiner Gemeinde zu betreten, er durfte
nicht einmal seinen todkranken Vater besu-
chen. Erst vor einigen Wochen hob sie die
Verfügung auf, und niemand in Riace ist
überrascht, dass der Entscheid mit Salvi-
nis Sturz in Rom zusammenfiel. Auf den
Tag genau. „Ja, Salvini ist weg, eine große
Veränderung habe ich aber noch nicht gese-
hen“, sagt Lucano. Dessen Immigrationsde-
krete? Sind immer noch in Kraft. „Nur das
allgemeine politische Klima ist etwas bes-


ser geworden, sagen wir mal: die Grund-
stimmung.“
Das Verfahren gegen Lucano in Reggio
Calabria, Hauptort der Provinz, läuft wei-
ter. Es handelt von angeblichem Amtsmiss-
brauch und Begünstigung illegaler Einwan-
derung. Das klingt schwerwiegender, als
es ist. Beim Amtsmissbrauch geht es dar-
um, dass Lucano die Müllabfuhr ohne Aus-
schreibung den einzigen beiden Kooperati-
ven zuschlug, die dafür in Frage kamen. Ei-
ne von ihnen brachte den Abfall mit einem
Esel weg. Begünstigung unerlaubter Ein-
wanderung wirft man ihm vor, weil er fikti-
ve Ehen geschlossen haben soll, eine oder
zwei, damit man die Migranten nicht aus-
weisen konnte. Lucano hielt sich an die De-
vise: Gerechtes Handeln folgt nicht immer
jedem Komma des Gesetzes. Das macht
ihn angreifbar, und mit ihm sein Modell.
Geboren wurde das „Modello Riace“ vor
zwanzig Jahren. Das Dorf starb damals
langsam vor sich hin, wenigstens „Riace So-
pra“, der Dorfteil oben am Hang. Riace Ma-
rina dagegen, sieben Kilometer entfernt,
der Gemeindeteil unten an der Küste,
konnte sich mit dem Sommertourismus
über Wasser halten. Lucano hatte die Idee,
die verfallenden Häuser Weggezogener
oben neu zu nutzen und Zuwanderern zu
geben. Sie sollten sie umbauen und bewoh-
nen. Sie sollten Leben ins Dorf bringen. Lu-
cano rief jeden Hausbesitzer persönlich
an: in Kanada, Australien, Argentinien. Al-
le willigten ein. „Nicht einer sagte Nein.“
Von 2004 bis 2018, der Amtszeit Luca-
nos, zogen Hunderte Migranten nach Ria-
ce, in das Villaggio Globale. Die ersten wa-
ren Kurden, sie kamen mit einem Segel-

schiff in Riace Marina an, man nahm sich
ihrer an. Seither nennt man Lucano im ka-
labrischen Dialekt auch „Mimmo u curdu“.
Die neuen Bewohner arbeiteten in Werk-
stätten, Backstuben, Bars, einer Osteria, al-
les neu gegründet. Öffentliche Subventio-
nen finanzierten die Projekte. Statt Tages-
pauschalen erhielten die Menschen Gut-
scheine, mit denen sie in den Geschäften
des Dorfes einkaufen konnten, nur da.

Riace galt bald als Beweis, dass das Zu-
sammenleben, wenn es breit getragen und
durchdacht ist, nicht nur reibungslos funk-
tionieren kann, sondern obendrein auch
ein Dorf vor dem Tod rettet. „Sie hätten vor
zehn, fünfzehn Jahren herkommen sol-
len“, sagt der Barista im Gervasi, der keines-
falls über Politik sprechen mag. „Damals
war das Dorf voller Menschen aus aller
Welt, prall mit Leben, und alle waren be-
schäftigt – auch wir Einheimischen.“ Zu
den besten Zeiten war ein Viertel der Be-
wohner von Riace zugewandert: 600 von


  1. Lucano empfing Bürgermeister aus
    anderen Regionen Italiens und anderen
    Ländern. Alle wollten den Erfolg studieren.
    Dann drehte der Wind. Nicht nur in Itali-
    en, aber in Italien mit besonderer Vehe-
    menz. Salvinis scharfe Rhetorik gegen die
    Migranten und ihre Helfer verfing auch in
    Riace, wenigstens in Riace Marina, und
    dort leben zwei Mal so viele Wähler wie in
    Riace Sopra. Neuer Bürgermeister wurde


Antonio Trifoli, einer von unten. Er gehört
zwar nicht der Lega an, doch die trug ihn
mit. „Riace geht an die Lega“, schrieben die
nationalen Zeitungen. Damit, so hörte sich
das an, war der Triumph von Lega-Chef Sal-
vini perfekt: Sogar Riace war gefallen.
Die meisten Migranten zogen weg, nur
fünf Familien blieben. Die Projekte schlos-
sen, eins nach dem anderen: die Nähstube
„Herat“, die Töpferei „Kabul“, die Bäckerei
„Alice“. Bis gar nichts mehr da war. Lucano
erhielt zwar Auszeichnungen im Ausland.
Doch daheim, unter der Propaganda Salvi-
nis, fragten sich nun viele, ob das vielleicht
gar nicht so toll war, was er geleistet hatte.
Die Ermittler suchten unterdessen nach
versteckten Bankkonten, nach abgezweig-
ten Subventionen, doch sie fanden nichts.
Lucano hatte nichts gestohlen, nichts
unterschlagen. „Das ärgerte sie ganz be-
sonders“, sagt er. „Mit Idealismus können
sie nichts anfangen.“ Dann warfen sie Luca-
no vor, er habe in die große Politik gewollt,
ins Europaparlament. Dabei habe er die An-
gebote der Linken für eine Kandidatur ab-
gelehnt. „Am Ende“, sagt Lucano, „spre-
chen sie mich wahrscheinlich frei. Es ging
nur darum, das Modell zu zerstören.“ Den
Idealismus, die Solidarität. Das sei auch
Matteo Salvinis Plan gewesen. Bis zum
Sommer jedenfalls, bis er über seine All-
machtsfantasie stolperte und sich selbst
von der Macht wegputschte. Lucanos Nach-
folger Antonio Trifoli wiederum, der Mann
mit dem Draht zur Lega, so erfährt man
jetzt, war gar nicht wählbar. Sein Stellver-
treter regiert das Dorf provisorisch, alles
ist im Fluss.
Darum riecht es nach Chlorreiniger in
den Gassen von Riace. Im Atelier mit den
Webstühlen etwa, wo zwei Pakistanerin-
nen auf die Wiederaufnahme der Arbeit
warten. Eine von ihnen kommt aus Kasch-
mir. Sie heißt Rafia, ist 30 und lebt hier seit
fünf Jahren mit ihrem Mann und ihren
zwei kleinen Kindern. „Mimmo“, sagt sie,
„hat uns eine Wohnung und eine Arbeit ge-
funden.“ Ihre Kinder gehen jetzt in Riace
Marina zur Schule. Oben, in Riace Sopra,
gibt es keine Schule mehr. In der Backstu-
be „Alice“ steht eine junge Syrerin und war-
tet, Lucano wird gleich auch bei ihr vorbei-
schauen. Er ist ihr Auferstehungshelfer,
der Hoffnungsritter. „Jetzt, wo wir nicht
mehr im Rathaus sitzen, ist es sogar einfa-
cher geworden“, sagt er. Sie müssten sich
nicht mehr ständig rechtfertigen für alles.
Finanziert wird die Renaissance von der
Stiftung „Riace Città Futura“, mit Spenden-
geld also, und davon läuft auch aus dem
Ausland reichlich rein. Gerade wegen der
Ideen, der Solidarität. „Heute morgen ha-
ben wir Spielzeug für den Kindergarten ge-
kauft.“ Es ist ein Anfang, ein sachtes Erwa-
chen. oliver meiler

von nadia pantel

Toulouse–Wenn es in der Gegenwart we-
nig zu bejubeln gibt, hilft es auf eine erfolg-
reiche Vergangenheit zu verweisen und
den in der Zukunft bevorstehenden Auf-
bruch. Für die deutsch-französische Zu-
sammenarbeit symbolisiert Airbus beides
recht eindrücklich. „Aus einer weisen Idee
unserer Vorgänger ist eine weltweit aner-
kannte Firma geworden,“ sagte die deut-
sche Bundeskanzlerin Angela Merkel am
Mittwoch, nachdem sie mit Frankreichs
Präsident Emmanuel Macron das Werk
des Flugzeugbauers in Toulouse besucht
hatte. Sie trafen sich im Rahmen des 20.
deutsch-französischen Ministerrats in der
südfranzösischen Stadt und sprachen mit
Arbeitern des Airbuswerks, dem erfolg-
reichsten gemeinsamen Industrieprojekt.
Die Botschaft: Wenn Frankreich und
Deutschland zusammenarbeiten, profitie-
ren beide auch wirtschaftlich.


Airbus soll auch das nächste deutsch-
französische Großprojekt stemmen: das
Luftkampfsystem FCAS. Beschränkt man
sich auf technische Details, ergänzen sich
Frankreich und Deutschland beim Waffen-
bau wunderbar. Die französische Firma
Dassault wird für die Entwicklung von
Drohnen, Satelliten und Fernsteuerung zu-
ständig sein, Airbus für den Bau der Flug-
zeuge. Eingesetzt werden soll sie von 2040
an. Soweit die Pläne für die Zukunft.
Doch Merkel und Macron stehen in Tou-
louse nicht nur in einer imposanten Ferti-
gungshalle neben Flugzeugen, die, wie der
Beluga, so groß sind, dass sie wiederum
ganze Flugzeuge verschlucken können. Sie
befinden sich auch an einem der Orte, der
illustriert, wie kompliziert es im Detail ist,
das deutsche und das französische System
miteinander in Einklang zu bringen. Waf-
fen werden produziert, um sie zu nutzen.
Nur von wem und gegen wen? Die Frage
des Waffenexportes wird in Paris und Ber-
lin sehr unterschiedlich bewertet. In
Deutschland kann das Parlament verhin-
dern, dass bestimmte Länder mit Waffen
beliefert werden, in Frankreich ist das
nicht vorgesehen. Zudem sind in der Bevöl-
kerung die Vorbehalte deutlich geringer.
In Toulouse wird nun ein Kompromiss
präsentiert, der nicht nur für gemeinsam
produzierte Waffen gilt, sondern auch für
Waffen, zu dem Produzenten des einen
Landes dem des anderen Landes zuliefern.
Die Regelung wird Konflikte nicht vermei-
den, doch sie wird dem Streit einen Rah-
men geben. Wer Bedenken hat, soll Konsul-
tationen einfordern können. Der Beden-
kenträger dürfte meistens Deutschland
sein, so wie jüngst beim Ringen um Rüs-
tungsexporte nach Saudi-Arabien. Paris
wollte nach dem Mord an dem regimekriti-
schen Journalisten Jamal Khashoggi wei-


ter liefern, Berlin nicht. Die neue Regelung
sieht vor, dass bei französischen Rüstungs-
produkten, zu denen Deutschland zulie-
fert, der Zulieferer nur dann beim Export
mitsprechen darf, wenn 20 Prozent des fer-
tigen Produktes zugeliefert wurden.
Das rechtlich bindende Abkommen zu
Rüstungskooperation ist Teil der „Erklä-
rung von Toulouse“, die die Ergebnisse des
Ministerrats zusammenfasst. Deutsch-
land und Frankreich haben sich darauf ge-
einigt, bis 2050 ihren CO2-Ausstoß so dras-
tisch reduzieren zu wollen, dass sie Karbon-
neutralität erreichen. Zu den Maßnahmen,
die dies ermöglichen sollen, gehört die Ein-
führung eines Mindestpreises von Co2 im
europäischen Emissionshandel. Die Erklä-
rung von Toulouse enthält auch den Ver-
such, die Versprechen des Aachener Vertra-
ges in Aktionen zu übersetzen. Im Januar
hatten Merkel und Macron dort einen
Freundschaftsvertrag unterzeichnet, der

eine Neuauflage des Élyséevertrags dar-
stellt. Zu den Ankündigungen gehörte die
Schaffung eines deutsch-französischen
Wirtschaftsrats, der kommende Woche sei-
ne Arbeit aufnehmen soll. Merkel hob die
Fortschritte hervor, die Innenminister
Horst Seehofer und sein Amtskollege
Christophe Castaner beim Thema Reform
der Migrationspolitik gemacht hätten. Bei-
de Länder würde die Europäische Kommis-
sion „ermutigen“, eine „vollwertige Euro-
päische Asylbehörde vorzuschlagen“.
Paris gibt sich aktuell sanftmütig, was
das Verhältnis zu Berlin betrifft. Vor der Eu-
ropawahl im Mai hatte Macron noch die Un-
stimmigkeiten zwischen ihm und Merkel
betont, um die französischen Wähler zu
überzeugen, dass er eine progressive Kraft
sei, die sich gegen die behauptete deutsche
Bequemlichkeit stelle. In Toulouse sagte
er, nicht das Verhältnis zwischen ihm und
Merkel sei „kompliziert“, sondern die Welt-

lage. „Wenn es nur uns gäbe, wären die Din-
ge sehr einfach und würden sehr schnell
vorangehen“. Bei internationalen Themen
betonten Merkel und Macron ihre Einig-
keit, so wie schon bei ihrem Arbeitsessen
in Paris am Sonntagabend. Sie verurteilten
gemeinsam die „türkischen militärischen
Aktivitäten im Nordosten Syriens“. Über
den Brexit sagte Merkel, dass sie „an ein
Abkommen glaube“.
Wie unterschiedlich Frankreich und
Deutschland dennoch auch jenseits von
Fragen der Rüstungsexporte funktionie-
ren, hatte sich vergangene Woche gezeigt.
Die Abgeordneten des EU-Parlaments hat-
ten Sylvie Goulard, Frankreichs Kandida-
tin für die EU-Kommission, durchfallen
lassen. Paris reagierte empört, und Ma-
cron stellte fest, dass er „nicht versteht“,
wie das passieren konnte. Goulard war
2017 von ihrem Amt als Verteidigungsmi-
nisterin zurückgetreten, weil sie in eine Af-

färe um Scheinbeschäftigung verwickelt
gewesen war. Für ein Spitzenamt in der EU
sei das kein Hindernis, urteilte sie, es sei
schließlich nie ein Verfahren eröffnet wor-
den. Die Irritation im Élysée bezieht sich
nun nicht nur auf das Scheitern Goulards.
Macron scheint erwartet zu haben, dass es
die Aufgabe der zukünftigen Kommissi-
onspräsidentin Ursula von der Leyen sei,
die Abgeordneten der konservativen EVP
zur Unterstützung Goulards zu verpflich-
ten. Der frühere französische EU-Parla-
mentsabgeordnete Jean-Louis Bourlanges
von der Partei MoDem, die mit Macron koa-
liert, stellte beim Radiosender Franceinter
fest: „Ich weiß nicht, warum der Präsident
das nicht versteht, aber wir haben einigen
Anlass, nicht zu verstehen, warum der Prä-
sident das nicht versteht.“ Einfacher ausge-
drückt: Die Regeln einer parlamentari-
schen Demokratie sind Frankreichs Präsi-
denten manchmal eher fremd.  Seite 4

Washington–Die entscheidende Frage
stellte der Moderator von CNN erst nach
mehr als zweieinhalb Stunden: Revolution
oder Evolution? Soll der Präsidentschafts-
kandidat der US-Demokraten, der gegen
Donald Trump antreten wird, für große Plä-
ne einstehen, für einen tief greifenden
Wandel in Politik und Wirtschaft? Oder für
kleinere Schritte, die sich eher umsetzen
lassen? Bei ihrer vierten TV-Debatte in der
Nacht zum Mittwoch war es diese Frage,
die das Bewerberfeld der Demokraten spal-
tete – besonders ihr führendes Trio.
Auf der Seite der selbst ernannten Revo-
lutionäre stehen die Senatoren Elizabeth
Warren und Bernie Sanders, auf der ande-
ren der frühere Vizepräsident Joe Biden.
Nicht für alle endete der Abend gleich gut.
Für die größte Überraschung sorgte
Sanders. Erst vor zwei Wochen war der
78-Jährige mit einem Herzinfarkt in ein
Krankenhaus eingeliefert worden, musste
seine Wahlkampfauftritte absagen. Weil er
in den Umfragen schon an Boden gegen-
über Warren verloren hatte, mit der er um
die Wähler des linken Flügels kämpft, hat-
ten viele ihn bereits abgeschrieben.

In der Debatte machte Sanders aller-
dings einen erstaunlich fitten Eindruck.
„Ich fühle mich großartig“, sagte er auf die
Frage einer Moderatorin. Sie solle doch zu
seiner Wahlkampfveranstaltung kom-
men, die er demnächst in New York abhal-
te. Da könne sie sich von seiner Stehkraft
überzeugen. „Es wird da auch einen beson-
deren Gast geben“, kündigte Sanders an.
Noch während die Debatte im Fernsehen
lief, sickerte über dieWashington Post
durch, um wen es sich bei diesem „beson-
deren Gast“ handelt: Alexandria Ocasio-
Cortez, die junge Kongressabgeordnete
aus New York, die in kurzer Zeit eine der
einflussreichsten Stimmen des linken
Flügels geworden ist. Dass sie Sanders nun
ihre Unterstützung ausspricht, obwohl das
Rennen der Demokraten noch offen ist,
war nicht erwartet worden. Für Sanders ist
es ein Wahlkampfgeschenk.
Die Debatte war aber auch ein Beleg
dafür, dass Warren inzwischen bei vielen
Demokraten als Spitzenreiterin gilt. Sie
sprach von allen zwölf Kandidaten auf der
Bühne am längsten, gegen sie richteten
sich die meisten Angriffe ihrer Konkurren-
ten, und es waren ihre Vorschläge aus dem
Wahlkampf, die in der Diskussion aus-
giebig verhandelt wurden: die Vermögen-
steuer für Superreiche, die Zerschlagung
der Technologiekonzerne, die Einführung

einer öffentlichen Krankenversicherung.
Nicht immer sah Warren dabei gut aus.
Doch indem die anderen Demokraten über
ihre Pläne sprachen, gab die ehemalige
Harvard-Professorin auch dann die The-
men vor, wenn sie selbst gar nicht redete.
Es war natürlich Biden, der Warren und
Sanders dafür kritisierte, dass ihre Pläne
nicht umsetzbar seien: zu teuer, zu radikal,
um dafür im Kongress Mehrheiten zu
finden. „Ihre Visionen klingen für viele
Leute attraktiv“, sagte Biden. „Aber ich bin
der Einzige auf dieser Bühne, der tatsäch-
lich auch große Dinge in die Tat umgesetzt
hat.“ Der 76-Jährige, der einmal mehr
durch viele seiner Statements stolperte,
verwies damit auf seine lange Karriere als
Senator und Vizepräsident, in der er an
wichtigen Gesetzen beteiligt war. Doch
dass die vielen Jahre in Washington Biden
eben auch verwundbar gemacht haben,
zeigte die Replik von Sanders: „Du hast
auch den desaströsen Krieg im Irak
umgesetzt. Du hast ein Insolvenzgesetz
umgesetzt, das die Mittelschicht in ganz
Amerika beschädigt.“
Warren sagte, dass auch niemand ge-
glaubt habe, dass es ihr gelingen würde,
nach der Finanzkrise eine Behörde für Ver-
braucherschutz aufzubauen. „All die Ge-
nies in Washington sagten, damit kommst
du nie durch.“ Biden reagierte hier einmal
blitzschnell, als er zu Warren sagte, dass er
es gewesen sei, der ihr im Senat die nötigen
Stimmen für die Behörde verschafft habe


  • einen Einwand, den Warren ignorierte.
    Letztlich gehe es darum: „Ich weiß, was
    kaputt ist, ich weiß, wie wir es beheben
    können, und ja, ich werde da rausgehen
    und dafür kämpfen.“ alan cassidy


Schön, dass du da bist


„Wenn es nur uns gäbe, wären die Dinge sehr einfach“: Beim deutsch-französischen Gipfel beschwören
Angela Merkel und Emmanuel Macron Gemeinsamkeiten – aber einige Punkte bleiben vage

Warrens Visionen


Die Senatorin dominiert die TV-Debatte der Demokraten


Madrid – Angesichts der gewaltsamen Zu-
sammenstöße zwischen teilweise ver-
mummten Demonstranten und Ordnungs-
kräften in der Region Katalonien hat am
Mittwoch der spanische Premierminister
Pedro Sánchez mit den Führern der größ-
ten Oppositionsparteien über die Abset-
zung der Regionalregierung in Barcelona
beraten. Sánchez erklärte nach dem Tref-
fen: „Wir schließen kein Szenario aus.“ Er
forderte den katalanischen Regionalpräsi-
denten Quim Torra auf, sich von den ge-
walttätigen Demonstranten zu distanzie-
ren. Torra indes nahm mit einem halben
Dutzend seiner Minister an einem Stern-
marsch aus fünf katalanischen Städten
nach Barcelona teil, um seine Solidarität
mit den am Montag zu hohen Haftstrafen
verurteilten Führern der katalanischen Un-
abhängigkeitsbewegung zu bekunden.
Sowohl die konservative Volkspartei
(PP) als auch die rechtsliberale Bürgerpar-
tei (Ciudadanos) forderten Sánchez auf, Ar-
tikel 155 der Verfassung anzuwenden. Die-
ser erlaubt der Zentralregierung, eine Regi-
onalregierung abzusetzen, falls diese „ge-
gen die Interessen“ des spanischen Staates
handelt. Vor knapp zwei Jahren hatte der
damalige konservative Premier Mariano
Rajoy die katalanische Führung um Carles
Puigdemont abgesetzt, nachdem dieser
die Unabhängigkeit der wirtschaftsstar-
ken Region ausgerufen hatte. In der Folge
wurden die führenden Köpfe unter den Se-
paratisten verhaftet; neun von ihnen wur-
den am Montag nach einem Mammutpro-
zess zu Haftstrafen zwischen neun und
dreizehn Jahren verurteilt. Ihre Verteidi-
ger rügten schwere Verfahrensfehler: So
war eine zweite Instanz von Anfang an
nicht vorgesehen. Sie kündigten an, die Ur-
teile durch den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte überprüfen zu lassen.
Die Polizei nahm bei den Zusammenstö-
ßen in der Nacht zum Mittwoch 51 Perso-
nen fest. Fast 100 hätten leichtere bis mitt-
lere Verletzungen erlitten, zwei Drittel da-
von Polizisten. Der als Rädelsführer zu drei-
zehn Jahren verurteilte frühere Vizepremi-
er Kataloniens, der Linksrepublikaner Ori-
ol Junqueras, distanzierte sich über seinen
Anwalt von den gewaltsamen Aktionen.
Auch der frühere Premier Carles Puigde-
mont, der sich durch seine Flucht nach Bel-
gien der Verhaftung entzogen hatte, verur-
teilte jegliche Gewalt bei den Kundgebun-
gen. Die spanische Justiz hat einen neuen
internationalen Haftbefehl für Puigde-
mont ausgestellt. In Barcelona wird damit
gerechnet, dass dieser in Kürze Belgien ver-
lässt, um sich in einem Land niederzulas-
sen, das kein Auslieferungsabkommen mit
Brüssel abgeschlossen hat.
thomas urban  Seite 4

Schritt für Schritt zurück ins Weltdorf


Riace in Kalabrien war Modell der Integration von Migranten, bis die Politik der Lega alles zerschlug. Nun erwacht es wieder


DEFGH Nr. 240, Donnerstag, 17. Oktober 2019 (^) POLITIK HF3 7
Es sei nur darum gegangen,
Idealismus und Solidarität
zu zerstören, sagt Mimmo Lucano
Sie sprach am längsten, gegen sie richte-
tensich die meisten Angriffe: Elizabeth
Warren. FOTO: REUTERS
Gut gelandet: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (2. v. l.) und Bundeskanzlerin Angela Merkel im Airbus-Werk in Toulouse. FOTO: FREDERIC SCHEIBER/AP
„Am Ende sprechen sie mich wahrscheinlich frei“: Mimmo Lucano (Mitte), Gründer
des „Villaggio Globale“ und Ex-Bürgermeister von Riace. FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA
Paris gibt sich aktuell
sanftmütig, was das Verhältnis
zu Berlin betrifft
Biden kritisierte Warren und
Sanders dafür, dass ihre Pläne
nicht umsetzbar seien
Der Bürgermeister und Gründer
kam vor Gericht, er durfte seine
Gemeinde nicht mehr betreten
Krisenmodus
in Madrid
Gewaltsame Proteste nach
hohen Haftstrafen für Separatisten

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