Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1

Seit Peter Handke am Donnerstag der ver-
gangenenWoche den diesjährigen Nobel-
preis für Literatur zugesprochen bekam,
wird eine Debatte um sein Verhalten zu
den Kriegen geführt, die während der Jah-
re 1991 bis 2001 auf dem Territorium des
früheren Staates Jugoslawien ausgetragen
wurden. Waren zu Beginn der Debatte
noch freundliche Stimmen zum Nobel-
preis zu hören, hat sich die Stimmung nun
eindeutig gegen Peter Handke gewendet.
Nicht alles, was in dieser Debatte gesagt
wird, hält dabei einen Vergleich mit den tat-
sächlichen Äußerungen Peter Handkes
aus: Wenn der dänische Schriftsteller Cars-
ten Jensen in der schwedischen ZeitungDa-
gens NyheterPeter Handke zu einem ge-
fährlichen Rechtsextremisten erklärt, der
den Völkermord begrüße, tut er das ohne
Textgrundlage. Gleiches gilt für den slowe-
nischen Philosophen Slavoj Žižek, der aus
Peter Handke einen „Apologeten des Völ-
kermords“ macht. In den vergangenen


zehn, fünfzehn Jahren ist eine umfangrei-
che wissenschaftliche Literatur zu Peter
Handkes Verhältnis zum ehemaligen Jugo-
slawien entstanden. Das Meinen zu Peter
Handke scheint sich jedoch immer weiter

von Textkenntnis zu entfernen, was so-
wohl für seine literarischen Werke (etwa
200 Titel) wie für die Sekundärliteratur
gilt. In diesen Tagen hält sich Peter Hand-
ke in Griffen auf, der kleinen Gemeinde im

Süden Kärntens, nicht weit von der slowe-
nischen Grenze, in der er aufwuchs und wo-
hin er auch als Erwachsener immer wieder
zurückkehrte. Dort fand am Dienstag-
abend eine gesellige Runde mit Lokalpoliti-
kern und Journalisten mit dem Schriftstel-
ler statt. Sie begann zivil, mit einer Erklä-
rung Handkes, er fühle sich durch den No-
belpreis befreit, wie „losgebunden“ von
sich selber. Er hatte offenbar gehofft,
durch die Auszeichnung den Debatten um
sein Engagement für die Serben zu entkom-
men.
Um so größer scheint die Enttäuschung
zu sein, dass das Gegenteil eingetreten ist.
Die Frage einer Journalistin, wie er denn
zu den Äußerungen des Schriftstellers
Saša Stanišić stehe, der seine Dankrede für
den Deutschen Buchpreis mit einer hefti-
gen Kritik an Peter Handke verband, beant-
wortete er mit dem Abbruch der geselligen
Runde. Er sei Schriftsteller, rief er. Er sehe
sich in der Tradition eines Homer, eines

Cervantes, eines Tolstoi. Nie aber gehe es
im Gespräch mit Journalisten um sein lite-
rarisches Werk. In der Folge erklärte Peter
Handke, er hasse den Journalismus.
Die Journalistin reagierte besonnen. Sie
verstehe Peter Handke, der eben ein
Schriftsteller sei und dennoch immer wie-
der mit denselben politischen Fragen kon-
frontiert werde. Sie schätze außerdem sein
literarisches Werk. Einige ihrer Kollegen
waren weniger zurückhaltend und verwan-
delten eine ländliche Szene mit einem
Schriftsteller, den die Auseinandersetzun-
gen der vergangenen Tage offenbar mitge-
nommen hatten, in einen prinzipiellen Af-
front gegen die selbstverständlichen An-
sprüche des Journalismus.
Auch das ist eine Übertreibung: Denn es
gibt kein allgemeines Zugriffsrecht des
Journalismus auf den einzelnen Men-
schen. Das gilt auch für Menschen, die be-
rufsbedingt in der Öffentlichkeit stehen.
thomas steinfeld

Ich bin Schriftsteller!


Peter Handke wehrt sich: Der frisch gekürte Nobelpreisträger spricht in seinem Heimatort Griffen von Demütigungen


von catrin lorch

E


s hat vermutlich niemand mehr da-
mit gerechnet, dass auf dem Time
Square in New York noch einmal ein
Bronze-Denkmal enthüllt wird, ein Reiter-
standbild obendrein, das auf einem Sockel
aus Kalksandstein fast zehn Meter hoch
aufragt. Genau das ist aber geschehen. Der
Afroamerikaner Kehinde Wiley – bekannt
vor allem als Porträtist von Barack Obama



  • hat einen Schwarzen in den Sattel ge-
    setzt. Der Titel des Werks „Rumors of War“
    spielt auf die unzähligen Monumente an,
    die in den USA immer noch an Generäle
    aus dem Bürgerkrieg erinnern. Der Ana-
    chronismus ist also Teil des Konzepts.
    Das Bronze-Ungetüm wirkt nicht nur
    vor dem Autoverkehr und den Mega-Bill-
    boards deplatziert, sondern auch eigen-
    tümlich in einer Stadt, die als Metropole
    wie keine andere Stadt für zeitgenössische
    Avantgarde steht. New York ist der interna-
    tional bedeutendste Standort für den
    Kunstmarkt. Und dort residiert das rang-
    höchste Museum in Sachen Gegenwart,
    das Museum of Modern Art, kurz MoMA,
    das die jüngeren Epochen der Kunstge-
    schichte konsequent als Entwicklungsge-
    schichte darstellt: Auf den Impressionis-
    mus folgte die Moderne, daraus entwickel-
    ten sich Fauvismus, Surrealismus und Abs-
    traktion. Formeln wie Abstrakter Expressi-
    onismus oder Minimal verlängerten diese
    Geschichte weit in die Nachkriegszeit.


Der Einmarsch von „Rumors of War“ in
dieses auf Fortschritt fixierte Terrain
wirkt dennoch nicht wie ein Danaer-
geschenk. Denn das MoMA selbst hat sich
von seinem Erfolgsmodell verabschiedet.
Es eröffnet erstmals mit einer Präsentati-
on, die vielschichtig ist und erzählerisch.
Und schon deswegen nicht mehr verbind-
lich, weil alle drei Monate neu gehängt
wird. In den USA wird die auf Diversität
zielende Konzeption als vorbildhaft gefei-
ert. Dabei übersehen viele, dass nicht der
Kunstbegriff erweitert wird, sondern das
MoMA nur die Grenzen niederreißt, die es
selbst gesteckt und bewacht hat.
Aus europäischer Perspektive ist das
ganze Unternehmen ohnehin nicht so neu.
Es war die Londoner Tate Modern Gallery,
die schon zur Jahrtausendwende die Kapi-
tel des Kanons aufgebrochen hatte und un-
ter programmatischer Einbeziehung von
Unbekanntem oder Peripherem die Säle
nach Themen sortierte, nach übergreifen-
den Kategorien. Der Vorsprung dieses
Museums, das seither gezielt auf allen
Kontinenten ankaufte, gilt inzwischen als
uneinholbar.
Direktoren und Kuratoren folgten in Eu-
ropa dem Imperativ der Tate: keine Groß-
ausstellung – von den immer politischer
werdenden Biennalen bis zur Weltkunst-
schau Documenta –, die nicht eine nach vie-
len Kriterien ausbalancierte Künstlerliste
vorlegt. An den Universitäten bemüht man
sich, die Kunstgeschichte des ehemaligen
Ostblocks nachzuholen, indem man den
einstigen Underground aus Warschau oder
Moskau aufarbeitet. Sammlungen werden
gezielt um Kunst von Frauen ergänzt. So-
gar auf dem Kunstmarkt reüssieren Na-
men aus Südamerika oder Asien. Und ne-
ben avancierten Bildmedien wie Video,
Film oder digitaler Animation bezieht man
auch Techniken in die Kunst ein, die bis
vor Kurzem noch als bestenfalls „kultu-
rell“ galten: Keramik, Textil, Tanz.
Während die Szene sich vielsprachig
gibt, ist sie – in Bezug auf alle Ismen und
Formeln – verstummt. Wie wird man eines
Tages diese Epoche nennen, in der wir uns
mit all den peripheren Strömungen, ver-
gangenen Modernen und übersehenen Ri-
tualen befassen? Denn eigentlich lassen
sich ja auch die Neunzigerjahre nicht auf ei-
nen Begriff bringen.
Die Konzeptkunst der Siebzigerjahre ist
die letzte Strömung, auf die sich die Kunst-
historiker mit Verbindlichkeit einigen kön-
nen – und darauf noch, dass man den
schwammigen Begriff der Postmoderne
für die Kunst ablehnt. Vieles, das jetzt Kon-
junktur hat, wird mit dem Adjektiv „kon-
zeptuell“ erklärt – von seriellen Motiven in


der Fotografie bis zu einer Bildhauerei, die
eigentlich mit Ready Mades als Rohstoff ar-
beitet. Oder mit Menschen. Oder mit Tän-
zen.
Die jüngste Vergangenheit hat aller-
dings bewiesen: Man kommt auch ganz
gut ohne einen Stilbegriff aus. Titelfindun-
gen wie „Neue Leipziger Schule“ oder „For-
malismus“ sind verrauscht, waren wohl
kaum mehr als Label, mit denen sich auf
Kunstmessen das Angebot sortieren ließ.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Surrea-
listen oder Suprematisten an Manifesten
und Ausschlussverfahren arbeiteten. Und
man macht sich als Künstler auch längst
nicht mehr die Mühe, die abfälligen Diffa-
mierungen von Kritikern in klingende Na-
men wie Impressionismus oder Fauvis-
mus umzumünzen. Künstler scheinen die
Etikettierungen, die ihnen angeheftet wur-
den, nicht zu vermissen.
Der strenge Kanon, der vor allem vom
MoMA geprägt wurde, ist selbst zum Ana-
chronismus geworden. Als Erzählweise,
die sich als Geisteswissenschaft ausgibt,
aber lange nicht reflektierte, wie ver-
knüpft sie mit einer Weltanschauung war,
die auf technischen Fortschritt und Durch-
setzungsfähigkeit ausgerichtet war. Dem
wirtschaftlichen Triumph der USA sollte
der Sieg der Abstrakten Expressionisten
auf einem boomenden Kunstmarkt ent-
sprechen, den man als Höhe- und End-
punkt der Kunstgeschichte interpretierte.

Die heutige globale und vernetzte Welt,
die mehr auf die Erschließung von Märk-
ten und Produktionen ausgerichtet ist,
muss sich – wenigstens symbolisch – um
Inklusion bemühen und auch das Fremde
anerkennen. Dass die Fortschrittsideolo-
gie der Welt vor allem das Anthropozän be-
schert hat, Umweltzerstörung und Klima-
katastrophe, trägt zur Skepsis bei – auch
bei der Frage, ob die Projektion digitaler
Bildprogramme avancierter ist als die Mas-
ke eines Indianerstammes, die nach dem
Ritual verbrannt wird.

Die nächste Generation der Kunsthisto-
riker wächst zudem nicht mehr mit gebun-
denen Nachschlagewerken und chronolo-
gisch sortierten Kunstbibliotheken auf,
sondern navigiert sich mit Suchmaschinen
durch die Bildwelten des Internets, die auf
die Bestände aller Museen und Sammlun-
gen zugreifen. Das Gefühl für Geschichte
muss sich adaptieren, wo alles gleichzeitig
als Abbildung verfügbar ist.
Es fällt auf, dass die Trennschärfe zwi-
schen virtueller und realer Welt zunimmt:
Wer heute jung ist, wird das Gemälde nie
mit seiner Abbildung verwechseln. Ausstel-
lung, Konzert, Protest sind so real wie das

Denkmal an der Straßenkreuzung, das er-
neut umkämpft und besetzt werden kann.
Während sich jahrzehntelang niemand
mehr für die historischen Figuren in Bron-
ze oder Marmor interessierte, die in Parks
unter Moos verschwanden, entzündeten
sich in den USA Kämpfe an Kriegsdenkmä-
lern. In Kassel eskalierte der von der AfD
befeuerte Streit um einen von der Docu-
menta 14 hinterlassenen Obelisken. Und,
fast gleichzeitig mit der Enthüllung des
Reiters, den Kehinde Wiley mit einer Rüs-
tung aus Nikes und Hoody armiert hat, fei-
erte man in der Londoner Tate Modern die
Vernissage eines Brunnens der gleichfalls
schwarzen Künstlerin Kara Walker. Die
Wasserspiele, die das Pathos des Empire zi-
tieren, erinnern an die Brutalität des Skla-
venhandels und der Kolonialzeit. Während
„Queen Vicky“ als fette Karikatur um den
Sockel schleicht, triumphiert über den Kas-
kaden eine schwarze Tanzende.
Die Erneuerung des MoMA ist ein über-
fälliges Rückzugsgefecht, es war Zeit, die
Position zu räumen, die sich ohnehin nicht
mehr halten lässt. Was bleibt, ist eine der
schönsten Sammlungen überhaupt. Sie
reicht von Monet und Kandinsky bis zu Du-
champ und Sherman. Von Öl auf Leinwand
bis zum Negativ und Pixel. Und weil Künst-
ler weiter arbeiten, geht auch die Geschich-
te der Kunst weiter. Und sei es unter der
Überschrift, die ohnehin die beliebteste
der Gegenwart ist: „Untitled (ohne Titel)“.

In den Gängen des New Yorker Museum of
Modern Art wird dieser Tage viel über Al-
fred Barr gesprochen, den ersten Direktor
und ideellen Übervater des Museums. Mo-
MA-Direktor Glenn Lowry evozierte Barr
bei der Neueröffnung des für 450 Millio-
nen Dollar erweiterten Museums in der ver-
gangenen Woche mehrfach, und seine Ku-
ratoren stimmten ein. „Ich glaube nicht,
dass Barr irgendetwas anderes sagen wür-
de, als dass das neue MoMA die Erfüllung
der Gründungsmission des Museums ist“,
meinte Ann Temkin, Chefkuratorin für Ma-
lerei und Skulptur. Und Lowry fügte an,
dass man sich bei der Neukonzeption des
Museums von Barrs Vision des „Museums
als Labor“ habe leiten lassen, die er von
seiner Reise an das Bauhaus im Jahr 1927
mitgebracht hatte. Angesichts der neuen
Räume, in denen sie vorgetragen wurden,
klangen diese Reden freilich wie eine
Selbstversicherung. Das MoMA erfindet
sich in diesem Herbst neu, und es ist beina-
he so, als wolle man sich vergewissern, dass
man dabei seine Identität nicht verliert.

Freunde des alten MoMA werden ihr Mu-
seum nicht wiedererkennen. Und das liegt
nicht alleine daran, dass die Etagen dank ar-
chitektonischer Eingriffe durch das Starar-
chitektenteam Diller and Scoffidio nun in
den benachbarten Bürowolkenkratzer von
Jean Nouvel hineinschwappen. Die mitun-
ter desorientierende Fremdheit des neuen
MoMA stammt auch aus einem gewissen
Verrat an dem Erbe Alfred Barrs. Gewiss
war er von der Werkstätten-Idee des Bau-
hauses fasziniert. Doch er war auch ein akri-
bischer Sortierer und Beschreiber, der die
neue, vorwiegend europäische Kunst nach
formellen Kriterien ordnete und so dem
amerikanischen Publikum präsentierte.
Daraus entstand der MoMA-Kanon der
modernen Kunst, der sich bis weit in die
Achtzigerjahre hinein in den kunsthistori-
schen Lehrbüchern festsetzte. Es war jene
Abfolge von Ismen – vom Impressionis-
mus bis zum Minimalismus – die man bis
zu diesem Frühjahr bei einem Gang durch
die ständige Sammlung des MoMA ab-
schreiten konnte. Die Protagonisten waren
eine Gruppe von rund 100 weißen Män-
nern, die man hier kennenlernte, um dann
mit der Illusion nach Hause zu gehen, die
Moderne verstanden zu haben.
Natürlich ist diese Form der linearen
Historiografie nicht erst seit gestern unter
Beschuss. In der Akademie wird sie seit
Jahrzehnten dekonstruiert, und die Muse-
en der Welt haben spätestens seit der Jahr-
tausendwende begonnen, nachzuziehen.
Die Tate Modern in London hat sich bereits
im Jahr 2000 neu sortiert, um eine inklusi-
vere, fragmentarisierte Geschichte der Mo-
derne zu erzählen. Ausstellungen im Rijks-
museum, im Brooklyn Museum, im Centre
Pompidou und sogar im altehrwürdigen,
enzyklopädischen Metropolitan Museum
reflektierten diesen neuen Geist.
Um dem MoMA nicht unrecht zu tun,
auch hier hatte man diese Entwicklung
nicht verschlafen. Die Dominanz der klassi-
schen Medien Bildhauerei und Malerei
wird seit 20 Jahren zurückgefahren. Foto-
grafie, Design, Architektur und vor allem
Performance spielen eine immer größere
Rolle. Es gab Retrospektiven von Frauen
von Cindy Sherman bis zu Isa Genzken und
Marina Abramović. An das Herz des Muse-
ums, die permanente Sammlung, die so et-
was wie der Goldstandard der modernen
Kunst ist, hat man sich allerdings bislang
nicht herangewagt. Doch nun, da Museen
wie das San Francisco Museum of Modern
Art mit dem Mut zur Chronologie schon
wieder in die entgegengesetzte Richtung
marschieren, wagt sich auch das MoMA an
die Auflösung.
Die Gliederung der Sammlung in drei
Epochen wird zwar beibehalten, es gibt

eine Etage für die Zeit von 1880 bis 1940, ei-
ne für 1940 bis 1970 und eine von 1970 bis
in die Gegenwart. Von da an werden die
Dinge verwirrend. Die Galerien sind thema-
tisch organisiert, wobei die Themen in kei-
ne erkennbaren Kategorien zu fassen sind.
Sie entspringen alleine der Intuition der
Kuratoren, jener neuen Generation von Mo-
MA-Angestellten, derer es laut Glen Lowry
bedurft hat, um die radikale Selbst-Neuer-
findung des Hauses mitzutragen.
Die Themen können Dinge umfassen
wie „Paris 1920“, „Readymades in Paris
und New York“, „Designs für das moderne
Leben“ oder „Von Suppendosen bis zu Flie-
genden Untertassen“. Was man nicht fin-
den wird, sind Abteilungen für Dada, Pop
Art oder Impressionismus. Selbst in den
Beschreibungen werden solche vermeint-
lich akademischen Begriffe mit einer Sorg-
samkeit umschifft, die ans Lächerliche
grenzt. Man stellt sich ganz auf das Laien-
publikum ein, das mittlerweile das Gros
der MoMA-Besucher ausmacht – jene drei-
einhalb Millionen Menschen, nicht zu ei-
nem geringen Anteil Touristen, die jähr-
lich durch die nun extra für sie vergrößer-
ten Räume strömen. Den intellektuellen
New Yorker, der vielleicht noch in den Sieb-
zigerjahren ins MoMA kam, um still über ei-
nen Mark Rothko zu meditieren, das sagt
Glenn Lowry ganz offen, hält er für einen
Anachronismus. Für ihn ist das Museum
längst Agora und nicht mehr Ort der Ver-
senkung.
In den thematischen Räumen werden
nun neue, überraschende Verbindungen
hergestellt. So sind etwa Picassos „Demoi-
selles d’Avignon“ neben Faith Ringgolds
„Die“ zu sehen, einer schonungslosen Ab-
bildung der Brutalität des amerikanischen
Rassismus. Es ist eine ebenso radikale wie
wirkungsvolle Rekontextualisierung bei-
der Werke. Andere Überraschungen sind
etwa die prominente Platzierung der brasi-
lianischen Künstlerin Tarsila do Amaral
zwischen Léger, Picasso und Brancusi im
Raum zur Pariser Avantgarde.

Einen vorgegebenen Weg durch die Ga-
lerien gibt es nicht, der Betrachter sucht
sich seinen eigenen Pfad durch die Moder-
ne, die sich als eine derart vielfältige, kom-
plizierte Welt präsentiert, dass sie sich je-
dem Versuch der begrifflichen Erfassung
widersetzt. Und um die Dinge noch verwir-
render zu machen, wird alle sechs Monate
ein Drittel der Galerien erneuert. Wer nach
einem Jahr zurückkommt, der wird die
„Demoiselles d’Avignon“ vielleicht nicht
mehr neben Faith Ringold sehen, sondern
neben Gerhard Richter. Oder neben einem
Film von Andy Warhol. Oder einem Stuhl
von Marcel Breuer.
Ganz mag sich das MoMA freilich noch
nicht von der Idee der Meisterwerke tren-
nen – Monets „Wasserlilien“ haben wie eh
und je ihren Sonderplatz, und die „Sternen-
nacht“ von van Gogh hängt neben den „Ba-
denden“ von Cezanne und dem „Traum“
von Henri Rousseau in der besten Gesell-
schaft großer Meister. Das MoMA hat aller
„Wokeness“ zum Trotz nicht völlig verges-
sen, was die Massen für 25 Dollar pro Nase
in seine Räume lockt. sebastian moll

DEFGH Nr. 240, Donnerstag, 17. Oktober 2019 HF3 9


Renovierung des Museum of Modern Art in New YorkDie neue Präsentation verabschiedet sich von Stilen und Formeln


Endlich frei


Impressionismus, Surrealismus, Minimal – und dann?


Warum sich die zeitgenössische Kunst allen Etiketten widersetzt


Film
Der Regisseur Bong Joon-ho
über Netflix, Harvey Weinstein
und seinen Film „Parasite“ 10

Feuilleton
Brennt das Piano wirklich?
Das neue Album der
Hip-Hop-Band „Clipping“ 11

Literatur
Auf dem großen Karussell.
Die Frankfurter Buchmesse
ist eröffnet 12

Wissen
Ein Herz vom Schwein: Können
Organe von Tieren todkranke
Menschen retten? 14

www.sz.de/kultur

Das Ende


des Kanons


Ein Rundgang durchs renovierte MoMA in New York


Die Künstler nutzen Techniken,


die lange nur als „kulturell“


galten: Keramik, Textil, Tanz


Wer heute jung ist, wird das
Gemälde nie mit der
Abbildung verwechseln

Wer früher hierherkam, sah
die moderne Kunst als
Werk europäischer Männer

FEUILLETON


Esgibt keine klaren Wege mehr in den
neuen Galerien des MoMA. FOTO: UPI/LAIF

„Ich komme von Tolstoi“: Peter Handke fühlt sich von Kritikern verfolgt. FOTO: AFP

Ranghöchstes Museum für Moderne Kunst: Das MoMA in New York. FOTO: IWAN BAAN, AP

HEUTE

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