Handelsblatt - 14.10.2019

(Michael S) #1

„Im Vergleich zum britischen Parlament


ist eine ägyptische Sphinx ein offenes Buch.


Man muss also abwarten und – weil es um


England geht – Tee trinken.“


Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident über die
Brexit-Verhandlungen.

Worte des Tages


Europaparlament


Feindbild


Macron


D


as hat es noch nie gegeben:
Frankreichs Kandidatin für
die EU-Kommission schei-

tert im Europaparlament. Darüber


gefreut hat sich vor allem eine: Die


Nationalpopulistin Marine Le Pen


schlachtete die Niederlage von Syl-


vie Goulard genüsslich aus. Christ-


demokraten, Sozialdemokraten und


Grüne in der EU-Volksvertretung


haben es geschafft, einen dezidiert


proeuropäischen Staatschef zu


schwächen und einer EU-Feindin in


die Hände zu spielen. Musste das


sein?


Wenn ein Politiker persönlich


nicht integer ist, sollte er natürlich


nicht Mitglied der EU-Kommission


werden. Doch die Standards dafür


scheinen in der EU fließend zu sein.


Der künftige spanische EU-Außen-


beauftragte Borrell wurde wegen


Insiderhandels bestraft. Das störte


die EU-Volksvertreter nicht. Dage-


gen ist die Schuld von Goulard gar


nicht bewiesen: Die Ermittlungen


wegen einer Scheinbeschäftigungs-


affäre dauern an, und ihr Rücktritt


als Verteidigungsministerin ist nicht


automatisch als Schuldeingeständ-


nis zu werten. Für einen Minister-


rücktritt kann es eine Menge ande-


rer, politischer Gründe geben.


Mag sein, dass Goulard sich in ih-


rer Anhörung ungeschickt verhal-


ten hat, doch das war nicht spiel-


entscheidend. Viele Beobachter in


Brüssel glauben, dass die Volksver-


treter es auf den französischen Kan-


didaten abgesehen hatten, um Ma-


cron eins auszuwischen. Konserva-


tive und Sozialdemokraten geben


dem Präsidenten die Schuld dafür,


dass weder Manfred Weber noch


Frans Timmermans EU-Kommissi-


onspräsident geworden sind. Dass


die EU-Parlamentarier sich selbst


auf keinen ihrer Spitzenkandidaten


einigen konnten, haben sie offenbar


verdrängt.


Der Druck auf Europa wächst: Mi-


gration und Klimawandel, National-


populismus, globale Handelskriege


und militärische Konflikte vor der


Haustür. Den vielen Gefahren kann


die EU nicht begegnen, wenn das


Europaparlament seine Hauptauf-


gabe darin sieht, die neue Kommis-


sionspräsidentin und den französi-


schen Staatschef auszubremsen.


Mit ihrem Feldzug gegen
Frankreichs Präsidenten spielen die
EU-Volksvertreter Populisten in die
Hände, meint Ruth Berschens.


Die Autorin ist Leiterin des


Brüsseler Büros.


Sie erreichen sie unter:


[email protected]


W


enn Ende dieser Woche die
Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union in Brüssel
zusammentreffen, mag es in ers-
ter Linie um die Brexit-Verhand-
lungen gehen. Für die Glaubwürdigkeit der europäi-
schen Werte aber ist es zentral, dass die EU auch
klar und entschlossen auf den völkerrechtswidrigen
Einmarsch der Türkei in Nordsyrien reagiert: mit
Wirtschaftssanktionen, mit einem EU-weiten Verbot
von Waffenexporten in die Türkei, mit dem Einbe-
stellen der türkischen Botschafter – und, ja, auch da-
mit, dass der EU-Rat definiert, wann das Flüchtlings-
abkommen mit der Türkei ein Ende hat.
Achteinhalb Jahre ist es her, dass der Syrienkrieg
ausgebrochen ist. Mehr als eine halbe Million Men-
schen sind gestorben. Mehr als drei Millionen sind
auf der Flucht. In dem vorderasiatischen Land tref-
fen die Interessen der USA und der Türkei, Russ-
lands und des Irans, des syrischen Machthabers As-
sad, der Terrormiliz IS und der syrischen Kurden
aufeinander. Die Gefechtslinien und Interessenlagen
sind komplex, das macht klare Haltungen schwierig.
Dennoch müssen einige Standpunkte klar bleiben:
Der Angriff der Türkei – Nato-Partner und Mitglied
der EU-Zollunion – verstößt gegen das Völkerrecht.
Die Pläne eines kurdenfreien Korridors von 30 Kilo-
meter Breite und 480 Kilometer Länge sind nichts
anderes als eine geplante ethnische Säuberung in
diesem Gebiet und würden in einer Besatzung en-
den. Dennoch hat der UN-Sicherheitsrat den Angriff
nicht eindeutig verurteilt. Nato-Generalsekretär Stol-
tenberg ebenso wenig. Die USA kündigen ihren
Truppenabzug aus Nordsyrien an. Das alles sind Er-
mutigungen für Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Es ist gut, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel am
Sonntag in einem Telefonat mit Erdogan die „umge-
hende Beendigung der Militäroperationen“ forderte.
Doch dazu wird es nicht kommen. Deshalb muss die
EU diplomatisch und wirtschaftlich reagieren. Erdo-
gan versteht die Sprache der Diplomatie nur, wenn
er Taten spürt.
Die EU-Staaten haben als Teil der Anti-IS-Koalition
nur allzu gerne die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien
gegen die Terrororganisation IS kämpfen lassen. We-
gen der Nähe der YPG zur verbotenen kurdischen
Arbeiterpartei PKK, die in der EU und Deutschland
als Terrororganisation eingestuft wird, hat die Bun-
desregierung der YPG zwar keine Waffen geliefert
und keine Ausbilder geschickt, wie sie es bei den
kurdischen Peschmerga-Kämpfern im Irak getan hat.
Doch die kurdischen YPG-Kämpfer haben auch den
Westen gegen die Bedrohung der IS-Terrortruppen

verteidigt. Hinzunehmen, dass sie nun von der Tür-
kei beschossen werden, darf keine Option sein.
Die EU muss nicht militärische Antworten ausrei-
zen. Ein Verbot von Rüstungslieferungen an die Tür-
kei muss umfassend sein. Die EU sollte zudem Wirt-
schaftssanktionen verhängen. Wie der wichtigste tür-
kische Handelspartner Deutschland, aber auch
Großbritannien und Italien reagieren, kann Erdogan
nicht egal sein. Zudem muss die EU klarmachen: Ei-
ne Erweiterung der Zollunion und die von der Tür-
kei gewünschte Visumsfreiheit wird es so nicht ge-
ben. Eine Ausweitung des Flüchtlingsabkommens,
wie zuletzt diskutiert, sollte gestoppt werden. Viel-
leicht auch das ganze Abkommen.
Dreieinhalb Jahre ist es her, dass die EU mit der
Türkei den Pakt geschlossen hat: „Ihr nehmt syri-
sche Flüchtlinge zurück aus der EU, dafür bekommt
ihr sechs Milliarden Euro.“ Das umstrittene Abkom-
men sollte Zeit kaufen – bis die Ursachen für die
Flucht bekämpft sind oder bis die EU eine Lösung
gefunden hat, wie die Gemeinschaft der noch 28
Staaten mit Flüchtlingen umgeht. Die Zeit wurde
nicht genutzt.
Mit dem Einmarsch der Türkei werden in Nordsy-
rien nun neue Fluchtursachen geschaffen. Die Regi-
on wird destabilisiert. Menschenrechtsorganisatio-
nen zufolge verletzt die Türkei das Flüchtlingsab-
kommen bereits seit Längerem, indem sie
Flüchtlinge aus der Türkei in Kriegsgebiete in Syrien
abschiebt. Und wenn sie die 14 000 Quadratkilome-
ter in Nordsyrien besetzt hat, will sie syrische
Flüchtlinge im großen Stil in dieses Gebiet schicken.
Die EU hat in dreieinhalb Jahren keine Lösung für
ihren Dissens in der Flüchtlingspolitik gefunden.
Deshalb betrachten die Staaten das Flüchtlingsab-
kommen als sakrosankt. Erdogan nutzt diese Schwä-
che aus: „Hey EU, wach auf!“, rief er nach dem Ein-
marsch. „Wenn ihr unsere Operation als Invasion
darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach:
Wir werden die Türen öffnen, und 3,6 Millionen
Menschen werden zu euch kommen.“ Hier werden
Menschen zur Verhandlungsmasse gemacht.
Wenn die EU jetzt nicht zeigt, dass sie sich nicht
erpressen lässt, wann dann? EU, bitte aufwachen!,
möchte man rufen. Es ist Zeit, Erdogan die Stirn zu
bieten. Da dies nicht militärisch geschehen soll und
wird, sind die wirtschaftlichen und diplomatischen
Waffen die einzigen, die die EU einsetzen kann. Das
sollte sie in dieser Woche entschlossen tun.

Leitartikel


Brüssel, bitte


aufwachen!


Deutschland und
die EU dürfen
sich nicht
erpressen lassen.
Sie müssen hart
auf die Invasion
der Türkei in
Syrien reagieren,
fordert
Nicole Bastian.

Eine Aus -


weitung des


Flücht lings -


abkommens


sollte gestoppt


werden. Viel-


leicht auch das


ganze Abkom-


men.


Die Autorin leitet das Auslandsressort.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


MONTAG, 14. OKTOBER 2019, NR. 197


14

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