Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Dienstag, 15. Oktober 2019


Überlebensgross grüsst ein Bild deschinesischen Präsidenten Xi Jinpingdie Arbeiter des Stahlwerks von Anyanginder Provinz Henan. THOMAS PETER/REUTERS


Chinas Wirtschaft


im Würgegriff der Partei


Der Erfolg von Chinas Reform- und Öffnungspolitik ist einma lig, doch die allumfassende


Kontrolle durch die Kommunistische Partei wird immer stärker zur Belastung für die Wirtschaft.


Von Matthi as Kamp


Wenn amkommendenFreitag die Statistiker des
chinesischen Staatsrates den Medien ihr Zahlen-
werk zurKonjunkturentwicklung im dritten Quar-
tal präsentieren,werden sie wenig Gutes zuverkün-
den haben.Das Wirtschaftswachstum dürfte sich
zwischenJuli und September erneut abgeschwächt
haben. Die Analytiker der UBS etwa gehen davon
aus, dass der Zuwachs des Bruttoinlandprodukts
(BIP)bei 5,9 Prozent und damit erstmals seit lan-
gem unterder 6-Prozent-Schwelle lag.Imzweiten
Quartal waren es noch 6,2 Prozent gewesen.
Die neuenDaten sind ein weiterer Meilenstein
auf einer seit längerem anhaltendenTalfahrt,die
nur eingeschränkt mit dem chinesisch-amerikani-
schen Handelsstreit und den US-Zöllen zu tun hat.
Denn inzwischen lebt China in deutlich geringerem
Masse von seinenAusfuhren als noch vor zehnJah-
ren. Der Anteil des privatenKonsums an derWirt-
schaftsleistung hat dagegenkontinuierlich zuge-
nommen. ImJahr 2010 lag er bei 35 Prozent, heute
sind es 39 Prozent,Tendenzsteigend.
Sicherlich trägt auchPekings vorsichtige Geld-
und Fiskalpolitik zur nachlassenden wirtschaft-
lichen Dynamik bei. GrosseAusgabenprogramme
mit Milliardensummen für – teilweise unsinnige –
Infrastrukturvorhaben wie während derFinanz-
krise 2008 sind richtigerweise nicht mehr en vogue.
Dazu ist ChinasVerschuldung, vor allem die der
Staatsunternehmen, inzwischen viel zu hoch. Statt-
dessen versucht dieRegierung, der Konjunktur mit
punktuellen Anpassungen wie Steuersenkungen
oderReduzierungen der Mindestreservesätzeder
Banken zu neuem Schwung zu verhelfen.
Die wirklichen Ursachen der schrumpfenden
Wachstumsraten liegen allerdings viel tiefer. Keine
Frage: Während der vergangenen vierJahrzehnte
hat ChinasRegierung derWirtschaft substanzielle,
teilweise schmerzhafteReformen verordnet. Land-
wirtschaft undWohnungsmarkt wurden privatisiert;
in den neunzigerJahren wurden marode Staats-
betriebe fusioniert oder geschlossen,die Behörden
begannen die Gründung privater Unternehmen zu
fördern.Mit derEtablierung von Sonderwirtschafts-


zonen wurde Anfang der achtzigerJahre die Öff-
nung derWirtschaft für ausländische Investoren
initiiert. Ein vorläufiger Höhepunkt der Integra-
tion desLandes in dieglobaleWirtschaft war Ende
2001 erreicht: China trat der internationalenWelt-
handelsorganisationWTO bei.Reform und Öffnung
haben den Chinesen einen beispiellosenWohlstand
beschert. Innert 40Jahren sind 700Millionen Chi-
nesen der Armut entkommen.
Doch die tieferhängendenFrüchte sind geern-
tet. Um ChinasWirtschaft langfristigauf ein solides

Fundament zu stellen, braucht es weitere struktu-
relle Reformen. Doch die müssten tiefgreifender
sein als das, was ChinasPolitiker bisher unternom-
men haben. Denn bei einer Pro-Kopf-Wirtschafts-
leistung von 2000 Dollar ist esrecht einfach, mit
vergleichsweise geringem zusätzlichemAufwand an
Kapita l einenrelativ kräftigen Zuwachs zu erzielen.
Bei einem Pro-Kopf-BIP von 10000 Dollar wird
das s chon schwieriger. Jeder in China investierte
Yuan generiert denn auch heute nur noch halb so
viel zusätzlichen Output wie vor zehnJahren.

Die Angst vor Kontrollverlust


ChinasWirtschaft ist inzwischen viel zukom-
plex für eine einfacheTop-down-Politik, bei der
die KommunistischePartei – letztlich also Staats-
und Parteichef Xi Jinping – über alles entscheidet.
Räumte diePartei beispielsweise Institutionen wie
der Finanzmarktaufsicht oderder Zentralbank ein
Stück mehr Unabhängigkeit ein, hülfe dies bereits,
Ineffizienzen,Verzerrungenund Fehlallokationen
zu reduzieren. Denn wo ein Stück mehrFreiheit
herrscht,wo Marktkräfte dominieren,sinkt die Ge-
fahr vonFehlanreizen und Irrtümern.Wo aber nur
einerentscheidet und eskeine Checks andBalanc es
gibt, steigt zwangsläufig die Gefahr vonFehlern.
Doch Chinas Machthaber fürchten sich vor
nichts mehr als vorKontrollverlust und zögern
deshalb mit Lockerungen.DanRosen, China-Ex-
perte des unabhängigen Analysehauses Rhodium
Group in NewYork, schreibt: «Ängsten vor einem
angeblich exzessivenWettbewerb, Preiskriegen und
Überkapazitäten sollte nicht mit bürokratischen
Schranken begegnet werden,sondern mit Disziplin,
für die ein modernesFinanzsystem und ein Klima
des Wettbewerbs sorgen, das Qualität belohnt und
schlechtePerformance bestraft.»
In einer kürzlich vorgelegten Studie zeigt die
Weltbankkonkrete Massnahmen,mit denen China
langfristig seinWachstum sichern und verhindern
kann, in der sogenannten Middle-Income-Trap zu

landen.Von einer vertikalen Industriepolitik, die
auf zahlreiche Branchen und sogar einzelne Unter-
nehmen abzielt, müsse China auf eine sogenannte
horizontale Industriepolitik umstellen. Die sorgt
vor allem für eine Verbesserungder wirtschaft-
lichenRahmenbedingungen und für eine Stärkung
des Wettbewerbs. Die Weltbank weist auf den öko-
nomisch zentralen Umstand, dass ein Abbau von
Vorschriften undReglementierungen viel besser
geeignet ist, das Unternehmertum und Neugrün-
dungen zu beflügeln, als Subventionen.
Doch in China fliessenreichlich Subventio-
nen sowie der überwiegendeTeil derBankkredite
immer noch in erster Linie an Staatsunternehmen,
von denen die allermeisten hoch verschuldet sind,
keine oder kaum Gewinne erwirtschaften und fast
keineArbeitsplätze schaffen.Doch sie gelten alsre-
lativ risikolos, im Zweifel haftet der Steuerzahler.
Wettbewerbsfähige und innovative Privatunterneh-
men,die Arbeitsplätze schaffen, haben das Nach-
sehen.ChinasRegierung müsste sich an eine umfas-
send eReform der maroden Staatsbetriebemachen,
zu der auch Zusammenschlüsse und Schliessungen
gehören.Vorbildkönnten dieReformen des frü-
heren Ministerpräsidenten ZhuRongji sein. Uner-
schrocken machte er sich Ende der neunzigerJahre
daran, die Staatsfirmen auf Effizienz zu trimmen.
Mehrere MillionenJobs fielen dem Umbau zum
Opfer. Die allermeisten der Betroff enen kamen im
damalsrasch wachsenden Privatsektor unter.
Doch Chinas heutige Machthaber schrecken vor
solchradikalen Einschnitten zurück. Zwar hat die
Zentralregierung im Sommer angekündigt, zumin-
dest bei den schlimmstenFällen, den sogenann-
ten Zombiefirmen, Konkurse zu forcieren. Lokale
Regierungen dürften aber auch hier mauern.Da-
bei gehen die meisten Experten davon aus, dass
auch heute der überwiegendeTeil der Menschen,
die bei einer Abwicklung von Pleiteunternehmen
ihreAnstellungen verlören,neue Beschäftigung im
Privatsektor findenkönnten. Nicht einfacher wird
die Sache dadurch, dass manche hoheParteikader
durch persönliche Interessen mit Staatsunterneh-
men,die l etztlich nichts anderes alsVerlängerun-
gen von Behörden sind, verflochten sind.

Viele möchten China verlassen


Auch wenn Chinas Machthaber denFinanzmarkt
jüngst weiter geöffnet und einzelne Hürden für
Investoren aus demAusland aus demWeg ge-
räumt haben: Unter dem Strich hat Xi seinen Griff
um die chinesischeWirtschaft nicht gelockert, son-
dern noch verstärkt.Auch Pr ivatunternehmen müs-
sen jetztParteizellen haben, und das technologie-
basierte Social-Credit-System wird abkommendem
Jahr für eine umfassendeÜberwachung auch aus-
ländischer Unternehmen sorgen und beispielsweise
prüfen, wie vieleParteimitglieder eineFirma be-
schäftigt.Auch erfolgreichen privatenTechnologie-
konzernen wie Alibaba legt diePartei demnächst
Fesseln an. Insgesamt 100 Beamte entsendet die
Regierung inTech-Unternehmen der Stadt Hang-
zhou im Osten Chinas, wie dieRegierung kürzlich
ankündigte. Die Partei fürchtet die in den vergan-
genenJahren rasch gewachsene Macht derFirmen.
Was gedacht ist, um Stabilität zuschaffen,
könnte sich langfristig als destabilisierendePoli-
tik erweisen. Denn der Zangengriff derKommu-
nistischenPartei lähmt die innovativen Kräfte und
bremst somit dasWachstum. Die Unzufrieden-
heit in der Mittelschicht, derPeking einen steti-
gen Zuwachs anWohlstand imTausch gegenVer-
zicht auf politische Mitsprache versprochen hat,
dürfte zunehmen. Schon jetzt spüren viele Chine-
sen die nachlassende Dynamik. Die Unsicherheit
nimmt zu:15 Prozent wenigerAuslandreisen unter-
nahmen Chinesen etwa während der sogenannten
«goldenenWoche»Anfang Oktober;in zahlreichen
Branchen macht sich Kaufzurückhaltung breit.Vor
allem dieAutohersteller spüren das.
MancheBürger würden ih rer Heimat am liebsten
den Rückenkehren. Bei einer Umfrage der «Finan-
cial Times» gaben 22 Prozent der Befragten an, hät-
ten sie die finanziellen Mittel dazu, so würden sie
China verlassen. Bei den Befragten mit einemJah-
reseinkommen von mindestens 300000Yuan,umge-
rechnet knapp 43000 Franken, sind es fast 40 Pro-
zent.Was, wenn sich die Unzufriedenheit einesTages
in Protesten wie derzeit in Hongkong entlädt?
Um das Riesenreich wirtschaftlich zu festigen,
müsste diePartei zumindest ein Stück weit loslas-
sen, ein wenig ihrer Macht abgebenkönnen. Doch
dieWahrscheinlichkeit,dass dies passiert,ist zumin-
dest kurzfristig gering, denn die Kräfte, die sich für
solcheVeränderungen starkmachen, hat Xi in den
letztenJahren kaltgestellt.
China geht womöglich unsicheren Zeiten ent-
gegen. Die zunehmendeKontrolle undRepres-
sion bringen zwar Dissens zum Schweigen und
fördern gegenüber aussen das Bild eines stabilen
politischenSystems. Doch womöglich ist es wie mit
einemDampfkochtopf: Sorgt dieRegierung nicht
für ein funktionierendesVentil, durch dasrecht-
zeitigDampf entweichen kann,steigt die Gefahr
einer unkontrollierten Eruption. ChinasFührung
sollte das sinkendeWirtschaftswachstum zum An-
lass nehmen, tiefergreifendeReformen zu wagen
und der privatenWirtschaft und Bevölkerung mehr
Selbständigkeit undFreiheit zuzutrauen.

Auch erfolgreichen privaten


Technologiekonzernen wie


Alibaba legt die Partei


demnächst Fesseln an. Sie


fürchtet die in den


vergangenen Jahren rasch


gewachsene Macht


der Firmen.

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