Dienstag, 15. Oktober 2019 ZÜRICH UNDREGION 19
«Die meisten sind online nicht sehr professionell»
Laut Fabrizio Gilardi, Professor für Politikwissenschaften, hinktdie Schweiz imdigitalenWahlkampf dem Ausland hinterher
Herr Gilardi, RogerKöppel besucht in
seinemWahlkampf alle 162 Zürcher
Gemeinden. Ist eine solche Tournee im
digitalen Zeitalter überhaupt nochzeit-
gemäss?
ImWahlkampf geht es in erster Linie
umAufmerksamkeit.KöppelsRoad-
show wird in den Medien aufgenom-
men und hat deshalb ihren Zweck er-
füllt. Ich bezweifle aber, dass dieAuf-
tritte an sich eine grosseWirkung haben.
Sie gehen kaum über dieKernwähler-
schaft derSVP hinaus.
Haben Politikerinnen und Politiker
ohne Online-Präsenz heutzutage noch
eine Chance, gewählt zuwerden?
Der digitaleWahlkampf wird immer
wichtiger, definitiv.Aber längst nicht
alle Kandidierenden sind online.
Das überrascht.
Wir haben in unseren Studien am Digi-
tal Democracy Lab der Universität
Zürich geprüft, wie vieleder insgesamt
rund 4600 Nationalratskandidaten auf
Facebook nicht nur ein Profil, sondern
auch eine Seite haben, mit der sieWer-
bung schaltenkönnen. Nur bei ungefähr
zehn Prozent der Kandidierenden war
das derFall. Für uns war das ein Indika-
tor für die Professionalisierung des On-
line-Auftritts der Kandidierenden.
Wie lautetIhrFazit?
Die meisten Kandidaten sind online
nicht sehr professionell unterwegs.
Woran liegt das?
Praktisch alleParteien und Kandidie-
renden sind beim Umgang mit den
sozialen Netzwerken noch am Lernen.
Der CVP-Fail ist sinnbildlich dafür. Die
Aktion mit der negativenWahlwerbung
mitPolitikern andererParteien wurde
zum Bumerang.
DasVorgehen der CVP löste einen Shit-
storm aus. Doch bekanntlich soll schlechte
Werbung besser sein als gar keine.
Ob diePartei mit diesemVorgehen ins-
gesamt Stimmen gewonnen oder ver-
loren hat, ist nur schwer zu sagen.Das
erste Ziel ist, dass manAufmerksamkeit
generiert.Das ist der CVP gelungen.
Aber die Aktion hat dem Bild derPartei
widersprochen.Wenn dieSVP eine sol-
che Kampagne gemacht hätte, wäre es
vielleicht anders angekommen. Die CVP
präsentiert sich jedoch stets als verant-
wortungsbewusstePartei. Deshalb hat
diese Strategie nicht gepasst.
Ist der Einfluss von sozialen Netzwer-
ken auf denAusgang einerWahl über-
haupt messbar?
Das ist tatsächlich sehr schwierig.Der
kausale Effekt vom Einsatz der sozia-
len Netzwerke aufWahlresultate ist nur
sehr schwer nachzuweisen.Dazu müsste
man Experimente machen, dochdie gibt
es bis anhin noch nicht.
Wie sieht der digitaleWahlkampf im
internationalenVergleichaus?
Wir können unsereDaten nicht direkt
mit demAusland vergleichen. Aber
mein Eindruck ist, dass die Schweiz dem
Ausland hinterherhinkt.
Was müsste verbessertwerden?
Ob online oder offline: Der gesamte
Auftritt einerPartei und ihrer Kandi-
dierenden sollte sokohärent sein wie
nur möglich.Das ist in der digitalen
Welt aber nicht so einfach zu erreichen.
Einzelne Kandidaten haben einen gros-
sen Handlungsspielraum, der unter Um-
ständen nicht mit derParteilinie über-
einstimmt.
Woliegen die Schwierigkeiten?
Die sozialen Netzwerke funktionieren
dezentral. Jeder kann einsteigen und los-
legen.Auf der einen Seite hat man die
Parteien, auf der anderen die Kandidie-
renden.Beide verfolgen nicht unbedingt
eine einheitliche Online-Strategie. Für
dieParteien bedeutet das einen gros-
senKoordinationsaufwand – besonders
in der föderalistischen Schweiz,in der
jeder Kanton seine eigene Sektion hat.
Trotz allem:DiedigitaleWelt bietetauch
imWahlkampf vieleVorteile.
Bestimmt. Die Kandidierendenkönnen
mit tiefenKosten einsteigen und ganz
viele neue Dinge ausprobieren. Anders
als bei traditionellen Kampagnen müs-
sen nicht alle Plakate auf einmal be-
stellt werden, und man erhält ein direk-
tesFeedback. So kann dasVorgehen
laufend angepasst werden.
EinigePolitiker, zumBeispielDaniel
Jositsch oder Marionna Schlatter, ver-
leihen ihren Online-Auftrittenzudem
eine persönliche Note.
Soziale Netzwerkeermöglichen tatsäch-
lich, dass dieWähler eine Nähe spü-
ren. Die kann man natürlich inszenie-
ren. Einigengelingt dasbesser als ande-
ren. Das hatmit derPersönlichkeit, aber
auch mit denRessourcen zu tun. Sol-
che Dinge kann man lernen, oder man
kann sich die Expertise einkaufen. Bei
Personenwahlen stehen die Kandidie-
renden imVordergrund. Gerade hier
kann es eineRolle spielen, ob dieWäh-
ler einen Kandidaten sympathisch fin-
den und ihm vertrauen.
Was für Schlüsse könnenPolitiker aus
ihrem digitalenWahlkampf ziehen?
In den sozialen Netzwerken erhält man
einen Eindruck, was gut und was weni-
ger gut ankommt. Diese Erfahrungen
kannman imWahlkampf gut anwenden,
zum Beispiel bei einerPodiumsdiskus-
sion. Umgekehrtkönnen Impressionen
dieser Diskussion wieder online verbrei-
tet werden.
ZahlreicheFehltritte zeigen, dass soziale
Netzwerke mit Risiken verbunden sind.
Wäre mehrVorsicht geboten?
Ich denke, es lohnt sich, zu experimen-
tieren. Die sozialen Netzwerke nur
ganzkonservativ zu nutzen, ist viel-
leicht eine sichereStrategie,aber man
verpassteine Chance.
Wie unterscheiden sich die verschiede-
nen Plattformen in der Nutzung?
Facebook ist nach wie vor das soziale
Netzwerk,das in der Schweizammeis-
ten benutzt wird.Auchvon den Kan-
didierenden. Aber es gibt noch immer
fast einenViertel an Kandidaten, die
keinenFacebook-Auftritt haben. Bei
Twitter und Instagram ist es sogar weni-
ger als die Hälfte.
WirdTw itter überschätzt?
Der Einfluss vonTwitter in der Schweiz
wird zuRecht angezweifelt, weil die
Plattform nur von einem kleinen Anteil
Wählerinnen undWählern genutzt wird.
Doch der Einfluss funktioniert über die
traditionellen Medien, weilJournalis-
tenTwitter als Quelle gebrauchen. Es
ist aber gar nicht so einfach, auf ihrer
Agenda zu landen. Es besteht einWett-
bewerb: Alle wollen, viele versuchen,
nur wenigekönnen.
Die sozialen Netzwerke dürften künftig
aber immer wichtigerwerden.
Davon gehe ich aus, ja. DieFrage ist,
welche Kanäle genutzt werden. Die
Landschaft verändert sich sehrrasch.
Wer weiss, ob es in vierJahrenFacebook
undTwitter noch gibt?Wir können es
nicht wissen.
Werden Online-Auftritte die klassischen
Wahlkampfveranstaltungen dereinst er-
setzen?
Nein, nicht ersetzen. Es ist dieVerbin-
dung von Online- und Offline-Auftrit-
ten, die imWahlkampf so wichtig ist. Es
wird eine grosse Herausforderung sein,
dass die ErscheinungvonParteien und
Kandidierenden überallkohärent ist.
Viele setzen online auf Provokation.
Wirddeshalbauch der Umgangston im
analogenWahlkampf ruppiger?
DieseFrage geht über denWahlkampf
hinaus. In den sozialen Netzwerken sehen
alle, was prominentePolitikerinnen und
Politiker erzählen.Das verändert die Nor-
men – besonders, wenn es sich um jeman-
den wie den Präsidenten derVereinig-
ten Staaten handelt.WennTr ump ausfäl-
lig wird, dann hat das eine Signalwirkung
dafür, was salonfähig ist. Die Grenzen des
Anstands werden verschoben. ImWahl-
kampf,aber auch darüber hinaus.
Wie stark solltenFacebook und Co. in
IhrenAugen regulierend eingreifen?
Gegengewisse Diskursegreifen die
Plattformen ein, zum Beispiel bei IS-
Propaganda. AberesgibtFälle von Bei-
trägen, die nicht gelöscht werden, ob-
wohl sie eindeutigrassistisch sind. Die
Plattformen haben bereits wirksame
Filter für solche Inhalte geschaffen. Es
wäre technologischkein Problem, auch
rassistische Inhalte zu filtern.
Aber sie tun es nicht.
Genau.Dann müssten sie nämlich auch
viele Inhalte von gewähltenPolitikern
sperren.Das wäre natürlich sehr heikel.
Darüber hinaus ist es problematisch,
dass dieRegulierung der Sprache und
des politischen Diskurses den privaten
Firmen überlassen wird.Wollen wir als
Bürgerinnen und Bürger wirklich, dass
diese Plattformen bestimmen, was wir
sagen dürfen und was nicht?
Sehen Sie in den sozialen Netzwerken also
eine Gefährdung für dieDemokratie?
Diese Frage aus wissenschaftlicher
Sicht zu beantworten, ist extrem
schwierig, weil wir kaumDaten von
den Plattformen erhalten.Wir Forscher
sind von derWillkür derPlattformen
abhängig. Sie haben dieDaten, aber
wir erhalten nur begrenzten Einblick.
Dabei sind dieseFragen zentral für die
Öffentlichkeit–und im Endeffekt für
die Demokratie.
Interview: Nils Pfändler
SP-StänderatDanielJositschist onlinestarkpräsent, erreichtaberweniger Leute alsRogerKöppel von der SVP. A. ANEX / KEYSTONE
Follower, Fans und ein falsches Zitat
Die Zürcher Ständeratskandidatenbuhlen imNetz mit unterschiedlichem Erfolg umdie Gunst der Wähler
nil.·Tiana Moser verteilt an einem
frostigen Herbsttag auf dem Bürkliplatz
Gipfeli und Flyer. Ruedi Noser zieht in
Wädenswil von Haus zu Haus und ver-
sucht, die Bewohner vonsich und seiner
Politik zu überzeugen. NicoleBarandun
gehtaufFirmenbesuch in einer Gummi-
fabrik in Illnau. UndRogerKöppel hält
Vorträge in allen162 Gemeinden des
Kantons Zürich.
Die Aktionen der Zürcher Stände-
ratskandidaten zeigen:Wahlkampf ist
streng. Umso verlockender wirkt das
Versprechen der Digitalisierung. Ein
Klickgenügt, umpotenziellTausende
vonWählerinnen undWählern zuer-
reichen. Ganz so einfach ist das aller-
dings nicht, wie auch dieForschung von
Fabrizio Gilardi zeigt(siehe Interview).
Was alles schiefgehen kann, zeigt ein
aktuelles Beispiel der Zürcher SVP.
Wie der «Tages-Anzeiger» berichtet,
wurde einVideo derPartei, das Eri-
treer als Bedrohung für die Schweiz
darstellt,letzte Woche vonYoutube
gesperrt. Der Clip verstosse gegen die
Richtlinien zuHassreden, lautete die
Begründung der Plattform.
Die Online-Auftritte der sieben Zür-
cher Ständeratskandidaten unterschei-
den sich genauso stark wie ihre politi-
schen Ansichten. Einigen Kandidaten
gelingt es, über die sozialen Netzwerke
eine grosseAufmerksamkeit zu gene-
rieren. Andere hingegen werden in der
di gitalenWelt kaum gehört. Auf Twit-
ter hatRogerKöppel von allen Stände-
ratskandidaten mit Abstand am meisten
Follower. Rund 12 900Personen folgen
demSVP-Nationalrat – viele von ihnen
aus demAusland. Mit über 175000
Likes undRetweets istKöppel gar lan-
desweit derjenige Kandidat, der mit Ab-
stand die höchsteResonanz erhält.Das
zeigt eine Studie des Digital Democracy
Lab.Dabei nutztKöppel die Plattform
häufig auch zu beruflichen Zwecken.
Mehr als die Hälfte seinerTweets ver-
weisen mit dem Hashtag #weltwoche
auf seineWochenzeitung.
Hinter dem SVP-Politiker fol-
genRuedi Noser, DanielJositsch und
Tiana Moser, die alleFollower-Zahlen
im vierstelligen Bereich aufzuweisen
haben. Abgeschlagen auf dem letzten
Platz liegt NicoleBarandun, derkeine
200 Personen folgen.Aufschlussreich ist
auch ein Blick auf dieKurzbiografien, in
denen sichdie Kandidaten aufTwitter
selber beschreiben. BeiDanielJositsch
steht kurz und knapp «Ständerat». Köp-
pel verzichtet auf einen Beschrieb sei-
nerPerson, hat dafür aber dieWebsite
der«Weltwoche» verlinkt. Noser be-
zeichnet sich selber als «Unternehmer,
Politiker, Querdenker, innovativerKopf
und überzeugter Liberaler».
Der EVP-Kandidat Nik Gugger
nimmt es in seinerTwitter-Bio mit der
Wahrheit nicht ganzsogenau. «Gemäss
NZZ vom 20. 8. 20 14 ein ungeschliffe-
ner Diamant», steht dort geschrieben.
Was als Zitat der «Neuen Zürcher Zei-
tung» daherkommt, war allerdings eine
Aussageder EVP-Parteileitung,welche
diese Zeitung vor fünfJahren lediglich
zitierte.AufFacebook, dem nach wie
vor beliebtesten sozialen Netzwerk in
der Schweiz, sieht dieLage ähnlich aus.
DieFanseite «NationalratRogerKöp-
pel» hat die meisten Mitglieder (rund
14000 ),Barandun liegt auch hier auf
dem letzten Platz.
Auffällig ist, dass die Ständerats-
kandidaten auf Instagram, das vorwie-
gend von jungen Leuten genutzt wird,
noch wenig bis gar nicht aktiv sind.
Die grüneParteipräsidentinund Pilz-
kontrolleurin Marionna Schlatter ist
die Einzige,die bishermehr alshun-
dertBeiträge gepostet hat – viele da-
von sindFotos von Pilzen. Die bild-
lastige Plattform scheint in der Zür-
cherPolitik noch nicht wirklich ange-
kommen zu sein.
Fabrizio Gilardi
Politologie-Professor
PD Univers ität Zürich
Nationale Wahlen
vom 20. Oktober