Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

Dienstag, 15. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 23


Onli ne-Händler Zalando will eine P lattform für Brands


werden und mehr Frauen ins Management holen SEITE 25


Schottische Firmen befinden sich wegen des Brexits


in einer verzwickten Lage – zwei Chefs berichten SEITE 27


Wirtschaftsnobelpreis für Armutsforscher


Dank Abhijit Baner jee, Esther Duflo und Michael Kremer geht es Millionen vonMenschen besser


INGRID MEISSL ÅREBO,STOCKHOLM


Der Inder AbhijitBanerjee (1961), die
Französin EstherDuflo (1972) und der
Amerikaner Michael Kremer (1964) er-
halten den diesjährigenWirtschaftspreis
der schwedischenReichsbank im Ge-
denken an Alfred Nobel. Die dreiFor-
scher werden für ihre Arbeiten ausge-
zeichnet, die die Bekämpfung der globa-
len Armutrevolutioniert haben. Dievon
ihnen initiiertenFeldexperimente hät-
ten die Entwicklungsökonomie innert
zweierJahrzehnte in ein blühendesFor-
schungsfeld verwandelt, erklärte Göran


Hansson, Generalsekretär derkönig-
lichenWissenschaftsakademie in Stock-
holm, am Montag. Hansson wies darauf
hin, dass weltweit über 700 Mio. Men-
schen in extremer Armut lebten,eins
von fünf Kindern vor seinem fünften
Lebensjahr stirbt, und die Hälfte aller
Kinder die Schule verlässt, ohnerichtig
lesen, schreiben undrechnen zukönnen.


Gezielte Hilfe statt Giesskanne


Die zum 51.Mal vergebeneAuszeich-
nung – diekein eigentlicher Nobelpreis
ist, aber wie dieser mit Medaille, Diplom
und 9 Mio. sKr. (rund 920 000 Fr.) be-
gleitet wird – steht heuer in Einklang
mit Alfred NobelsWillen: jeneForscher
zu belohnen, die «der Menschheit (im
vergangenenJahr) den grösstmöglichen
Nutzen erbracht haben». Den Arbeiten
Kremers und desForscher- und Ehe-
paarsBanerjee undDuflo sindkonkrete
Massnahmen zu verdanken, von denen
Millionen Menschen profitieren, zudem
tragen sie zueinem Umdenken vonPoli-
tikern und Hilfsorganisationen bei.
DieLaureaten haben die Armuts-
bekämpfung insofern revolutioniert,
als sie das Hauptproblem in kleinere,
handhabbareBereiche aufteilten.Wird
Armut durch mangelnde Bildung ver-
ursacht, durch Probleme in der Grund-
versorgung oder im Gesundheitswesen,
durch Geldmangel oder eineKombina-
tion davon?Wie sind diese Probleme am
besten anzugehen, warum funktionieren
einige Massnahmen und andere nicht,


und übersteigt der Nutzen dieKosten
der Entwicklungshilfe? So lauten etwa
dieFragestellungen, mit denen sich die
moderne Armutsforschung befasst.
Michael Kremer, Wirtschaftspro-
fessor an der Harvard-Universität, hat
Mitte der neunzigerJahre die Entwick-
lungsforschung erstmals vom stillen
Kämmerchen an den Ort des Gesche-
hens verlegt. Kremer und seineKolle-
ge n wollten herausfinden, wie sich der
Schulerfolg am besten und billigsten
verbessern lässt. Die Ökonomen be-
gaben sich nachKenya, um zusammen
mit einer lokalen Nichtregierungsorga-
nisation dieAuswirkungen unterschied-

licher Massnahmen in Experimenten
zu prüfen.Dazu wählten sie eine grosse
Zahl von Schulen aus, die nach dem Zu-
fallsprinzip und zu unterschiedlichen
Zeiten zusätzlicheRessourcen erhiel-
ten. DieFeldstudien zeigten, dass weder
Gratisessen noch mehr Lehrbücher die
Lernergebnisse nachhaltig verbessern
konnten. Der Schlüssel zum Erfolg ist
vielmehr ein Unterricht, der sich den
Bedürfnissen undVoraussetzungender
Schüleranpasst.
Warum dies so ist, zeigten spätere
Experimente, an denen unter anderem
Banerjee undDuflo beteiligt waren. Die
heute alsWirtschaftsprofessoren am

Massachusetts Institute ofTechnology in
Cambridge (USA) lehrendenForscher
untersuchten in zwei indischen Städ-
ten, ob der Einsatz von Lehrerassisten-
tenVerbesserungen im Klassenzimmer
bringt. DieFeldstudien zeigten, dass Zu-
satzhilfe für die schwächstenSchüler ein
sehr wirksames Instrument ist.
Auf die erstenFeldexperimente in
Indien undKenya folgte eineVielzahl
von Studien in anderen Entwicklungs-
ländern. DieForschung desTr ios krem-
pelte die Arbeitsweise von Entwick-
lungsökonomen völlig um;Feldexperi-
mente gelten heute als Standardmethode
zur Bekämpfung von Armut, egal, ob es

um Massnahmen in derLandwirtschaft,
Zugang zu Krediten oderReformen im
Gesundheitswesen geht.Dahinter steckt
die Einsicht, dass Entwicklungshilfe nur
funktioniert, wenn man versteht, wie die
betroffenen Individuen denken und ent-
scheiden. DieFeldexperimente ermög-
lichen es, nicht nur zu evaluieren, ob
eine Massnahme funktioniert, sondern
auch, warum dies derFall ist.Was in der
(Entwicklungs-)Ökonomie eineRevo-
lution auslöste, ist in der medizinischen
Forschung gang und gäbe: Medikamente
werden imRahmen klinischer Studien
seitJahrzehnten an Experimental- und
Kontrollgruppen getestet.
Kremer, Duflo und Banerjee, die
viel gemeinsam forschten, sind wichtige
praktische Erkenntnisse für die Armuts-
bekämpfung zu verdanken.Dank den
erwähnten Studien zumFörderunter-
richt hat Indien ein Programm lanciert,
das über 5 Mio. Kindern an über 100000
Schulen zugutekommt. DieFeldexperi-
mente zeigten auch, wie wichtig die Ab-
senzenquote des Lehrpersonals ist. Er-
halten Lehrer beschränkte Arbeitsver-
träge mit derAussicht aufVerlängerung,
strengen sie sich im Unterricht mehr an
und fehlen weniger oft.
Experimente im Bereich des Ge-
sundheitswesens haben gezeigt,dass
arme Menschen sehr preissensibel sind,
wenn es um präventive Massnahmen
geht. Bei Impfungen wird dieDurch-
impfungsrate zudemvon häufigenAb-
wesenheiten desPersonals beeinflusst.
Banerjee undDuflo testeten, ob mit
mobilen Impfzentralen bessereResul-
tate erzielt werdenkönnen. In den zufäl-
lig ausgewählten Dörfern stieg die Impf-
rate von 6 auf18%. Noch höher, nämlich
auf 39%, stieg diese Quote, wennFami-
lien, die ihre Kindern impften, als Bonus
einen Sack Linsen erhielten.

Die Jüngste aller 84Laureaten


Die Wissenschaftsakademie musste
heuer für einmalkeine Kritik einstecken
für die Absenz weiblicherLaureaten.
Generalsekretär Hansson stellte jedoch
klar: «EstherDuflo erhält den Preis für
ihreForschung und nicht, weil sie eine
Frau ist.» Die erst zweiteÖkonomin ist
auch dieJüngste aller 84Laureaten. Die
an der Pressekonferenz zugeschaltete
Duflo betonte die enormekollektive
Arbeit Hunderter Armutswissenschaf-
ter undTausenderFeldforscher: «Unser
Netzwerk ist grösser als nur wir drei.»

Aufden Arbeiten der dreiForscher basieren Schulprogramme für Kinder wie dieseLernwerkstatt in Kaschmir. DAR YASIN / AP

Abhijit Banerjee
Leiter des Abdul
Latif Jameel
NZZ Poverty Action Lab

Esther Duflo
Professorin für
Armutsbekämpfung
und Entwicklungs­
NZZ ökonomie am MIT

Michael Kremer
Wirtschaftsprofessor
an der Universität
AP Harvard

Liberty Global versucht den Deal mit Sunrise zu retten


Das UPC-Mutterhaus beteiligt sich mit bis zu einer halben Milliarde Franken an Sunrise – grösster Einzelaktionär Freenet spricht voneinem Trick


STEFAN HÄBERLI


An einemWochenende kann viel passie-
ren. Noch amFreitag schien die Über-
nahme des Kabelnetzbetreibers UPC
durch Sunrise stärker gefährdet denn je.
Der Stimmrechtsberater ISS hatte den
Aktionären derTelekomfirma emp-
fohlen, den 6,3 Mrd.Fr. teuren Deal
abzulehnen.Daan der ausserordent-
lichen Generalversammlung (GV) vom



  1. Oktober ein knappes Abstimmungs-
    resultat erwartet wird, ist die Haltung
    der Stimmrechtsberater möglicherweise
    matchentscheidend.
    Am Montag sah das Bild aus Sicht
    der Sunrise-Spitze wieder etwas heller
    aus: Zum einen hat sich Glass Lewis,
    ein anderer bedeutender Stimmrechts-
    berater, hinter das Kaufvorhaben ge-
    stellt. Zum anderenkonnte Liberty
    Global, der UPC-Eigner, davon über-
    zeugt werden, sich mit bis zu 500 Mio.


Fr. an Sunrise zu beteiligen. DerVer-
käufer verspricht dem Kaufinteressen-
ten damit, ihm bei derFinanzierungder
Tr ansaktion unter die Arme zu greifen.
Liberty Globalwirdentwederander
Börse gehandelte Bezugsrechte oder
neu ausgegebene Aktien kaufen – vor-
ausgesetzt, dass die GV den Deal durch-
winkt und die Kapitalerhöhung in Höhe
von 2,8 Mrd.Fr. stattfindet. Die Ameri-
kaner müssen nur zugreifen, wenn der
Marktpreis unter dem theoretischen
Preis liegt, der am Abendvor der GV
errechnet wird.

ÜberraschendeWende


Falls die Beteiligung an Sunrise die ver-
einbarte Obergrenze von 500 Mio. Fr.
erreichen sollte, würde das UPC-Mut-
terhaus – falls es nicht zu grösserenVer-
schiebungen im Aktionariatkommt –
zum zweitgrössten Sunrise-Aktionär

aufsteigen. DieVereinbarung sieht zu-
dem vor, dass die amerikanischen «Ka-
belcowboys» einen Kandidaten für den
Sunrise-Verwaltungsrat vorschlagen,
falls sie nach der Kapitalerhöhung mehr
als 5% der Anteile am Mobilfunkanbie-
ter halten.Das letzteWort hätte die
ordentliche GV imkommenden April.
Die Vereinbarung ist eine über-
raschendeWende. Denn dass der Kauf-
preis in bar (sowie durch die Über-
nahme von UPC-Schulden) beglichen
werden soll, wurde von Gegnern der
Tr ansaktion seit deren Ankündigung im
Februar bemängelt.Das Risiko, dass die
Synergien zwischen Sunrise und UPC
kleiner als erhofft ausfielen, werde aus-
schliesslich von der Käuferin Sunrise ge-
tragen. DieVerkäuferin Liberty Global
lege einen «französischen Abgang» hin,
argumentierten sie.
Der angekündigte Kauf von Sunrise-
Aktien durch Liberty Global dürfte ein

Versuch sein, solche Bedenken zu zer-
streuen.WenigeTage vor dem Show-
down an der Generalversammlung im
Zürcher Hallenstadion signalisiert die
Verkäuferin:Wir sagen nicht nur, dass
wir an dieSynergien glauben.Wir wer-
den künftig auch mit den Sunrise-Aktio-
nären im selben Boot sitzen.Wenn der
Zusammenschluss schlechter als erwar-
tet funktionieren wird, dann spüren auch
wir das imPortemonnaie.

«Vergiftetes Geschenk»


Für ChristophVilanek, den Chefdes
grössten Sunrise-EinzelaktionärsFree-
net, hat sich indessen gar nichts ge-
ändert. Er lehne dieTr ansaktion samt
Kapitalerhöhung weiterhinab, sagte er
der NZZ am Montag. Es handle sich
um eineVerzweiflungstat von Liberty
Global, um den Deal in letzter Sekunde
zuretten.Das Angebotkomme nicht

nur zu spät, sondern es sei ein «ver-
giftetes Geschenk»: Die Emission der
Aktien werde von denKonsortional-
banken ohnehin garantiert. Die Betei-
ligung der Amerikaner ändere an der
Verwässerung derTitel von Bestandes-
aktionären nichts.Falls der Deal statt-
finde,werde sich Liberty Global zu
Billigstpreisen mitSunrise-Aktien ein-
deckenkönnen. Beim Angebot handle
es sich um einen«Trick aufKosten der
Kleinaktionäre».
Auch der aktivistische Investor
Active Ownership Capital (AOC) hält
amWiderstand gegen den Deal fest.Für
AOC-Partner Florian Schuhbauer ist die
Ankündigung zudem «das Gleiche wie
der Erwerb von Aktien». Und imFalle
einer Beteiligung von Liberty Global an
Sunrise sehe die Kaufvereinbarung vor,
dass das Quorum der nötigen Stimmen
füreinJaander GV von einer einfachen
auf eine Zweidrittelmehrheit steige.

Experimente
gege n dieArmut
Kommentar auf Seite 11
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