Dienstag, 15. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 25
Zalando will zum «Spotify für Mode» werden
Der Online-Händler mausert sich zur Plattform für grosse Marken und formuliert ambitiöse Frauenquoten-Z iele
NATALIE GRATWOHL,
RENÉHÖLTSCHI, BERLIN
Als Lisa Miczaika vor vierJahren beim
Online-Händler Zalando in Berlin zu
arbeitenbegann, war sie 31Jahrealt.
Heuteleitet sie alsVerantwortliche für
denzentraleuropäischen Markt einTeam
von 60 Angestellten. Ihre steile Karriere
steht inKontrast zu demRuf, den das
Unternehmen bisher bezüglich der Ge-
schl echterbalance hatte.So nannte der
Geschäftsbericht2018 als «Zielgrösse
derFrauenbeteiligung» bis Mitte 2022
für dieVorstandsebene «0%». Zwar be-
tont Zalando, man habe damals den –
ausschliesslichmännlichen–Vorstand
soeben neu bestelltund deshalb für diese
Führungsebenekein Ziel für diesePeri-
ode setzen wollen, was zu dieser Null
geführt habe. In den Medien und in der
Aussenwelt kam dies aber als Signal an,
dassFrauen unerwünschtseien.
Ein reines Männergremium
Sie habe sich schon über dieFormulie-
rung gewundert, sagt Miczaika im Ge-
spräch in derKonzernzentrale im Berli-
ner StadtteilFriedrichshain, die mit ihren
gläsernen Grossraumbüros, Dachterras-
sen und Kicker-Tischen ein wenig an
Google erinnert. UnterKolleginnen sei
diesaber weniger einThema gewesen als
in der öffentlichenWahrnehmung. «Die
Realität ist eine andere», sagt sie zur Be-
gründung, «dieFirmenkultur ist divers,
und gerade werden besonders viele
Frauen befördert.» In den oberen Eta-
gen sind sie allerdings noch nicht ange-
kommen.Auf der erstenFührungsebene
nach demVorstand beträgt derFrauen-
anteil 11%.Auf der zweitenFührungs-
ebenesindes 16%. Dass der fünfköpfige
Vorstand wie erwähnt ausschliesslich mit
Männern besetzt ist, hat damit zu tun,
dass dort auch die Gründer sitzen.
Doch jetzt hat Zalandoreagiert und
sich bis Ende 2023 neue Geschlechter-
ziele gesetzt,die an diesem Dienstag
kommuniziert werden.Auf jederStufe
der ersten sechsFührungsebenen inklu-
siveAufsichtsrat sollen 40 bis 60% der
Mitglieder männlich beziehungsweise
weiblich besetzt werden. Das Ziel ist
laut Miczaika gut erreichbar, bis auf
denVorstand. Ohne Abgänge müsste
dieserumvierFrauen erweitert wer-
den, um das angepeilteVerhältnis zu
erreichen.
Dem Online-Giganten gehtesbei den
Geschlechterzielen vor allem darum, für
Talente attraktiv zu sein.Das 2008 ge-
gründete Unternehmen beschäftigt mitt-
lerweile14 000Angestellte. Allein auf
dem «Campus» in Berlin arbeiten 60 00
Mitarbeiter aus über 130Ländern, rund
ein Drittel davon im BereichTechnologie.
«DieTechnologie ist der Schlüssel,
um unsereVision zu erreichen», sagt
Miczaika, diezuvor in London beim
UnternehmensberaterAccenture im Be-
reich Marketing undVertrieb gearbei-
tet hat. Europas grösster Online-Mode-
händler begibt sich auf die Spuren des
Streaming-Anbieters Spotify, der das
Musikgeschäft umwälzt. BeimThema
Mode sollten dieKunden als Erstes an
Zalando denken, wie dies bei Spotifyim
Bereich Musik derFall sei, erklärt Mic-
zaika.Auch der Online-Auftritt wird
wie bei Spotify dank dem zunehmen-
den Einsatz von künstlicher Intelligenz
immerstärker personalisiert sowie den
Modetrends angepasst.Zudem unter-
stützen Computer etwa die Stylisten, die
für Kunden Outfits zusammenstellen.
Mittlerweile hat Zalando mehr als
28 Mio. Kunden. Die grosse Zahl von
Nutzern ist essenziell für das Plattform-
modell, das die Berlinerrasch vorantrei-
benwollen. Plattformen vermitteln zwi-
schen Herstellern undKunden, ohne
die Funktion des Händlers zu überneh-
men. So bringt etwa der Online-Gigant
Amazon aufseinem Marktplatz Anbie-
ter undKunden zusammen. Zalando
hat dafür dasPartnerprogramm ent-
wickelt. Über dieseskönnenKunden
via Zalando-App direkt bei Marken
wie Esprit,Tommy Hilfiger oder Dry-
korn einkaufen. Für Zalando hat dies
denVorteil, vieleProdukte anbieten zu
können, ohne dasWarenrisiko tragen zu
müssen.Das Berliner Unternehmen ver-
dient für dieVermittlung eineKommis-
sion und bietet den Herstellern bei Be-
darf Dienstleistungen im Bereich Logis-
tik und Marketing an.
Retourensind Teil de s Modells
Zalando erzielt mit demPartnerpro-
gramm derzeit erst rund 10% des Um-
satzes. Der Löwenanteil entfällt so-
mit immer noch auf das herkömmliche
«Wholesale»-Geschäftsmodell, bei dem
Zalando dieWare einkauft und an Ein-
zelkunden weiterverkauft. Bis 2023/24
soll indessen der Anteil desPartner-
programms auf 40% wachsen. DerVor-
teil einerPlattform wirdumso grösser,
je mehr Anbieter undKonsumenten sie
anzieht. Die Herstellererreichen da-
mit auf einfacheWeise einegrosse Zahl
an Kunden, gleichzeitig besteht jedoch
die Gefahr der Abhängigkeit.Je mehr
Kunden eine Plattform nutzen, desto
höher ist die Marge, die derVermittler
abschöpfen kann. Zudem lässtsich das
Geschäft gut skalieren.
Im vergangenenJahr hat Europas
grösster Online-Modehändler bei einem
Umsatz von 5,4 Mrd. € ein Betriebs-
ergebnis auf Stufe Ebit von 119Mio.€
erzielt. DieKosten für dieLagerhaltung
und dieRetouren fallen dabei ins Ge-
wicht.Rund die Hälfte der Produkte
wird zurückgeschickt, was für denKun-
den gratis ist. 97% derRetouren werden
laut Zalando aufbereitet und gehen wie-
der in denVerkauf, vomRest wird der
Hauptteil in eigenen Outlets vertrieben.
«DieKosten für dieRetouren interessie-
ren mich am wenigsten», sagt Miczaika.
Diese seienTeil des Geschäftsmodells
ähnlich wie etwa die Mieten bei her-
kömmlichen Händlern.
Ihr Fokus liegt vielmehr auf denKun-
den. Sie sieht etwa in den von ihr verant-
worteten Märkten Deutschland, Öster-
reich, Schweiz,Polen undTschechien
von der Einführung einer Mindest-
bestellmenge ab, weil sie dieKunden
nicht verärgern will – und weil es nicht
nötig sei. In Italien hat Zalando dagegen
einen Mindestbestellwert eingeführt, um
dem Margendruck zu begegnen. In der
Schweiz experimentiert Zalando mit
«same-day-delivery»: Seit Ende Juni
werden diePakete bestimmterKunden
im Raum Zürich noch amTag der Be-
stellung von einemLager im grenznahen
deutschenLahr ausgeliefert. DerTest sei
bisher gut verlaufen, sagt Miczaika. Ende
Jahr werde aufgrund derRückmeldun-
gen derKunden über eineAusweitung
der Versuchsphase entschieden.
Der Online-Händler liefert bereits
seit Anfang 2011 in die Schweiz.Der
Umsatz ist in den vergangenenJahren
kräftig gestiegen und wird derzeit auf
rund 800Mio.Fr. geschätzt.Damit gilt
Zalando hierzulande als grösster Mode-
händler, ohne auch nur einen Quadrat-
meter Fläche zu betreiben. InKonstanz
ist allerdings für 2020 ein Outlet-Ge-
schäft geplant, das auch auf Schweizer
Einkaufstouristen abzielt.
Schminkkursein P op-up-Stores
«Wir arbeiten mit Hochdruck daran,
das Schweizer Sortiment auszuweiten»,
betont Miczaika.Dazu gehöre auch der
BereichKosmetik.Ähnlich wie in Ber-
lin sind hierzulandePop-up-Stores ge-
plant, in denen beispielsweise Schmink-
kurseangeboten werden. Ein Zeitpunkt
für dieLancierung ist allerdings noch
nicht bestimmt. ImVergleich mit ande-
ren Ländern kaufenin der Schweizauf-
fallend viele jungeFrauen im Alter zwi-
schen 20 und 30Jahren bei Zalando ein.
Künftig soll das Angebot für ältere Kun-
dinnen, Männer und Kinder ausgebaut
werden.Auch sollen teurere Marken ins
Sortiment aufgenommen werden.
Alle diese Pläne setzen Miczaika und
ih rTeam von Berlin aus um. Zwar be-
schäftige sie Schweizer,die sich auf dem
heimischen Markt auskennten, sagt die
Chefin. Aber wichtiger als eine stän-
dige Präsenz vor Ort seien die enge Zu-
sammenarbeit und die kurzenWege am
Hauptsitz.
In der Zentrale von Zalando inBerlinsollen bald mehrFrauenindie Chefetage einziehen. JACOBIA DAHM / BLOOMBERG
Reisende aus dem Reich der Mitte stellen hohe Ansprüche
Um das Geschäft mit chinesischen Touristen auszubauen, kooperiert ein Schweizer Reisev ermittler mit einer Tochter des mächtigen Alibaba-Konzerns
MATTHIAS KAMP
Jeffre y Wang sucht wieder einmalPer-
sonal. Der Chinese steuert vonPeking
aus das Geschäft derReiseplattform
Fliggy-Shop,einerTochterdes Alibaba-
Konzerns, mit zuletzt fast 40 Mrd. $ Um-
satz einer derTech-Giganten Chinas.
«Die Nachfrage bei uns steigt schnell,
darum brauchen wir neue Mitarbeiter»,
sagtWang.Ähnlich wie bei der Platt-
form BookingkönnenReisende über
das Fliggy-Portal unter anderem Flug-
undBahnreisen, Hotelübernachtungen
undTickets für Sehenswürdigkeiten bu-
chen.Knapp fünfJahrenach dem Start
hat Fliggy mehr als 200 Mio. Nutzer,
Tendenzrasch steigend.
Dies ist mit ein Grund, warum
einer der grösstenReisevermittler der
Schweiz, dasSwitzerlandTravel Centre
(STC), seit einiger Zeit mit der Alibaba-
Tochter zusammenarbeitet. Um durch-
schnittlich15%wächst das Geschäft bei
STC mit chinesischenTouristen jedes
Jahr. Lag der Umsatz im China-Geschäft
2017 noch bei7, 5 Mio. Fr., waren es 20 19
schon 9 Mio. Fr.; derTourismus aus
China,Taiwan und Hongkong macht in-
zwischen rund 10% am Gesamtgeschäft
desReisevermittlers aus – die Schweiz
liegt bei Chinesen imTrend.
Sie bleiben sechsbis zehn Tage
Zürich, das Berner Oberland und Genf
sind die beliebtesten Ziele. Kräftige Zu-
wächse verzeichneten jüngst aber auch
das Wallis und Graubünden. Doch das
Reiseverhalten der chinesischenTou-
risten ändert sich. Inzwischen blei-
ben dieReisenden aus demReich der
Mitte zwischen sechs und zehnTage in
der Schweiz. Und siereisen immer öfter
individuell statt wie noch vor wenigen
Jahren in der grossen Gruppe.
DieReisegruppe mit vierzig und
mehrTouristen, die sechs europäische
Länder in fünfTagen abklappert, zwi-
schenTurbo-Lunch mit billigem triefen-
dem Schweinefleisch und ein paarFotos
vor der Karl-Marx-Statue inTrier noch
schnell einPower-Shopping einschiebt,
weicht immer mehr anspruchsvollen
Individualreisenden. «Sicher, es gibt sie
noch, diePauschaltouristen mit wenig
Zeit», sagtFliggy-ManagerWang.Vor
allem Chinesen aus dem weniger ent-
wickelten Hinterlandreisen noch so. In
der Gruppe fühlt man sich eben sicherer.
Chinesen der wohlhabenden Mittel-
schicht aus dem Osten desLandesrei-
sen dagegen immer öfter allein oder mit
derFamilie. «Und sie verlangen nach
Erlebnissen», sagtWang. Zum Beispiel
nach einem Besuch auf demJuckerhof
im Zürcher Oberland. ZwischenTier-
gehegen mit Ziegen und Hasen, einem
Hofladen mit Bioprodukten und einem
Restaurant mit frisch Grilliertemkön-
nen die Besucher ihr eigenes Stockbrot
backen, aufden Wiesen entspannen
oder zwischen Apfelbäumen spazieren
- SchweizerLandleben als Event für
gestresste Städter ausPeking, Schang-
hai und Shenzhen.
Das Jungfraujoch istBestseller
Die steigendePopularität vonPortalen
wie Fliggy ist direkteFolge desTrends
zu Individualreisen. Chinesen buchen
sich die einzelnenKomponenten wie
Tickets und Übernachtungen individuell
zusammen. Insgesamt15 Schweizer Pro-
dukte vertreibt das chinesischePortal,
Bestseller sind derSwiss-Travel-Pass, das
Jungfraujoch und die Gornergratbahn.
Fabian Bryner, Mitglied der Geschäfts-
leitung beiSTC, macht beim Buchungs-
verhalten drei Evolutionsstufen aus: Zu-
nächst werdenPauschalgruppenreisen
gebucht,später buchen Individualrei-
sende ein Gesamtpaket, am Ende sämt-
liche Bestandteile separat. Bryner sagt:
«Die Chinesen haben die zweite Stufe
übersprungen.»
Doch der chinesische Kunde ist
nicht einfach. Bevor er kauft, prüft er,
checktsämtlicheRankings und Bewer-
tungen im Internet und stellt vieleFra-
gen. Zu durchschnittlich zwanzigKon-
taktenkommt es auf demPortal Fliggy,
bevor er kauft. MancheTouristen haben
zudem ausgefallene Sonderwünsche. Da
muss für das richtige Bild vormJung-
fraujoch schon einmal der eigeneFoto-
graf aus China mitreisen. Bryner sagt:
«Der chinesischeKunde emanzipiert
sich schnell.»
Das gilt auch für die Art derFerien,
die Chinesen bevorzugen. Derzeit berei-
tet man sich beiSTC auf den Ansturm
von Skifahrern aus China vor – einem
Land ohne jedeWintersporttra dition.
Lisa Miczaika
Verantwortliche
für den Markt
PD Zentraleuropa