Dienstag, 15. Oktober 2019 FEUILLETON 35
Japanischer Spielwitz beschwingt Biel
Die Mark e Swatch macht international Furore, diesmal mit Architektur.Von Sabi ne von Fischer
Dinge neu erfinden, bis sich dieBalken
biegen,und das Holz dann über ein riesi-
ges Grossraumbüro spannen:Swatch hat
es getan, allenKonventionen zumTrotz,
und ihren neuen Hauptsitz so gebaut.Es
könnte auch eineTennisarena oder ein
U-Bahnhof sein. Aber es ist ein Gross-
raumbüro. Wird hier das Büro neu ge-
dacht? Hoffentlich. Kritischer wäre es
nämlich, wenn Architektur nur noch
Fotokulisse für die vielen internationa-
len Pressefotografen wäre, die alle willig
zurgrossangelegtenKonferenzanreisten.
Für den Entwurf der neuestenAttrak-
tion der Stadt Biel haben die Nachkom-
men des legendären NicolasG. Hayek
den Stararchitekten ShigeruBan enga-
giert .Der Japaner hat ihnen ein Haus
gezeichnet, wie es die Schweiz noch
nicht gesehen hat und dasdieArchitek-
tur dreifach ans Extrem führt: mit einer
endlos wirkendenWabenhülle, die das
Bürohaus wie einFussballstadion ein-
kleidet; mit einerTragstruktur, die fast
2000 Kubikmeter einheimisches Holz
verbaut; und mit einer offenen Büro-
landschaft für 400 Leute.
Weder Schlange noch Schnecke
Wie eine Schlange, eine Nacktschnecke
(«Bluttschnägg») oder sogar ein Dra-
che sehe die lange,organischeFigur der
Swatch-Headquarters aus, meinen die
Ortsansässigen. Doch der Architekt Shi-
geruBanwillvondiesenMetaphernnichts
wissen.Vielmehr folge derBau nur den
Parzellengrenzen, und dieSwatch-Uhren
(vondenenesbisheute9154verschiedene
Modelle gibt) hätten ihn inspiriert: «Der
Bogen ist von den Spielereien vonSwatch
hergeleitet.Zwar ist der Mechanismus im
Innern immer der Gleiche, aber dasÄus-
serekann sichverändern.»
Auf dem Areal derSwatch Group
wurde in den letztenJahren beidseitig des
historischenUhrencampusfür220Millio-
nen Franken gebaut: erst stadtseitig eine
neue Manufaktur für Omega, dann im
NordendieCitéduTempsundeinPavillon
für das Publikum, schliesslich als grösste
Attraktion der neueSwatch-Hauptsitz in
einem240 Meter langen Hallenbau. So
verschieden die einzelnen Gebäude sind,
sie sind alle von ShigeruBan entworfen,
und so phantasiereich die Assoziationen
zur Hallenhülle des Hauptsitzes sind, so
einfühlsam ist das Ensemble in dieLand-
schafteingebettet.
Geht man in Biel dem Schüss-Kanal
entlang, folgt man erst den langen und
geradenFassaden imRaster der Stadt,
geformt im19.Jahrhundert nach den
Regeln von Industrie undWasserkraft.
Doch wo der Schleusenweg hinter dem
Stadtpark stadtauswärts führt und die
Wohnhäuser von Uhrenfabriken abge-
löst werden,beginnt das 21.Jahrhundert.
Die riesigen, nach oben gerichte-
ten Chromstahltrichter an derFassade
der bereits 2017 eingeweihten Omega-
Manufaktur lassen schon erahnen, dass
etwas passiert ist. Hier ist die Irritation
noch subtil,der japanische Spielwitz
setzt erst ein.Die letzte Etappe nördlich
des bestehenden Uhrencampus erklärt
dann unmissverständlich das Ende des
industriellenRasters: Diese organische
Form hat in Biel nochkein Gegenüber.
Zugleich Low-undHightech
Bans Freude an Spielereien ist schon
an derFassade ablesbar. In einer freien
Komposition ist das hölzerneWaben-
muster mit unterschiedlichen Elemen-
ten gefüllt: mitFenstern, Photovoltaik-
Elementen (PV) undETFE-Luftkis-
sen (einemTeflon-Derivat, das man von
Fussballstadienkennt).Die halbtranspa-
renten Kissen hat der japanische Archi-
tekt hier zum ersten Mal eingesetzt, vor
allem, weil sie so leicht sind und die
Traglast auf den 4600Balken aus Brett-
schichtholzreduzieren.Durch die PV-
Einheiten dringt garkein Licht, deshalb
sind dieseüber demWarenlager im hin-
terstenTeil vermehrt eingesetzt.
Ob seineArchitektur sich nun von
Lowtech zu Hightech weiterentwickelt
hat? Berühmt wurde er nämlich mit
einem kleinenWohnhaus mit wehen-
dem Riesenvorhang und Museen, Kir-
chen und Flüchtlingsunterkünften aus
Kartonrollen. 2000 gelang ihm mit dem
japanischenPavillon an derWeltaus-
stellung in Hannover, einem Gewölbe
aus Kartonröhren und Holz, derDurch-
bruch in Europa. 2005 versetzte das
Nomadic Museum mit einerWaben-
wand aus gestapelten Containern in den
Häfen von NewYork und Santa Monica
ganz Amerika in Staunen. Die Karton-
rolle blieb ShigeruBans Markenzeichen.
«Nein, nein!»antwortet er. «High-
tech und Lowtech haben mich schon
immer gleich interessiert! Ich habe kürz-
lich sogar eine Struktur aus Karbonfa-
sern entworfen. Schon immer habe ich
allesMögliche, was eben erhältlich ist,
benutzt.» Seine Neugierde undseine
Offenheit sind ansteckend. Mein Bild
des bescheidenen, mit Papier und Kar-
ton tüftelnden Japaners weicht dem
eines wissensdurstigen und experimen-
tierfreudigenWeltbürgers.
Gründungsmythos Innovation
An der neu benannten Nicolas-G.-
Hayek-Strasse 1 soll ShigeruBan nun
die Stadt Biel auf die internationale
Landkarte setzen. Und ebenfalls wollen
Nayla und Nick Hayek ihres 2010 ver-
storbenenVaters gedenken. Seine erste
Firma, Hayek Engineering, hat die Aus-
führung des neuen Hauptsitzes begleitet
und blickt auf mehr als ein halbesJahr-
hundert zurück.Weltberühmt wurde er
aber mit seinem Einstieg ins Uhren-
geschäft und derLancierung der Marke
Swatch imJahr 1983.
Der Geist desVaters schwebt über
allem.Das Nicolas-G.-Hayek-Audito-
riumragt über die gleichnamige Strasse.
Es liegt im obersten Geschoss der
Cité duTemps, sozusagen imKopf der
Schlange (falls man dieTiermetapher
gegen denWillen des Architekten doch
bemühen möchte).In di esem in edler
Esche ausgekleidetenRaum erzählt
Konzernchef Nick Hayek der Presse
von seinerFreundschaft mit Shigeru
Ban. Dieser hat für ihn schon das Nico-
las-G.-Hayek-Center im Ginza-Viertel
von Tokio entworfen.
Gegen mehrere SchweizerKonkur-
renten hat sich der japanische Archi-
tekt imWettbewerb für den BielerVor-
zeigebau durchgesetzt.Neben der Zu-
sammenarbeit mit den Hayekskonnte
er auch eine zweiteFreundschaft mit
einer SchweizerFirma weiterführen,
nämlich jene mit dem Holzbau-Inno-
vator Blumer-Lehmann, der die über-
grosse Zimmermannskonstruktion des
Zürcher Tamedia-Neubaus ermöglicht
hatte. Ein runderPavillon für «Drive-
through»-Uhrenverkauf richtet sich,
wie die Cité duTemps, an das Publikum.
Im Cité-Kubus füllt die traditionalisti-
sche Hightech-Schau der Marke Omega
ein Stockwerk, darüber zeigt das bun-
tere Swatch-Museum 6234 verschiedene
Uhr en. Dort verbindet eine Holzbrücke
den kubisch gehaltenen Museumstrakt
mit dem Grossraumbüro.
Nachhaltiger Startschuss
Von aussen wirkt das Haus mit der
Wabenhaut wie aus einem Guss. Doch
innen herrscht einDurcheinander von
FarbenundMaterialienaufdenterrassier-
ten Büroetagen. Ob dieser wilde Mix aus
buntenKunststoffen, Kartonröhren, glä-
sernen Kabinen und Stahlrohrklassikern
denn Absicht sei. «Ja, es ist mein bisher
verspieltestesProjekt»,antwortetShigeru
Ban, «es ist derAusdruck für die Charak-
teristik vonSwatch:verspielt und farbig.»
Solarmobil-Prototypen aus früheren
JahrenstehenindervonTageslichtdurch-
fluteten Lobby.Weisse Schweizerkreuze
sind übers ganzeDach verteilt von innen
in dieWaben eingelegt. Schon imWett-
bewerbsentwurf waren sie da, ein augen-
zwinkernderTribut an dieSwissness von
Swatch und vor allem eine ingenieur-
technische Massnahme,umdas Decken-
gewölbe steif zu machen. Im Innenraum
sinddieweissenKreuzezudemperforiert,
damit sie einenTeil der vielen Geräusche
im Grossraumbüro schlucken.Am meis-
ten überrascht, wie wenig Holz in der
Bürolandschaft sichtbar ist. Schliesslich
soll die Hülle (aus 100 Prozent Schwei-
zer Holz,das gemäss Pressematerialien in
wenigeralszweiStundennachwächst)ein
Zeichen dafür setzen, dass sich dieFirma
Swatch in Zukunft demThema Nachhal-
tigkeit offensiver widmen will, wie Nayla
Hayek vor internationaler Presse betont.
Dass überall gelbe USM-Haller-Kor-
pusse verteilt stehen, ist sicher nach-
haltig,die gab es nämlichschoninden
alten Büros. Fünf Olivenbäume wachsen
durch die vier offenen Stockwerke, da-
mit es auch innen etwas Natur gibt.Das
Naturgefühl stellt sich allerdings noch
nicht sorecht ein, fast überall berüh-
ren die HändeKunststoffoberflächen,
und die Luft ist gesättigt von einem Ge-
ruch wie von Klebstoffen oder neuen
Teppichböden.Frische Luft gibt es vor
allem auf den neunBalkonen, die weit
aus der Wabenstruktur herausragen.
Sie zu besuchen, lohnt sich auch, wenn
man manchmal nicht mehr ganz sicher
ist, welcheTageszeit es draussen in Biel
gerade ist. Die spektakuläreFassade
wirkt von aussen wunderbar verspielt
und poetisch, innen aber nimmt sie das
ganze Sichtfeld ein und kreiert eine end-
loseWelt – eineSwatch-Welt eben.
Nick Hayek scherzt vor der Presse,
dass dieBalkone ja vielleicht doch nicht
nur für dieRaucher seien, sondern für
alle Mitarbeiter, die vor seinen Zigar-
ren flüchten wollten.Auf jedenFall sind
dieseRaucherbalkone willkommen, um
aus der bei allerFarbigkeit hermetisch
wirkenden Innenwelt auszutreten.
Das halbdurchsichtige Ungeheuer
stehtamrenaturiertenStadtgewässerder
Schüss,nebenBöschungen,vielGrünund
einem Neubauquartier, das noch auf das
wilde Leben wartet. Im Zwischenraum
darf via grosse Bruchsteinbrocken ein
Bächlein überquert werden,dessenWas-
ser auch die grosseSwatch-Halle kühlt,
wenn die Sonne dann einmal zu sehr
durch dieWabenhülle scheint.Wieder
spieleninBieldieindustrielleProduktion
und die Energie desWassers die Haupt-
rollen, nur nehmen sie jetzt neueFormen
an. Nicht mehr dasRaster, sondern die
Welle ist ihrAusdruck, und nicht mehr
eine Fabrik, sondern das Grossraumbüro
der Headquartersist dieSensation.
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ist eine Tour de Force durch Hi ts, Stile und PosenSEITE 37
Walt Whitmans Roman «Jack Engle»
ist gleich dreimal ins Deutsche übersetzt worden SEITE 39
Die kubische Cité duTemps und der organischeSwatch-Hauptsitzerweitern den historischen Uhrencampus. PD
Die Umgebung lässtsichvom Balkon aus klarer erkennen als aus dem Innern derWabenhülle. STEFAN WERMUTH/ BLOOMBERG