Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

36 FEUILLETON Dienstag, 15. Oktober 2019


Stip pvisite


des Superstars


Plácido Domingo singt in Zürich –
unbehelligtvomSkandal

TOBIAS GEROSA

Kurz vor derPause, in derPeripetie von
Giuseppe Verdis «Nabucco», frevelt
derTitelheld und babylonischeKönig:
«Non son piùre, son Dio!» («Ich bin
nicht mehrKönig, sondern Gott»). Am
Sonntag im Opernhaus sang der wegen
Belästigungsvorwürfen unter Druck ge-
ratene und in den USA deswegen aus
allen Engagements entlassene Opern-
superstar Plácido Domingo dieRolle.
Und zwar mit einemKonsonantenver-
schleifer, der den ausverkauften und be-
jubelten Abend auf denPunktbringt. Bei
Domingo klang’s wie «Non son piùre,
son io» – nicht «Ich bin Gott», sondern
«Ich bin ich», die Sängerlegende.
Die Inszenierung von Andreas
Homoki hatte imJuni Premiere. Für die
Wiederaufnahme nach der Sommer-
pause blieb ChefdirigentFabio Luisi am
Pult, der noch immer straff, knackig und
detailreich dirigiert. Die grossenRol-
len wurden jedoch umbesetzt, für eine
einzigeVorstellung hat man Domingo
engagiert. Geplant und angekündigt
wurde dies längst vor den im Sommer
aufgekommenenVorwürfen.

KeinWort der Kritik


Das Opernhaus hielt, wie die Salzbur-
gerFestspiele und andere europäische
Opernhäuser, am Engagement fest. Die
Vorstellung war bei Galapreisen bis zu
380 Franken ausverkauft,kein Schim-
mer von Protest zu entdecken – die
Opernwelt ist dafür wohl auch zu klein.
Und DomingosAuftrittehier sind zu sel-
ten: 2005/06 war er zum letzten Mal als
Tenor im «Parsifal» in Zürich, 2011/ 12
erstmals alsBariton in «Simon Bocca-
negra» und nun also, mit offiziell 78Jah-
ren, als Nabucco.
Eigentlich ist daskeineRolle, um
als Gaststar besonders zu brillieren.
Nur gerade eine richtige Arie hat sie,
dafür auch längerePausen zwischen
denAuftritten.Dass er hier eine ge-
brocheneFigur gestalten kann, kommt
Domingo entgegen. Er hat geprobt, er
fügt sich szenisch wie musikalisch gut
ein. Er wirft sichauf den Boden, agiert
mit dem Chor und lässt sich auch mal
von den andern unauffällig an den rich-
tigen Ort auf der Bühne leiten.Kein
Stargehabe also, so dass dasWort des
Intendanten im neuesten «Opernhaus-
Magazin» nicht direkt widerlegt wird,
wonach mankeine «Eventraketen ab-
brennen»wolle.

Durchzogene Darbietung


DomingosBabylonierkönig ist, passend,
ein Mann, der sich auf sein Charisma
verlassen kann, obwohl sein Schritt nicht
mehr von Macht und Stärkekündet. Die
Stimme, auf zahllosenAufnahmen ver-
ewigt, ist von unverkennbarerFarbe,
auch wenn er mittlerweileBaritonrol-
len singt. In der Arie «Dio di Giuda» ge-
staltet Domingo noch immer betörende
Bögen und Piani; allerdingspatzt er in
der Stretta, erst szenisch,dann beim
hohenTon.Natürlich weisser auch ge-
nau, wo er Effekt machen und wo er spa-
ren kann. In den Ensembles, wennLaut-
stärke gefragt ist, wirkt Domingo oft
kurzatmig und gehetzt. Der Gestalter
bleibt dabei jedoch präsent, auch wenn
die Phrasen häufignicht ganz ausgesun-
gen sind und die Schluchzer wie Echos
einer anderen Opernzeit klingen. Es soll
ganz grosse Domingo-Abende geben
und auch schlechte. Der in Zürich war
weder das eine noch das andere.
Beim Schlussapplaus – sobald
Domingo auf die Bühne kam, natür-
lich stehend – umarmte Oksana Dyka,
die Sängerin der Abigaille,ihn demons-
trativ und küsste ihn. «Der muss ja gar
nicht anbaggern, der wird angebaggert!»,
kommentierte die Sitznachbarin tro-
cken.Das Publikum feierte seinen Star,
der sich auch am Schluss ins Ensemble
(mitsamt dem sehrguten Chor) fügte
und nicht allein vor denVorhang kam.
Es ging, im Opernhaus Zürich vermut-
lich zum letzten Mal, um den überJahr-
zehnte prägenden, noch einmal bejubel-
ten Sänger.

Sind dieAnhänger schonweg–oder kommen sie erst noch? EineWahlveranstaltungfür ElizabethWarren in LasVegas. JOHN LOCHER /AP


Trumps Furcht

Elizabeth Warren könnte 2020 gewinnen, wenn sie Wall Street hinreichend erschreckt.Von Niall Ferguson


Ist es denkbar, dass ElizabethWarren,
Senatorin von Massachusetts, in etwas
mehr als einemJahr DonaldTr ump
schlägt und die erste Präsidentin der
USA wird?Ja. Und zwar deshalb: Seit
dem Sommer istWarren imAufwind.
Zuerst ein paar aufschlussreiche
Zahlen.In den Mai-Umfragen lag der
frühere VizepräsidentJoe Biden weit
vor ihr – mit 41 zu8Prozent. Heute lie-
gen sie fast gleichauf – laut dem Um-
fragedurchschnitt vonReal ClearPoli-
tics mit 28 zu 26 Prozent. Bidenkommt
ins Schwimmen, sein Alter macht sich
bemerkbar, und seinRuf leidet unter
dem unangenehmen Problem mit der
Ukraine (ganz zu schweigen von China,
wo Sohn Hunterebenso unvorsichtig
gewesen ist). Bernie Sanders hat gerade
eine Herzattackeerlitten. Die kaliforni-
sche Senatorin Kamala Harris schwä-
chelt. Sonst ist niemand da.
Bezeichnend ist, dassWarren auch
unter Demokraten beliebt ist, die sie
–noch–nicht als ersteWahl benen-
nen. Eine neue Umfrage fand heraus,
dass sie bei 75 Prozent der demokrati-
schenWähler einen günstigen Eindruck
hinterlässt – imJanuar waren es noch
53 Prozent. Unter den Anhängern der
Demokraten hat sie auch die geringste
Ablehnungsrate der Hauptkandidaten
–11Prozent gegenüber 22 Prozent bei
Biden.AuchWarrens Spendenbeschaf-
fung läuft hervorragend. ImJuli über-
schritt sie die Marke von einer Million
Spendern, was ihrVersprechen glaub-
würdig macht, ihrenWahlkampf ohne
finanzielle Unterstützung von Unter-
nehmen zu führen.


Die Rhetorik


Das sieht anders aus als Sanders Höhen-
flug im Jahr 2016. Prognosemärkte
gaben Sanders niemals eine über 20 Pro-
zent hinausgehende Chance, die Nomi-
nierung zu gewinnen. Der Online-Wett-
markt PredictIt sieht dagegen Warren
als klareFavoritin – ihre Chance auf den
Sieg liegt bei 46 Prozent, jene von Biden
nur bei 22 Prozent. PredictIt prognosti-
ziertWarren auch eine Chance von 33
Prozent, die Präsidentschaft selbst zu er-
ringen.Tr ump liegt bei 40 Prozent.


Warren hat sich zu einersehr effek-
tiven Kandidatin entwickelt. Sie strahlt
nicht nur eine Energie aus, die ihr Al-
ter – 70 – vergessen lässt, sondern auch
Witz. So wurde sie in Los Angeles von
einem auffallend gepflegten Herrn ge-
fragt: «Nehmen wir an, einer Ihrer An-
hänger würde zu Ihnen sagen: ‹Senator,
ich bin altmodisch, und mein Glaube
lehrtmich, dass es die Ehe nur zwi-
schen einem Mann und einerFrau gibt.›
Was würden Sie antworten?» «Nun, ich
nehme mal an, dass das von einemTy-
pen kam», erwiderteWarren. «Und dem
sage ich: ‹Gut, dann heiraten Sie doch
einfach eineFrau.Damit kann ich le-
ben.›» (Sie wartet, bis das Gelächter ab-
klingt.)«Vorausgesetzt, Sie finden eine.»
Zwar meint man inTr umpsWahl-
kampfteam,Warren sei leichter zu schla-
gen als Biden. Der «schläfrigeJoe» ist
genaudie Art Kandidat, um dieTr ump
sich Sorgen machen muss, wenn es auf
die entscheidendenWechselwähler in
denSwing-States ankommt. Die Leute,
die 20 16 nicht für Clinton zurWahl gin-
gen – «bemitleidenswerte»Weisse der
Arbeiterklasse, die ebenso wie Afro-
amerikaner für Obama gestimmt hat-
ten –, könntenproblemlos für Biden
und gegenTr ump stimmen. ImVergleich
dazu istWarren ein perfektes Ziel für
einen populistischenWahlkampf.Sie
war nicht nur Professorin in Harvard


  • im grösstenTeil der amerikanischen
    Mittelklasse eine toxische Zugehörig-
    keit.Umihre akademische Karriere vor-
    anzubringen, hat sie auch ihreAbstam-
    mung von amerikanischen Ureinwoh-
    nern übertrieben dargestellt.
    Im Anwaltsverzeichnis der Associa-
    tion of AmericanLaw Schools trug sie
    sichvon1986 bis1995 als Angehörige
    einer Minderheitein, an derPennsylva-
    nia Universityändertesie 1989 ihreeth-
    nische Zugehörigkeit von «weiss» auf
    «amerikanische Ureinwohner», und als
    sie in Harvard lehrte, willigte sie ein, als
    amerikanische Ureinwohnerin geführt
    zu werden. Ein im letztenJahr veröffent-
    lichter DNA-Test ergab jedoch pein-
    licherweise,dassWarren nur imVerhält-
    nis1:64 von Ureinwohnern abstammt.
    Bedeutsamer ist jedoch, dass die
    KandidatinWarren bei einerReihe


von zentralen politischenThemen weit
links von Biden steht. Sie tritt für eine
Krankenversicherung für alle ein. Sie
hat eine zweiprozentige Gesundheits-
steuer für sehrReiche (ab 50 Millionen
Dollar) vorgeschlagen. Und sie will hart
gegen das wettbewerbswidrigeVerhal-
ten der Grossbanken vorgehen; das Pri-
vatkundengeschäft soll zu denVolks-
banken zurückkehren.Warren hat auch
ihre eigeneVersion des Green New
Deal. «An meinem erstenTag als Präsi-
dentin», erklärte sie kürzlich, «werde ich
eineVerfügung erlassen, um alle neuen
Brennstoffverträge für Offshore-Boh-
rungen und auf öffentlichem Grund zu
stoppen. Und ich werdeFracking verbie-
ten – überall.»Ach ja, wir sollten auch
BigTech nicht vergessen: Sie plant,Face-
book zu zerschlagen.
Tr ump wirdes also nicht schwer-
fallen, gegen «Pocahontas», die Sozia-
lis tin, zu kämpfen. Mit dem üblichen
Amtsbonus und einer für ihn günstigen
Landkarte desWahlmännerkollegiums
sollteer gewinnen. Doch ich sehe das
wie PredictIt. Es wird eng werden.

Die Dialektik


Die entscheidendeVariable wird der
Zustand derWirtschaft sein – und hier
wird es interessant. Irgendwann wird
man an derWall Street bemerken, was
WarrensAufstieg bedeutet. Die meis-
ten ihrer Programmekönnten nur Ge-
setz werden, wenn die Demokraten die
Senatsmehrheit und dasWeisseHaus er-
oberten und sich daranmachten, dieVer-
schleppungstaktik desFilibusterns abzu-
schaffen. Ist das unmöglich? Nein.Das
bedeutet, dass vier grosseWirtschafts-
sektoren in der Schusslinie sind: die
Pharmaindustrie,dieBanken, Öl und
Gas und BigTech – ein ziemlich grosser
Teil der wichtigsten Aktienindizes.
Wenn Investoren sich die zuneh-
mendeWahrscheinlichkeit einer Prä-
sidentschaftWarrens bewusst machen,
sage ich einenAusverkauf an derWall
Street voraus.Unternehmen der ins
Visier genommenen Sektoren werden
Investitionen kürzen. Und das wird das
Wachstum verlangsamen.Vor dreiJah-
ren tratTr ump mit demVersprechen

an, dieWachstumsrate zu verdoppeln.
Doch der InternationaleWährungsfonds
sagt schon voraus, dass dieWirtschaft
im nächstenJahr um bloss1,9 Prozent
wachsenwird.Wenn das in eineRezes-
sion umschlägt, istTr ump erledigt.
ProfessorRayFair inYale hat ein sim-
ples Modell für US-Wahlen mit einer
ziemlich guten Erfolgsbilanz. Sollte es
2020 zu einerRezessionkommen, sieht
das Modell für den Kandidaten der
Demokraten einen Stimmenanteilvon
49 Prozent voraus (bekanntlich hat der
Sieger bei vier der letzten siebenWahlen
weniger als 50 Prozent der Stimmen be-
kommen). Anders gesagt, wennWarren
sich als Spitzenkandidatin derDemokra-
ten durchsetzt, besteht einereale Mög-
lichkeit, dassTr umps Präsidentschaft in
einenTeufelskreis gerät.Jebesser ihre
Chancen werden, desto schlechter laufen
der Aktienmarkt und dieWirtschaft, und
damit werden ihreAussichten besser.
Indessen sollte mankeinenFehler
machen:Trump steckt heute in grösse-
ren Schwierigkeiten als jemals während
Robert Muellers Untersuchung. Nicht
nur dass der Ukraine-Skandal weiter-
wuchert – er ist auch absolut typisch für
die Art, wie der Präsident mit seinen
ausländischenKollegen umgeht: Er ist
in schamloserWeise bestrebt, aus seiner
Aussenpolitik private wirtschaftliche
und politischeVorteile zu ziehen, selbst
um den Preis,dass er damit die Strate-
gie seiner eigenenRegierung untergräbt.
SeineBasis wird ihn nicht im Stich
lassen, weshalb der von denRepublika-
nern dominierte Senat es nicht wagen
wird, sich gegen ihn zu stellen. Aber un-
gebundeneWähler sehenTr ump skep-
tisch. Undsie sehenWarren mit ande-
renAugen. Kann sie ihn schlagen?Yes,
she can.

NiallFergusonist Senior Fellow am Zentrum
für europäische Studien in Harvard und forscht
gegenwärti g als Milbank Family Senior Fellow
an der Hoover Insti tution in Stanford, Kalifor-
nien. Der obenstehende Essay ist eine
Kolumne, die Fergusonfür die britische«Sun-
day Times» verfassthat – sie erscheint hier
exklusiv im deutschen Sprachrau m. Wir dan-
ken der «Sunday Times» für die Möglichkeit
des Wiederabdrucks.– Aus dem Englischen
überse tzt von Helmut Reuter.
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