Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

Dienstag, 15. Oktober 2019 FEUILLETON 39


Ist das nun die deutsche Literatur, auf die alle gewartet habe n?


Dasind zwei Brüder. Der eine ist so, der andere anders. Ist das schon ein Roman? Jackie Thomae ist davon überzeugt


PAUL JANDL


Wir müssen uns nichts vormachen:
Wir reagieren auf Oberflächen. In die-
sem Sinn hätteJackieThomaesRoman
«Brüder» genau derRoman zur Zeit
werdenkönnen. So viel auf den ersten
Blick undurchschaubare Oberfläche
war nie,und dass die menschliche Haut
heute vielleicht zu ihren prekärstenFor-
men gehört, weiss man aus den Nach-
richten. Egal, ob Globalisierung oder
Flüchtlingskrise, egal, ob einer Philan-
throp ist, Alarmist oder garRassist: In
der Einschätzung des anderen wird die
Hautfarbe zum ersten Signal.
JackieThomae, geboren 1972 in Halle
an der Saale, hat eine ostdeutsche Mut-
ter und einenVater, der aus Guinea
kommt. DieFrage, wer man wird, wenn
man in Deutschland aufgewachsen, aber
sichtbar anders ist, kann sie aus ihrem
eigenen Leben heraus beantworten.
WennThomae dasThema auch in ihrem
Roman «Brüder» umkreist,kommt da-
bei aber leider nicht viel mehr heraus
als Oberflächlichkeit. DieKonstruk-
tion istrecht einfach. In den zwei Hälf-
ten desRomans wird jeweils einer von
zwei Brüdern beschrieben, die einan-
der nichtkennen. Gemeinsam ist ihnen
derVater. Aus Senegalstammend, hat
dieserVater in den sechzigerJa hren in
Leipzig studiert. Er hat die DDR wie-
der verlassen, als mit zwei verschiede-


nenFrauen Söhne gezeugt waren, die
beide dunkle Haut haben, aber unter-
schiedlicher nicht seinkönnten.
Der eine, Mick, lebt in Berlin und ist
ein Hedonist erster Güte.Gabriel, der
andere,hat die Arbeit zu seiner Lust
gemacht. Er istWorkaholic und «Star-
architekt» in London. EineFreundin
beschreibt ihn als «Oreo».Aussen dun-
kel, innen weiss. Das deutsche Pflicht-
bewusstsein steckt in ihm, und er will
aufkeinenFall, dass sein Sohn dasTr om-
melspiel lernt.Mick dagegen ist gleich in
den ersten Kapiteln desRomans dabei,
Drogen vonKolumbien nach Deutsch-
land zu schmuggeln.Dabeiassistiert ihm
Delia, eine der vielenFrauen, die ihm
helfen, dass aus ihm nichts wird.

Zu viele Klischees


JackieThomaes«Brüder»könnte buch-
stäblich unter die Haut gehen, aber das
tut dieserRoman auf bezeichnende
Weise nicht.Weil dieses Buch zwar
gegen Klischees geschrieben sein will,
aber selbst voller Klischees ist. Der Star-
architekt in London ist genau so, wie
man sich Leute vorstellt, die sich selbst
«Stararchitekt» nennen und mitKünst-
lerfreunden aufJachten voller barbusi-
gerFrauen abhängen. Berlin wiederum
hat einPartyvolk, das auf sich selbst
stolz ist, weil diese Stadt glaubt, dass
Kokain genüge, um sie zurWeltmetro-

pole zu machen. Die Nächte werden zu
Tagen, und als wäre das schon ein Life-
style, gibt es überall «Gewummer, Ge-
stampfe, Getränke, Gelaber, Gefühle. Ja,
dieJahre flossen ineinander über.»
Der Zwei-Meter-Halbschwarze Mick
wirdals «Nachtlebendesperado» gefei-
ert. Er ist, «davonkonnte man mit gros-
ser Sicherheit ausgehen, einTier im
Bett».Als es einmal hart auf hart und
zu einem Schwanzvergleich mit einem
Deutschenkommt, zieht dieser natur-
gemäss denKürzeren.Ist das derTr om-
melwirbel eines positivenRassismus
oder einfach nur Quatsch?
Den Frauen geht es unterJackie
Thomaes Beschreibungskunst auch
nicht viel besser. «Sie hatte den gröss-
tenTaille-Hüft-Quotienten, den Mick
jemals gesehen hatte.»Eine andere:
«Alles an ihr war gross. GrosseAugen,
fast obszöngrosser hochglanzlackier-
ter Mund. Mit ihrem Glitzertop unter
einem weissenLedermantel und ihrer
hellblondenKurzhaarfrisur, die um ihr
gebräuntes Gesicht herumstand, sah sie
aus, als käme sie direkt aus einer soge-
nannten Edeldisco.»An einer gewissen
Lynn ist nicht alles ganz so gross, dafür
aber ist sie «niedlich, blond und unkom-
pliziert».Wohlwollende Kritiken haben
diesen Stil als «amerikanisch» identi-
fiziert, als leicht lesbar. Manche seuf-
zen sogar: Endlich deutsche Literatur,
die nicht verkopft ist! Aber das ist ein

Missverständnis.Triviale Literatur er-
kenntman daran, dasssie dasTriviale
für dasWahrehält.

Von allemein wenig


InThomaes «Brüder» gibt es viele tri-
viale Sätze, die so tun, als wären sie
etwas.Wenn die frühen 20 00 erJahre ins
Bildkommen, dann sind sie bedeutungs-
schwer zusammengefasst: «DasAus-
gehen wurde eklektizistischer.» Stän-
dig ist jemandauf irgendwelchen Inseln
in Edel-Resorts, wo es «sonnengeküsste
FrauenausEuropa» gibt. Die Leute sind
«Überperformer», sie müssen oft etwas
«canceln» und haben ein «Mehrere-Tau-
send-Pfund-Rennrad».
Mit zweiKumpels führt Mick einen
Klub in Berlin. Über die drei männ-
lichen buchtypischen Schönheiten heisst
es: «Ihr seht aus wie ein Benetton-Pla-
kat.»Das ist das Problem von «Brüder».
DerRoman hat nicht viel mehrTiefe als
ein Benetton-Plakat.Auf übervierhun-
dert Seiten werden in einem dauerauf-
gekratztenTon Köpfe erklärt, in denen
ausserKohle, Koks, Prestige undParty
nicht allzu viel los ist.
Ein bisschen Gender-Debatte und
#MeToo ist auch dabei.Wenn es aber
wirklich zur Sache gehenkönnte mit
demRassismus oder der nicht gerade
unterkomplexenFrage, wer uns zu dem
macht, was wir zu sein glauben, wird es

holprig: «Farbe bekennen? Ohne mich.
Und ich sage dir auch, warum:Weil
Hautfarbe als Distinktionsmerkmal die
Grundlage für jedeArtvonRassismus
ist.»Das hätte man auch ohne einenRo-
man wie «Brüder» gewusst.

Jackie Thomae: Brüder. Roman. HanserBer-
lin, Berl in 2019. 432S., Fr. 35.9 0.

Selbstporträt


mit Ahnen


rbl.· Für seinenautobiografischgrun-
diertenRoman «Herkunft» erhält Saša
Stanišičden mit 25 000 Eurodotierten
Deutschen Buchpreis 2019. ImRoman
erzählt der1978 im jugoslawischenVise-
grad geboreneAutor von der Flucht vor
demJugoslawienkrieg, der seineFami-
lie in dieWelt verstreute, und von der
Ankunft in Heidelberg,das zur ers-
ten neuen Heimat wurde.«Herkunft»
zeichne das Bild einer Gegenwart, die
sich immer wieder neuerzähle,be-
gründete dieJury ihren Entscheid. So
werde aus dem «Selbstporträt mit Ah-
nen» derRoman eines Europas der vie-
len Lebenswege. Stanišičist 20 14 bereits
mit dem Preis der Leipziger Buchmesse
ausgezeichnet worden.«Herkunft» ist
sein vierterRoman.

Noch galoppieren Schweine auf dem Broadway

Erst 2017 wurde Walt Whitmans New-York-Roman «Jack Engle» wiederentdeckt. Nun liegt er gleich dreifach auf Deutsch vor


MARTIN ZÄHRINGER


Gute Literaturübersetzungen sind Neu-
schöpfungen von Kunstwerken aus
anderen Sprachen, Wiedergeburten
von Sprachkörpern gewissermassen.Da
heutzutage die Übersetzung öfters fast
gleichzeitig mit dem Original das Licht
derWelt erblickt, ist die Geburt eines
Geschwisters in einer anderen Sprach-
provinz nichts Besonderes.Drillinge
dagegen schon. Und solche sind hier zu
vermelden: Der1852 publizierte, aber
erst 20 17 wiederentdeckte und noch
immer quicklebendige New-York-Ro-
man «Life andAdventures of Jack
Engle: AnAuto-Biography; inWhich the
ReaderWill Find SomeFamiliar Cha-
racters» vonWalt Whitman wurde gleich
dreimal ins Deutsche übersetzt.
Whitman hat seine Geschichte über
den jungenJournalistenJack Engle zeit-
lebens nicht erwähnt; erschienen war sie
anonym alsFortsetzungsroman im New
Yorker «Sunday Dispatch» von1852.
Warum der Dichter seinen Prosazög-
ling verschwieg, ist nicht genau bekannt,
aber die Übersetzung ist auf jedenFall
mehralsein philologischer Liebesdienst
an der Literaturlegende.
Wir bekommen einen echten Gross-
stadtroman aus der jugendlichen Metro-
pole: Noch galoppieren Schweine über
den Broadway, aber Whitmans Ge-
schichte ist von erstaunlich moderner
Prägung. Die Protagonistenkommen
aus verschiedenenKulturen und sozia-
len Sphären, der Plot ist getragen von
einer spannenden Intrige umWaisen
und einen habgierigen Anwalt, die Spra-
che ist kraftvoll und sicher, und aus dem
Ganzen spricht der egalitäreGeist des
jungenGeniesWalt Whitman.


Immer anders


Alle drei Übersetzungen habenFormat:
Mit IrmaWehrli undRenate Orth-Gutt-
mann bietet man in der Manesse-Aus-
gabe gleich zwei äusserst versierte Kräfte
auf. DerVerlagDas Kulturelle Gedächt-
nis hat Stefan Schöberlein im Boot, wis-
senschaftlicher Mitarbeiter des Walt
Whitman Archive in Iowa undRedak-
teur der Zeitschrift«WaltWithman Quar-
terlyReview»,und beiDTVengagierte
man gleichJürgen Brôcan, den Über-
setzer vonWalt Whitmans Hauptwerk


«Leaves of Grass». Diese seltenen Dril-
linge beweisen einmal mehr eine nicht
unumstrittene, aber alteWahrheit: Eine
literarische Übersetzung ist, auch wenn
sie sich inhaltlich genau an dieVorlage
hält, immer anders als jede andere, weil
sienach eigenen sprachkünstlerischen
Massgaben der Übersetzer entsteht.

Der jeweils individuelle Stil der
Übertragungen zeigt sich schon in der
Vorrede beziehungsweise dem Geleit-
wort desRomans:Jürgen Brôcan über-
trägt in derDTV-Ausgabe so: «Zum Ge-
leit –Freimütig werden wir dir, geneig-
ter Leser, eine wahre Geschichte erzäh-
len. Der Berichtist in der erstenPerson

geschrieben; denn ursprünglich hat ihn
die Hauptfigur zur Unterhaltung eines
geschätztenFreundes flüchtig hingewor-
fen. Obwohl der vorliegende Bericht
durch eine unbedeutendeAuslassung
hier undeinen Einschub dort einwenig
bearbeitet wurde, weicht er imWesent-
lichen nicht davonab.»
Bei Renate Orth-Guttmann und
IrmaWehrli in der Manesse-Ausgabe
kann mankonstatieren, dass auch sie
nicht «imWesentlichen»vonWhitmans
Text abweichen:«Vorrede – Geradeher-
aus, geneigter Leser:Wir werden dir eine
wahre Geschichte erzählen. Sie ist in
der Ich-Form abgefasst, weil sie ur-
sprünglich von deren Hauptperson zur
Unterhaltung eines geschätztenFreun-
des niedergeschrieben wurde. Besagte
Geschichte bleibt, wenn auch ein we-
nig ausgeschmückt und mit einer un-
bedeutendenAuslassung hier, einer Er-
gänzung dort versehen, vom Inhalt her
unverändert.»
Etwas weniger genau hält sich Stefan
Schöberlein an das Original: «Zum Ge-
leit –Aufrichtig werden wir dir, lieber
Leser, von einer wahren Geschichte be-
richten. Sie ist in der erstenPerson ge-
schrieben,da sie ursprünglicheilig von
ihrem Hauptakteur notiert wurde,um
einen teuren Freund damit zu unterhal-
ten. Und obgleich die vorliegende Er-
zählung durch die eine oder andereAus-
lassung und Ergänzung von Unwichti-
gem befreit und ein wenig vollständi-
ger ausgearbeitet wurde, ist sie imKern
wahr.» Mit dieser letzten Proposition –
sie ist «imKern wahr» – findet sich hier
die einzige bedeutende semantische Ab-
weichung vom Original: DieseAussage
steht nichtinWhitmansText.

Kompromisslos: Ich


Natürlich wäre diese Lösung in einer
akademischen Übersetzungskritik durch-
gefallen,aber darum kanneshier nicht
gehen.Für das Lesepublikum sollen
etwas «freimütigere» Kriterien gelten,
um mitWhitman zu sprechen. Der
Whitman-Experte Schöberlein kann
in derTat beurteilen, was«wahr» ist
in dieser phantastischenAutobiografie
desJack Engle. Und das ist viel wert,
denn seine Edition bestichtdurch ei-
nigerareInformationen zum histori-
schenKontextund seltengesehenes

Bildmaterial, insbesondereein Jugend-
porträt des proletarischen Dichters als
«Bowery B’hoy».
Beim Übersetzen einesAutors von
diesemFormat geht es vor allem ande-
ren umden kongenialen Zugang zur
Sprache.Was WhitmansEigenart an-
geht, lässtWielandFreund in seinem
Nachwort in der Manesse-Ausgabe den
Dichter gleich selbstzuWortkommen:
Ihm ging es um «das Gefühl oder
Bestreben,kompromisslos inliterari-
scherFormmeine eigene physische,
emotionale, moralische, intellektuelle
und ästhetischePersönlichkeit auszu-
drücken». Zugleich weist Freund zu
Recht darauf hin, wie stark sichWhit-
man in derThemenwahl undGestal-
tung desRomansan Charles Dickens
orientiert hat.
Nunkönnte ein Übersetzer auf die
Strategie verfallen, ein ähnliches histo-
risches Sprachmilieu in der deutschen
Literaturgeschichte zu suchen oder gar
die Strategien der Dickens-Übersetzun-
gen heranzuziehen.Das aber geht nicht,
denn in «Jack Engle» drückt sich durch-
aus auch daskompromisslose Original-
genie aus.Aus diesem Grund istJürgen
Brôcan als Übersetzer der «Grasblät-
ter» natürlich imVorteil, niemand ist
dem SprachkünstlerWhitman näher als
er.Aber ein endgültigesWerturteil über
diese Drillinge möchte man nicht spre-
chen. Sie sind wieechte Drillinge, apart
in der äusseren Ähnlichkeit, aber grund-
verschieden im Inneren.

Walt Whitman: Jack Engles Leben und Aben-
teuer. Eine Autobiografie , in der der Leser
einige ihm wohlvertraut e Figuren wiederfi n-
den wird. Aus dem amerikanischenEnglisch
überse tzt von Renate Orth-Guttmann und
Irma Wehrli. Nachwort von Wielan d Freund.
Manesse-Verlag, München 2017. 185S.,
Fr.32.90.

WaltWhitman: Leben und Abenteuer von Jack
Engle. Autobiografie, in welcher dem Leser ei-
nige bekannte Gesta lten begegnen werden.
Herausgegeben und aus dem amerikanischen
Englisch übers etzt von Jürgen Brôcan. Mit
weiteren Reportagen von Whitman.DTV,
München 2019. 220S., Fr.32.90.

Walt Whitman: Das abenteuerliche Leben des
Jack Engle. Eine Autobiografie, in welcher der
Leser einige wohlbekannte Gesta lten ent-
decken wird. Überse tzt und herausgegeben
von Stefan Schöberlein. Verla g Das Kulturelle
Gedächtnis , Berl in 2017. 192S., Fr.16.90.

Walt Whitman mit 35Jahren. Stahlstich nacheiner Daguerreotypie. ILLUSTRATION SAMUEL HOLLYER
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