Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

Dienstag, 15. Oktober 2019 INTERNATIONAL


Die Separatisten rufen zum Widerstand auf

Nach der Verurteilung der katalanischen Unabhängigkeitsführer kommt es in Barcelona zu Zusammenstössen mit der Polizei


UTE MÜLLER, MADRID


Einer der ersten, der sich nach der Ur-
teilsverkündung gegen die katalani-
schen Separatistenführer zuWort mel-
dete, war einer, der derJustiz entronnen
war: Zusammengezählt hundertJahre
Gefängnis seien eineBarbarei, twitterte
der ehemalige katalanische Minister-
präsident Carles Puigdemont im belgi-
schen Exil. Er forderte die Katalanen
auf, wie «nie zuvor» auf den harten Ur-
teilsspruch zureagieren.
DieAufarbeitung der gescheiterten
Unabhängigkeitsbemühungen vor Ge-
richt galt als einer der wichtigsten Pro-
zesse in der Geschichte der spanischen
Demokratie. Stimmen im In- undAus-
land haben jedoch immer wieder darauf
hingewiesen, dass der Katalonien-Kon-
flikt nicht mit Gefängnisstrafen, son-
dern nur politischgelöst werdenkönne.
In denkommendenTagen undWochen
wird er auch auf der Strasse ausgetragen.
Puigdemonts Appell zum Wider-
stand war gar nicht nötig. Die Unab-
hängigkeitsbewegung hatte schon vor
Wochen zum Protest aufgerufen. Zeit-
gleich mit der Bekanntgabe des Ur-
teils wurden deshalb Sicherheitskräfte
vo r denBahnhöfen inBarcelona und
Girona stationiert, um Sitzblockaden
zu verhindern.Am Mittag versammel-
ten sichTausende Demonstranten auf
der zentralen Plaça de Catalunya in
Barcelona. Sie schwenkten die katala-
nischeFahne und hielten Schilder hoch,
auf denen siedie Freilassung der «poli-
tischen Gefangenen» forderten.


Generalstreik geplant


Am frühen Nachmittag gelang es einer
Plattform namens «Demokratischer
Tsunami» vorübergehend, die Eingänge
zum Flughafen vonBarcelona zu blo-
ckieren. Später zeigten Bilder, wie Poli-
zisten der katalanischenRegionalpoli-


zei Schlagstöcke gegen Demonstran-
ten einsetzten und Protestteilnehmer
am Boden festhielten. Hunderte von
Demonstranten hatten die Sicherheits-
kräfte zuvor mit Steinen und Abfall-
eimern beworfen.Laut der spanischen
Presse wurden wegen des Protests über
100 Flüge gestrichen. 34Verletzte solles
beim Flughafen gegeben haben.
Die beiden zivilgesellschaftlichen
Unabhängigkeitsorganisationen ANC

und Òmnium Cultural riefen derweil
zum «Marsch für dieFreiheit» auf.Ab
Dienstagabend wollen Demonstranten
aus fünf katalanischen Städten stern-
förmig auf die MetropoleBarcelona zu-
marschieren. Bei der dreitägigen Aktion
sollen die wichtigstenVerkehrsarterien
der Regionzeitweilig blockiert werden.
Die grosse Abschlussveranstaltung ist
für Donnerstagabend vorgesehen, einen
Tag vor Beginn des Generalstreiks, zu

dem mehrere katalanische Gewerk-
schaften aufgerufen haben.
Auch Schüler und Studenten haben
einen Boykott an den höheren Schu-
len und Universitäten angekündigt.Aus
Furcht vor möglichenAusschreitungen
hat Madrid bereitsTausende zusätz-
liche Mitglieder der Guardia Civil nach
Katalonien geschickt. Ihr ChefPedro
Garrido hatte vergangeneWoche bei
einerRede die katalanischeRegional-

polizei Mossos d’Esquadra angegrif-
fen undderen angebliche Untätigkeit
am Tag des Unabhängigkeitsplebiszits
kritisiert. Mit seinerRede schürte Gar-
rido die Spannung in Katalonien weiter.
Der am Montag verurteilte Oriol
Junqueras hatte dasVerfahren, das be-
reits im März 2018 begann und bei dem
mehr als 500 Zeugen vernommen wur-
den, stets als «politischen Prozess» be-
zeichnet. «Wir werden leiden, wir wer-
den weiter kämpfen, wir werden wieder
gewinnen», twitterte er aus dem Gefäng-
nis von Lledoners, vor dem sich bereits
in den frühen MorgenstundenSympa-
thisanten versammelt hatten.

Haftbefehl gegenPuigdemont


QuimTorra, der amtierende katala-
nische Regierungschef, forderte eine
Amnestie für die Angeklagtenund be-
tonte, dass seineRegierung weiter am
Unabhängigkeitskurs festhalten werde.
Ministerpräsident Pedro Sánchezschloss
eine Amnestie aus. Dennochkönnten
die Verurteilten sehr bald in den Genuss
von Vollzugslockerungenkommen. Nor-
malerweise muss die halbe Strafe ver-
büsst sein, bevor Inhaftierte einerAus-
senbeschäftigung nachgehen können
oder täglichenFreigang erhalten.Das
Oberste Gericht liess es den Gefängnis-
behörden in Katalonien aber frei, schon
früherVollzugslockerungen anzuordnen.
Die Proteste dagegenkönnten wäh-
rend Wochen anhalten. Laut einer Um-
frage der katalanischenTageszeitung
«LaVanguardia»rechnen 85 Prozent
der Befragten damit, dass das Urteil das
Klima derKonfrontation mit der Zen-
tral regierung weiter anheizen werde.
Die Spannungenkönnten auch durch
neue juristische Schritte der Madrider
Justizbehörden verschärft werden. So
reaktivierte ein Ermittlungsrichter noch
am Montag den internationalen Haft-
befehl gegen Carles Puigdemont.

Demonstrantenversammeln sich nachder Urteilsverkündung vor dem Flughafen inBarcelona. EMILIO MORENATTI / AP

Putin hofft, der lachende Dritte zu werden


Moskau fädelt erfolgreich eine Allianz zwischen Asad und den Kurden ein


MAXIM KIREEV,ST.PETERSBURG


Während dieLage inSyrien nach dem
türkischen Angriff auf die kurdischen
Gebiete im Norden desLandes immer
unübersichtlicher wird, positioniert sich
auch die russischeFührung neu. Offi-
ziell hält sich Moskau zwar weitgehend
bedeckt. Aber kurz nach dem Angriff
haben russische Diplomaten eine Er-
klärung des Uno-Sicherheitsrates,die
Kritik an der türkischen Militäropera-
tion zumAusdruck hätte bringen sollen,
blockiert.Das MoskauerAussenministe-
rium äussertegarVerständnis für türki-
sche Sicherheitsinteressen.
Gleichzeitig stellteRussland seine
Militärbasis Hmeimim inSyrien als Ort
vonVerhandlungen zwischenden Kur-
den und dem von Moskau gestützten
Diktator Asad zurVerfügung. Die Ge-
sp räche führten am Sonntag zu einem
gegen dieTürkei gerichteten Abkom-
men der beiden bisher verfeindeten Sei-
ten. Die syrische Armee ist nach über-
einstimmenden Berichten bereits im
Nordosten desLandes eingetroffen. Ein
solcher Schritt wäre ohne grünes Licht
aus Moskau kaum denkbar gewesen.
Die Haltung des Kremls ist nur auf
den ersten Blick widersprüchlich. Die
kurdischeAutonomie hatte seit je Prä-
sident Putins Endziel fürSyrien, der
Wiederherstellung der staatlichenKon-
trolle über alleLandesteile, im Weg ge-
standen. Deswegen hat Moskau die
Kurden zuVerhandlungen mit Asadge-
drängt. Am Montag brach der Kreml-
herr nach Saudiarabien und denVerei-
nigten Arabischen Emiraten auf. Dort
wollte er sich nicht nur als verlässliche-
rer Partner imVergleich zu den USA
präsentieren, sondern vor allem für
seine Syrien-Pläne werben.Dass die
Amerikaner aus demLand abziehen,


wird vonregierungsnahenKommenta-
toren in Moskau mit Genugtuungregis-
triert. Gleichzeitig entsteht jedoch aus
russischer Sicht ein neuer Problemherd.
Bereits letzteWoche hatte Putin da-
vor gewarnt, dass IS-Kämpfer, die bis-
her in kurdischem Gewahrsam waren,
angesichts der türkischen Invasion auf
fre ien Fuss gelangenkönnten.Moskau
bezweifelt, dass dieTürkei dieLage in
der Region schnell unterKontrolle brin-
gen kann.Am Sonntag erklärte das rus-
sische«Versöhnungszentrum fürSyrien»,
eine Einrichtung des russischen Militärs
in Syrien, im Osten desLandes drohe
nun eine humanitäre Katastrophe.Ale-

xei Bakin, der das Zentrum leitet, rief
dazu auf, die syrische Hoheit über die
Gebiete im Osten desLandes wieder-
herzustellen,und kritisierte gleichzeitig
die USA für ihrNichtstun.
In Wirklichkeit zählt die humani-
täreLage fürRusslands Militär wenig;
das haben die Erfahrungen in diesem
Konflikt gezeigt.Vielmehr dürften sol-
che Äusserungen damit zusammenhän-
gen, dass Moskau über den wachsen-
den türkischen Einfluss inSyrien nicht
gerade glücklich ist. Denn auch wenn
beideLänder sich alsPartner sehen und
Russland erst kürzlich zum Ärger der
Nato moderne S-400-Luftabwehrrake-

ten in dieTürkei lieferte, haben Ankara
und Moskau inSyrien unterschiedliche
Interessen.Das zeigtvor allem die Situa-
tion in der westsyrischen Grenzregion
Idlib, wo die türkische Armee ebenfalls
präsent ist. SeitMonaten kritisieren
MoskauundDamaskus dieTürkei da-
für, dasssie nichtgenug gegen Islamis-
ten in derRegion unternehme.
Russische und syrische Flugzeuge
führenregelmässig Angriffe in Idlib aus.
Immer wieder stelltsich Moskau hinter
Asad, auch als die syrische Luftwaffe
EndeAugust einen türkischen Militär-
konvoi angriff. «Ni emand hat davon ge-
sprochen, dassTerroristen sich in der

Region wohlfühlenkönnen», sagte Putin
damals. Nicht selten flackern in den rus-
sischen Medien Gerüchte auf, Moskau
und Ankarakönnten sich angesichts die-
ser Situation überwerfen.Damit steht
die russischeFührung vor einem diplo-
matischen Drahtseilakt.Will sie aus der
gegenwärtigen Krise erfolgreich hervor-
gehen, muss sie dem Asad-Regime hel-
fen, den Einfluss imKurdengebiet aus-
zubauen. Zugleich ist der Kreml nicht
daran interessiert,die Partnerschaft mit
derTürkei zu riskieren.Dafür ist die-
ses Land nicht nur als Militärmacht in
Syrien zu stark, sondern auchals Stachel
im Fleisch desWestens zu wichtig.

Trumps Kritiker verstummen


win.Washington · Die Geschwindig-
keit, mitder Nordsyrien insChaos ge-
schlittert ist, hat die meisten Experten
undPolitiker inWashington überrascht.
Aber was vorgefallen ist in derWoche
seit demTelefongespräch der Präsiden-
ten Trump und Erdogan, war von vielen
präzis vorausgesagt worden.
Politisch haben vor allem dieRepu-
blikaner ein Problem. Sie sind traditio-
nell jene, die einerobusteAussen- und
Sicherheitspolitik propagieren.Aber seit
zweieinhalbJahren müssen sie sich mit
einem republikanischen Präsidenten
arrangieren, der einerseits seinWahlver-
sprechen einlösen und «endloseKriege»
beenden will, anderseits mehr seinem
Instinkt als denVorschlägen fachkundi-
ger oder erfahrener Berater folgt.
Mit Ausnahme von Rand Paul,
einem in derWolle gefärbten Isolatio-
nisten, hat niemand im Senat den Ent-
scheid des Präsidenten gutgeheissen, mit
einem Abzugdes amerikanischen Mili-

tärsSyrien anderen Akteuren preiszu-
geben.VerschiedeneFaktoren tragen zu
einerrelativ breiten Ablehnung der tür-
kischen Invasion bei. DerAusverkauf
eines wichtigenVerbündeten im Kampf
gegen den Islamischen Staat ist einer
der wichtigeren, ebenso wie die Sorge,
die Terrormiliz werde es nun bedeutend
leichter haben, sich neu zu formieren
und in die Offensive überzugehen.
Zwar haben sichRepublikaner in
derVergangenheit gegen Entscheide
Trumps gestemmt, aber es waren nie
genug, um einVeto des Präsidenten
mit der nötigen Zweidrittelmehrheit zu
überstimmen. BeimVerkauf vonWaffen
an Saudiarabien, das wegen des Kriegs
in Jemen und wegen der Ermordung des
Journalisten Kashoggi unter Beschuss
geraten war, stimmten imJuli 5 der 53
Republikaner mit den Demokraten.
Bereits im Mai war ein andererVersuch
gescheitert, einVeto des Präsidenten
zu Jemen zu überstimmen, obwohl sich

7Republikaner auf die Seite der Geg-
ner schlugen. Damals hätteTrump ge-
zwungen werden sollen,Truppen abzu-
ziehen,die nicht mit expliziter Erlaubnis
desKongresses zur Unterstützung der
Saudiaraber entsandt wurden.
Im September scheiterte schliess-
lich auch der dritteVersuch. Es ging da-
bei um dieAusrufung des Notrechts,
die Trump ermöglichte, Gelder aus dem
Budget desPentagons zurVerstärkung
der Grenzbefestigungen im Südwesten
umzuleiten – gegen denWillen desKon-
gresses. Dieses Malstimmten 11Repu-
blikaner gegen dasVeto, die Zweidrit-
telmehrheit wurde dennoch bei weitem
verfehlt (54 zu 41).
Trumps Vorhaben konnten zwar
nicht gestoppt werden. Aber dieTat-
sache, dass erVetos gegen einenKon-
gress einsetzen muss, der zur Hälfte von
seiner eigenenParteikontrolliert wird,
ist mehr als ein Schönheitsfehler. Dies
gilt umso mehr,als die Demokraten seit

einigenWochen mit ihrer Impeachment-
Untersuchung den Präsidenten fast täg-
lich mitVorwürfen eindecken.
Im Fall Syriens versucht Trump, die
Türkei zum alleinigen Bösewicht zu ma-
chen. Er unterstützt darum mindestens
verbal parteiübergreifende Bemühun-
gen im Senat, wirtschaftliche Sanktionen
gegen Ankarazubeschliessen. Senator
LindseyGraham, ein sonstloyalerGe-
folg smann des Präsidenten, hatte zuerst
noch heftige Kritik amursprünglichen
AbzugsbefehlTrumps geübt. Nun schien
er sich auf die Sanktionen gegen dieTür-
kei konzentrieren zu wollen, was poli-
tisch bedeutend festerer Boden ist. Am
Montag war eigentlich nur noch die Kri-
tik Bob Corkers zu hören, des früheren
Vorsitzenden desKomitees fürAussen-
politikimSenat.Doch er hat schonvor
einiger Zeit dieKonsequenzen aus den
Schwierigkeiten gezogen,die ihm aus
seiner Gegnerschaft zuTrump erwuch-
sen, und ist Privatmann geworden.
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