6INTERNATIONAL Dienstag, 15. Oktober 2019
Wahlpropaganda voller Wide rsprüche
BorisJohnson legt seinRegierungsprogramm vor –dochfehlt ihm eineUnterhausmehrheit, um es umzusetzen
MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON
Zumersten Mal seit mehr als dreiJahren
haben die britischenFernsehzuschauer
eine «Queen’s Speech» mit allemPomp
gesehen. DieKönigin verkündet dabei
ihre Absichten für die folgendeParla-
mentssession, allerdings legt ihr seit
über dreiJahrhunderten dieRegierung
dieWorte in den Mund. Die Queen liest
dasRegierungsprogramm nur ab.
Hürdenvor dem Brexit
Aber war es überhaupteineRegierungs-
erklärung? Zweifel sind erlaubt. Pre-
mierminister BorisJohnson ist einKon-
servativer – aber sein Programm liest
sich wie eines der linkenLabour-Oppo-
sition. Dabei weiss jeder, dass das Unter-
haus dieRegierungserklärung nach obli-
gater Debatte in einerWoche vermut-
lich ablehnen wird.Das Programm ent-
hält ausserdem die Ankündigung, dass
der BrexitEndeOktober vollzogen wird
und der Schatzkanzler eineWoche spä-
terden ersten Haushaltsplan «nach dem
Brexit» vorlegt – aber wie man weiss,
istJohnson vermutlich gezwungen, in
Brüssel um eineVerlängerung der Bre-
xit-Frist nachzusuchen. Die Liste der
Widersprüche liesse sich verlängern.
Die«Queen’s Speech»kommt alsRegie-
rungsprogramm daher – aber es handelt
sich umWahlpropaganda derTories.
Wie nicht anders zu erwarten, enthält
es als erste Priorität den Brexit. Die zwei
Hürden, die sich davor auftürmen, wer-
den freilich verschwiegen. Erstens müs-
sen dieVerhandlungen, die derzeit in
Brüssel weitergehen, bis Mittwochabend
Früchte tragen. Am Donnerstag beginnt
der zweitägige EU-Gipfel, an dem die
St aats- undRegierungschefs der übri-
gen 27 Mitgliedstaaten ein Ergebnis ver-
abschieden.Laut Berichten aus Brüssel
sind sich die Unterhändler näher gekom-
men,aber betreffend der Zoll-Regimes
auf der irischen Insel harzt es weiter.
Die zweite Erfordernis ist, dassJohnsons
Brexit-Deal an einer für nächsten Sams-
tag einberufenen Sondersitzung des
Unterhauses verabschiedet wird.John-
son verfügt jedoch überkeine Mehrheit.
Der Premierminister ist auf die 10 Ab-
geordneten der nordirischen Unionis-
tenangewiesen; dazu auf die Stimmen
der ehemaligenRebellen; dazu auf die-
jenigen von rund 25 Brexit-Hardlinern
in den eigenenReihen, dieTheresa Mays
Deal bis zuletzt ablehnten; dazu, um die
fehlenden Stimmen auszugleichen, auf
20 bis 30Labour-Abgeordnete, die be-
reit sind,gegen dieFraktionsdisziplin zu
verstossen.
Vielleicht ganzkurzlebig
DieRegierung kündigte alskonkrete
Massnahme im Brexit-Zusammen-
hang eine neue Einwanderungspolitik
an. In Zukunft soll gegenüber Immi-
granten aus allen Staaten und auch der
EU ein Punktesystem angewendet wer-
den, das neben Einkommen undAusbil-
dung den künftigen Arbeitsort bewer-
tet. Einen Schwerpunkt bildet dieLaw-
and-Order-Politik; neben derRekrutie-
rung von 20 000 zusätzlichenPolizisten
sollen die Gerichte strengere Strafen
verfügen. Die Sozial- und Gesundheits-
dienste sollen ausgebaut und Betagte
davor geschützt werden, zurFinanzie-
rung ihrer Alterspflege das eigene Haus
veräussern zu müssen.Aufmerksamkeit
verdient eine Zäsur in derVerkehrspoli-
tik: die in den1990erJahren unterJohn
Major eingeführte, nach Strecken diffe-
renzierte Lizenzierung von Eisenbahn-
unternehmen soll abgeschafft und durch
Leistungsverträge ersetzt werden.Auch
diese Massnahme steht im Zeichen des
bevorstehendenWahlkampfs. DieKon-
servativen hoffen, derLabour-Partei in
deren Hochburgen, die von sozialen und
wirtschaftlichen Krisen geschüttelt wor-
den sind und die 20 16 für den EU-Aus-
tritt gestimmt haben, Sitze abzuknöpfen.
Bei der letztenRegierungserklärung
imSommer2017 hatte dieMonarchin
auf einenTeil des Zeremoniells verzich-
tet, weil dievorausgegangenen vorge-
zogenen Neuwahlen nicht in den Kalen-
der desKönigshauses passten. Die da-
malige PremierministerinTheresa May
hatte ausserdem wegen des Brexits eine
mit zweiJahren ungewöhnlich lange
Parlamentssession veranschlagt. Immer-
hinkehrte derPomp diesmal zurück,
wenn sich die Queen wohl auch selber
fragte, ob ihrRedetext nicht schonbald
Makulatur sein werde.
Ein spröder Saubermannwird Präsident
Tunesienwählt mit klarer Mehrheit einen parteilosen Juristen andie Spitze des Staates
SARAH MERSCH, TUNIS
Freudentränen,Feuerwerke undAuto-
korsosin der Innenstadt vonTunis:Tau-
sendeMenschen haben sich am Sonn-
tagabend spontan versammelt, um den
so gut wie sicherenWahlsieg von Kais
Saied zu feiern. «Heute, mit fünfzigJah-
ren, habe ich zum ersten Mal dieRevo-
lution gespürt», ruft ein Mann freude-
strahlend.
Nur wenige hundert Meter von der
freudetrunkenen Menge entfernt gibt
Saied seine Pressekonferenz, bescheiden
und nüchtern wie immer. Imfürihn typi-
schen monotonen Hocharabisch dankt
der schmale, grossgewachsene Mann
den Bürgern und versichert, der Präsi-
dent allerTunesier sein zu wollen. «Die
Tunesier haben der ganzenWelt eine
Lektion erteilt. Es ist eineRevolution
imRahmen einer demokratischenVer-
fassung und in völliger Legalität», inter-
pretiert er denWahlausgang.
Das offizielle Ergebnis der gestrigen
Stichwahl um das Präsidentenamt wird
zwar erst für Dienstag erwartet.Laut
Nachwahlbefragungen zweier Umfrage-
institute liegt Saied mit mehr als 70 Pro-
zent der Stimmen aber so klar inFüh-
rung, dass es an seinem Sieg kaum noch
Zweifel gibt.
Bei der Ju gend beliebt
Zwar wurde Saied während Monaten
in spontanen Umfragen immer wieder
als möglicher Präsident genannt, doch
dass er tatsächlich ohnePartei, ohne fes-
tesWahlkampfteam und ohnenennens-
werteFinanzierung einen Erdrutschsieg
erringen würde, daran glaubtenauch
viele Anhänger lange nicht.
Bereits kurz nach derRevolution
war derRechtsdozent immer wiederals
Verfassungsexperte in den tunesischen
Medien in Erscheinung getreten – und
von vielen Menschen zu einer Kandi-
datur gedrängt worden. 20 14 hatte er
noch abgelehnt. Er habekein Interesse
anPosten undPalästen,sagte er damals.
Überzeugt habe ihn schliesslich ein jun-
ger Mann, der ihn 20 17 an einerAuto-
bahnraststätte angesprochen habe. «Er
ist inTr änen ausgebrochen und hat mir
gesagt,ich hätte damals dieVerantwor-
tung nicht übernommen, dabei sei ich
es den jungen Leuten schuldig», sagt
er mit leicht zitternder Stimme. Dieser
Moment habe ihn dazu bewogen, 2 019
zu kandidieren.
Anhängern verschiedenster politi-
scherLager dient derJurist als Projek-
tionsfläche. Es sind vor allem jüngere,
gut ausgebildeteTunesier, die Saied ge-
wählt haben. Unter den18- bis 25-Jäh-
rigen sind es laut den Umfragen so-
gar 90 Prozent derWähler. Sie sehen in
ihm eine Alternative zu der politischen
Klasse, die sich ab 2011 an den verschie-
denenRegierungen beteiligt hatte. Pos-
tenschacher und persönlicheAusein-
andersetzungen,Korruptionsvorwürfe
und wirtschaftlicher Stillstand hatten die
letztenJahre inTunesien geprägt.
Projekt Basisdemokratie
Es war einKontext, der dem als inte-
ger und prinzipientreu geltenden Saied
zugutekam. Die Botschaft des 61-Jähri-
gen zieht: Er selbst sei nur das Mittel,
um denWillen der Bevölkerung und die
Forderungen derRevolution umzuset-
zen.Versprochen hat Saied in diesem
Wahlkampf nichts ausser der Idee,das
Verhältnis der Bürger zumStaat neu zu
denken. Dreh- und Angelpunkt ist da-
bei ein basisdemokratisches, dezentra-
lisiertesRegierungssystem.Dabei wäh-
len die Bürger auf lokaler EbeneVertre-
ter, die dann ihrerseitsVertreter in die
nächsthöheren Gremien entsenden,um
die Anliegen der verschiedenenRegio-
nen in einemParlament zu verteidi-
gen.Wenn die Menschen der Ansicht
sind, dass dieVolksvertreter ihreArbeit
schlecht machen, können sie ihnen das
Mandat entziehen.
Ein politisches Projekt, das Slim
Laghmani, Professor fürRechtsphilo-
sophie, als utopisch bezeichnet. Ihn be-
unruhigt vor allem, welchenWeg Saied
und seine Anhänger einschlagen wer-
den, wenn das von ihnen vertretene
Konzept und die dafür notwendigeVer-
fassungsänderung nicht umgesetzt wer-
denkönnen. Denn ohne eigenePar-
tei, geschweige denn einer Mehrheit im
Parlament scheint dies ein Ding der Un-
möglichkeit. Der neue Präsident riskiert,
zum Spielball des zersplittertenParla-
ments zuwerden und am Ende trotz
seinem lagerübergreifend starkenWahl-
ergebnis isoliert dazustehen.
Konservative Positionen
Nicht wenigeWähler haben auch vor
allem aus Ablehnung des Gegenkandi-
daten, des einflussreichen Medienunter-
nehmers Nabil Karoui, für denJuristen
Saied gestimmt. Dessenkonservative
gesellschaftlichePositionen stellen für
sie ein Problem dar.
So möchte er zum Beispiel dieTodes-
strafe, für die seit mehr als zwanzigJah-
ren ein Moratorium besteht, beibehalten.
Während er sich zwar gegen die Gefäng-
nisstrafe für Homosexuelle ausspricht,
lehnt er es gleichzeitig ab, den entspre-
chenden Paragrafen des tunesischen
Strafrechts zu streichen. Er hat aber
gleichzeitig klargestellt, dass es in Sachen
Gleichstellung zwischen Mann undFrau
keineRückschritte geben werde. Heute
hätten sie für Saied gestimmt, morgen
seien sie bereit, gegen seine Ideen auf die
Strasse zu gehen – so oder ähnlich for-
mulieren viele Mitglieder der einfluss-
reichen tunesischen Zivilgesellschaft ihr
ambivalentesVerhältnis zum Gewinner.
Einmal ernannt, wird der neue Prä-
sidentzunächst versuchen müssen, zwi-
schen den verschiedenen Kräften des
zersplittertenParlaments zu vermitteln,
damit überhaupt eineRegierung zu-
standekommt.Wohin erTunesien dar-
über hinaus führen wird und wie lange
der erneutauflebenderevolutionäre
Elan überdauert, ist offen. Die Erwar-
tungen, die auf Saied lasten, sindenorm.
Derneue tunesische Präsident Kais Saied hatweder eine eigenePartei nocheine Parlamentsmehrheit im Rücken. MOSA’AB ELSHAMY / AP
Ecuadors
Regierung einigt
sich mitIndigenen
Präsident Morenozieht das
umstritteneTreibstoff-Dekret zurück
NICOLE ANLIKER, RIO DEJANEIRO
Nach elfTagen anhaltender Proteste
gegen die Erhöhung von Kraftstoffprei-
sen ist es am Sonntagabend in Ecuador
zu einer Einigung zwischen denKonflikt-
parteien gekommen. DieRegierung hat
das Dekret zurückgezogen, mit dem die
staatlichen Subventionen fürTr eibstoffe
gestrichen worden waren. Die mäch-
tige Indigenen-Organisation Conaie er-
klärte im Gegenzug die von ihr angeführ-
ten Demonstrationen für beendet.Vo m
Tisch ist dasThema damit aber nicht.
Ein neues Dekret wird nun von einer ge-
meinsamemKommission und unterVer-
mittlung der Uno-Vertretung in Ecua-
dor und der Bischofskonferenz erarbei-
tet. Dieses soll verhindern, dass die Ab-
sc haffung derTr eibstoffsubventionen die
ärmeren Bevölkerungsschichten trifft.
Sieben Todesopfer
Ecuadors Präsident Lenín Moreno hatte
zunächst mehrmals bekräftigt, die be-
schlossene Streichung von Subventio-
nen nicht rückgängig machen zu wol-
len. Quito versprach sich, damit jähr-
lich gut 1,3 Milliarden Dollar einzuspa-
ren. Zu der Massnahme hatte sich die
Regierung im Gegenzug für einen Kre-
dit des InternationalenWährungsfonds
in der Höhe von 4,2 Milliarden Dollar
verpflichtet. DasAndenland kämpft mit
einem hohen Haushaltsdefizit. Mit den
zusätzlichen Geldern soll die hoheAus-
landverschuldungreduziert werden. Pro-
teste von Indigenen haben in den vergan-
genenJahrzehnten bereits drei ecuado-
rianische Präsidenten gestürzt. Morenos
Einlenken lässt sich wohl auch damit er-
klären. Der Druck auf ihnhatte in den
vergangenenTagenstark zugenommen.
Durch die Streichung der Subven-
tionen waren die Benzinpreise um rund
einenViertel und die Dieselpreise auf
das Doppelte angestiegen. Ein Streik
war zunächst vonTr ansportunterneh-
men ausgerufen worden. Indigenen-
Organisationen übernahmen später die
Führung der Proteste,die zunehmend
erstarkten. AlsReaktion darauf verlegte
Moreno seineRegierung temporär von
Quito nach Guayaquil an denPazifik, rief
einen 60-tägigenAusnahmezustand aus
und verhängte am Samstag in der Haupt-
stadt eineAusgangssperre. DieLage liess
sich dadurchaber nicht beruhigen.
Am Samstag kam es wiederholt zu
gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen Demonstranten und Sicher-
heitskräften. Laut dem Innenministe-
rium plünderten Protestierende den Sitz
desRechnungshofs und setztendiesen
inBrand. Die Protestehielten auch noch
am Sonntagan. Nach Angaben des Bür-
gerbeauftragten von Ecuador kamen
bei den Unruhen insgesamt mindestens
siebenPersonen ums Leben, 1340 wur-
den verletzt und 1152 festgenommen.
DerVorsitzende der Conaie sprach der-
weil von zehnTodesopfernund mehr als
2000 Verletzten. Er machte die Minister
für Inneres undWirtschaft dafür verant-
wortlich und forderte ihrenRücktritt.
Maduro und Correabeschu ldigt
Zweimal beschuldigte Moreno in den ver-
gangenenTagen seinenVorgängerRafael
Correa undVenezuelas Präsidenten Nico-
lás Maduro,dieGewalttätigkeit ange-
stiftet zu haben und einen Staatsstreich
gegen seineRegierung voranzutreiben.
Beweise dafür legte er jedochkeine vor.
Maduro wie auch Correa wiesen die An-
schuldigungen umgehend zurück. Correa
forderte von seinem belgischen Exil aus
Neuwahlen. ÜberTwitter erklärte er, hin-
ter der Protestwelle stehekein externer
Faktor, sondern die schlechteWirtschafts-
führung derRegierung.
Zahlreiche Regierungen in der
Region, unter ihnen auch jene Brasiliens
und Argentiniens, unterstützten Moreno
in einer gemeinsamen Erklärung als legi-
timenVertreter der verfassungsmässigen
Ordnung. Darin bezichtigten sie Maduro,
die Destabilisierung der Demokratien in
derRegion zu fördern.