Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

Dienstag, 15. Oktober 2019 INTERNATIONAL


Der Klimawandel rüttelt Kanada auf


Die global e Erwärmung domin iert den Wahlkampf wie kaum ein anderes Thema


MARIE-ASTRID LANGER,VANCOUVER


Die Schlange zieht sich einmal um den
Block, selbstRegenschauer und der
tobende Oktoberwind vertreiben die
Wartenden nicht. Eltern mit Kleinkin-
dern, Studenten inYoga-Kleidung und
Rentner mitVelohelm unter dem Arm
drängen sich ins Gemeindezentrum von
Granville, einem Stadtteil vonVancou-
ver. Der Klimawandel bringtsie an die-
sem Abend hierher – genauer gesagt
die Frage, was die vier lokalen Kandi-
daten für die kanadische Unterhaus-
wahl am 21.Oktober dagegen unterneh-
men wollen. «Umweltschutz ist für uns
das wichtigsteThema», sagt eine 27-Jäh-
rige, die auf Einlass wartet; ihre zwei
Freunde pflichten ihr bei.Vielleicht 200
Gäste drängensich schliesslich Schulter
an Schulter in dasAuditorium;es gibt
Gratisbier,Brotmit Hummus-Aufstrich
und jede Menge Ideen für den Umwelt-
schutz: Die Kandidatinder GrünenPar-
tei will allePestizide verbieten, jene der
sozialdemokratischen New Democratic
Party alle Subventionen für fossile Ener-
gieträger streichen.Dass Erdöl jedoch
eine Säule der kanadischenWirtschaft
bildet, spricht niemand an.


ExtremeWetterereignisse


In einer Umfrage des Instituts Abacus
Data sagten 82 Prozent der Bürger,
die globale Erwärmung sei ein «erns-
tes» oder «extrem ernstes» Problem,
nur noch übertroffen von den steigen-
den Lebenshaltungskosten.DasThema
sorgt die Befragten mehr als Zuwande-
rung, soziale Ungleichheit und Arbeits-
platzverlust durchAutomatisierung.
«Noch nie hat der Klimawandel eine
solche Rolle bei kanadischenWah-
len gespielt», sagt derPolitologeDavid
Moscrop von der University of Ottawa.
Bisher sei Umweltschutz immer ein
Thema von vielen gewesen, doch seit
den letztenParlamentswahlen habe die
Brisanz zugenommen. «Die Menschen
sehen extremeWetterereignisse, die sie
dem Klimawandel zuschreiben.»Allein
in der Provinz British Columbia (BC)
ga b es vergangenen Sommer mehr als
500Waldbrände, auch Hochwasser pla-
gen dasLand immer häufiger.Gleich-
zeitig spielt die Natur ineinemLand, das
so gross ist wie die USA, aber nurrund
ein Zehntel der Einwohner hat, eine
wichtigeRolle im Leben der Menschen.
Vor all em unter jungenWählern wächst
der Unmut über den Klimawandel, wie
die Umfragen zeigen – oder ein Blick
auf die Strassen: Bei Protesten wieFri-
days forFuture oder dem Global Cli-
mate Strike Ende September demons-
trierten Hunderttausende Kanadier von
Vancouver bisToronto.


Der Leistungsausweis derregieren-
den LiberalParty ist beim Klimaschutz
durchmischt.Vor vierJahren gelang dem
NewcomerJustin Trudeau ein Erdrutsch-
sieg (siehe Zusatz), auch dank demVer-
sprechen, mehr fürden Klimaschutz zu
tun. DerVergleich zurVorgängerregie-
rung war einfach,schliesslich war Kanada
unter demkonservativen Stephen Harper
aus demKyoto-Protokoll ausgestiegen.

Liberalelegen nach


Nun muss sichTrudeau an seinenTaten
messen lassen. Seine grössten Leistun-
gen sind eine neue Steuer aufTreibhaus-
gasemissionen und ein Handelssystem
für CO 2 -Zertifikate. Doch die vomVor-
gänger gesetzten Emissionsziele für
2030 dürfte Kanada weiterhin verfehlen.
Auch zählt dasLand weltweit nach wie
vor zu den zehngrösstenVerursachern
von Treibhausgasen proKopf.

Als Reaktion auf den wachsenden
Druckaus der Bevölkerung haben die
Liberalen in den letztenWochen nach-
gelegt:Bis 2050 wollen sie dasLand emis-
sionsneutral machen, also nicht mehr
Treibhausgase produzieren, als Kanada
kompensieren kann. Zudem hat die
Regierung zinsfreieDarlehen verspro-
chen für Hausbesitzer, die ihr Eigenheim
energieeffizient umrüsten.Auch 2Millio-
nen Bäume will sie pflanzen.«Der Klima-
wandel ist das alles definierende Problem
unse rer Generation», sagteTrudeau vor
wenigenTagen bei einerFernsehdebatte.
Einige dieser Pläne seien wohl improvi-
siert worden,vermutet RichardJohnston,
der alsPolitologe an der University of
British Columbia dieWahlen beobachtet.
«Doch man muss auch zugestehen: Noch
nie hat eineRegierung in Kanada mehr
für den Klimaschutz getan als die jetzige.»
An keinem anderen Ort sieht man die
Bedeutung des Klimas imWahlkampf

besser als in British Columbia. Die Pro-
vinz ist bekannt für ihre spektakulären
Berge und Fjorde – und für ihr Umwelt-
bewusstsein. Als erste Provinz hatte BC
2008 eine Steuer aufKohlenstoffemis-
sionen erlassen. Häufig sind die kanadi-
schenParlamentswahlen schon entschie-
den, bevor dieWahllokale hier imWesten
überhaupt geschlossen haben. Doch die-
ses Jahr, darin sind sich Experten einig,
könnte British ColumbiaKönigsmacher
spielen. In landesweiten Umfragen liegen
die regierenden Liberalen fast gleichauf
mit denKonservativen, die GrünePar-
tei iststark imAufwind;am Endekönnte
eine HandvollWahlbezirke ganz imWes-
ten entscheiden, wer den nächsten Pre-
mierminister stellt. Granville, wo an die-
sem Oktoberabend die Klimadebatte
stattfindet,zählt zu den am stärksten um-
kämpftenWahlkreisen.

Affäre um Baufirma


Granville verkörpert auch die Probleme
derRegierungTrudeau: Die bisherige
Abgeordnete desWahlkreises istJody
Wilson-Raybould, bis Februar war sie
Mitglied der LiberalenPartei undJus-
tizministerin. Um ihrePerson dreht sich
der grösste Skandal derRegierung:Tru-
deau hatte sie massiv unter Druck ge-
setzt, ein Strafverfahren gegen diekor-
rupte kanadischeBaufirma SNCLavalin
einzustellen, um Arbeitsplätze in seiner
Heimatprovinz Quebec nicht zu gefähr-
den.AlsWilson-Raybould sich weigerte,
degradierte er sie auf einenanderen
Ministerposten und entliess sie schliess-
lich. Als das bekanntwurde, musste
sich Trudeaukorruptes Gebaren und
Respektlosigkeit gegenüber einerFrau
und Indigenen vorwerfen lassen.
Wilson-Raybould tritt nun als un-
abhängige Kandidatin an – und sie hat
gute Chancen, gewählt zu werden.Wie
sie gegenüberTrudeauRückgrat gezeigt
hat,habe ihn beeindruckt,sagt ein Mann
Mitte 30, der mitseiner Frau die Klima-
debatte in Granville besucht. Trotzdem
ist er hin- und hergerissen, ob er die
Amtsinhaberin desWahlkreises oder
den Kandidaten der Liberalen wählen
soll. «Ich will aufkeinenFall einekon-
servativeRegierung», sagt er. Die Kon-
servativen geben sich punkto Umwelt-
schutzvage, vielmehr versuchen sie, mit

Versprechen zu Steuerkürzungen zu
punkten.«Soll ich lieber strategisch wäh-
len oder für die Unabhängige, die mich
überzeugt?», fasst eineFrau ihr Dilemma
in Granville zusammen.Für die Statis-
tikgurus von 338Canada ist dieWahl in
Granville zurzeit unentschieden.

Angstvor Pipeline-Unfall


EineAutostunde von Granvilleentfernt
findet man das zweite grosse Problem der
RegierungTrudeau–ihre grosseKlima-
sünde. In der Stadt Burnaby mit ihren
250 000 Einwohnern mündet dieTrans
Mountain Pipeline ins Meer – eine 1150
Kilometer lange Erdölleitung, die von
Alberta durch dieRocky Mountains bis
in denTiefseehafen von Burnaby verläuft.
Die Regierung hat nicht nur demBau
einer zweitenRöhre zugestimmt,sondern
die ganze Pipeline imFrühjahr für umge-
rechnet 4,5 MilliardenFranken gekauft.
In Burnaby North-Seymour – eben-
falls ein heiss umkämpfterWahlkreis


  • sorgen sich die Bürger massiv wegen
    der Gefahren für die Umwelt, die mit
    einer zweiten Pipeline einhergehen.Die
    Gegend ist ein Naherholungsgebiet für
    die gesamte Metropolregion, an klaren
    Tagen sieht man hier die schneebedeck-
    ten Gipfel des Kaskadengebirges. Die
    riesigen Erdöltanks, die amFuss des
    Burnaby Mountain stehen, wirken wie
    ein Fremdkörper in der Naturidylle.
    Eine Grundschule grenzt direkt an
    das Gelände. «Achtung, hier verlaufen
    Hochdruck-Erdölleitungen», steht auf
    einemWarnschild mitten imWald. Statt
    eine zweite Pipeline zu bauen,sollte die
    Regierung lieber die erste einreissen,
    sagt ein besorgter Anwohner.
    Trudeaurechtfertigt denAusbau der
    Pipeline damit, dass dieser dem Staat
    die nötigenfinanziellen Mittel beschaffe,
    um den Klimaschutz voranzutreiben.
    Was er nicht sagt, ist, dass an der Pipe-
    lin e auchTausende Arbeitsplätze hän-
    gen. Die Trans MountainPipeline sei der
    politische Preis gewesen, den dieRegie-
    rung habe zahlen müssen, um von der
    Erdölprovinz Alberta die Zustimmung
    für die «carbon tax» zu bekommen, sagt
    der PolitologeJohnston. Beides hätte
    di e Regierung nicht durchgeboxt be-
    kommen – auch nicht in Kanada.«Viele
    Umweltschützer sind darealitätsfern.»


Die Trudeau-Dynastie gerät ins Wanken


lma.Vancouver· Richard Nixon sollte
recht behalten. Der damalige amerika-
nische Präsident erhob1972 bei einem
Staatsbesuch in Ottawa das Glas auf den
vier Monate alten Sohn seines Amts-
kollegen und prostete diesem zu:«Ich
möchte auf den künftigen kanadischen
Premierminister anstossen:Justin Pierre
Trudeau!»
Die Parlamentswahlen 43Jahre spä-
ter bestätigten dieVoraussage.Justin
Trudeau war als ältester der drei Söhne
von Pierre ElliottTrudeau aufgewach-
sen, dem15.kanadischen Premierminis-
ter. Dessen Motto lautete«Vernunft über
Leidenschaft»,und mit dieser Einstellung
schaffte er es, die Separatistenbestrebun-
gen des französischsprachigen Quebec in
den achtzigerJahren aufzuhalten.
Justin wiederum weigerte sich lange,
in diePolitik zu gehen.Es dürfte ihn ab-
geschreckt haben,zu sehen,welch hohen
Preis seine Eltern, die sich nach weni-
gen Jahren Ehe scheiden liessen, für
die politische Karriere desVaters zahl-
ten , schreibt der kanadischeJournalist
John Ivison in der jüngst erschienenen
Biografie«Trudeau–The Education of
a Prime Minister». Stattdessen studierte


Justin Literatur- und Erziehungswissen-
schaften, jobbte als Snowboard-Lehrer
in Whistler und arbeitete mehrere Jahre
als Lehrer.
Einen Schlüsselmoment in seinem
politischen Werdegang stellte ausge-
rechnet die Beerdigung desVaters dar.

Dieser verstarb im Herbst 2000 an den
Folgen einer Krebserkrankung. In einer
rhetorisch herausragendenRede, die
weltweit für Schlagzeilen sorgte, pries
Trudeau den beliebten elder Statesman
und verabschiedete sich mit denWor-
ten «Je t’aime, Papa», bevor er den Sarg

küsst e. Ganz Kanada wartete seit dem
Tag aufTrudeaus Eintritt in diePolitik,
schreibt Ivison.
Endgültig wagteJustin den Schritt
erst 2008, als er für einenWahlkreis in
Montreal ins kanadische Unterhaus ein-
zog. 2013 wählte die LiberalePartei Tru-
deau zumParteivorsitzenden, nachdem
sie zweiJahre zuvor bei derParlaments-
wahl eine herbe Niederlage eingefah-
ren hatte.Trudeau half den Liberalen,
2015 wie Phönix aus der Asche zu stei-
gen und ihreParlamentssitze von 36 auf
184 zu verfünffachen. Es war der bis dato
grösste Zugewinn einerPartei. Auch er
selbst schrieb Geschichte: Zum ersten
Mal wurde mit dem damals 43-jährigen
Trudeau der Nachkomme eines früheren
PremierministersRegierungschef.
Vier Jahre nach diesem Erdrutsch-
sieg drohtTrudeau junior nun erneut
in dieFussstapfen desVaters zu treten:
Auch dieser hatte1968 zunächst eine
bequeme Mehrheiterrungen,steckte vier
Jahre später jedoch massive Sitzverluste
ein und musste eine Minderheitsregie-
rung eingehen.Genau das scheint laut
Prognosen derzeit der wahrscheinlichste
Ausgang derWahl am 21.Oktober.

KEYSTONE/GETTY
JustinTrudeau
Kanadas
23.Premierminister

Pierre Elliott
TrudeauKanadas


  1. Premierminister


Ölraffinerie in Burnabyander Pazifikküste: Hier endeteine neuePipeline aus der Provinz Alberta. BEN NELMS / BLOOMBERG
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