Die Welt Kompakt - 15.10.2019

(nextflipdebug5) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,15.OKTOBER2019 FORUM 15


F


ast täglich hören wir von Erfol-
gen der medizinischen For-
schung: neue Therapien, neue
Medikamente, neue Diagnose-
möglichkeiten. Der Fortschritt hat nicht
an Schwung verloren. Andererseits neh-
men wir auch negative Trends wahr:
mehr Krebs, mehr Alzheimer oder die
tödliche Gefahr, die von Killerbakterien
ausgeht. Geht es mit unserer Gesund-
heit insgesamt bergauf oder bergab?
Die durchschnittliche Lebenserwar-
tung ist ein Parameter, der am ehesten
ein mittleres Maß für die Gesundheit
der Bürger eines Landes sein kann. Die
Lebenserwartung hängt ja von der Qua-
lität der medizinischen Versorgung, der
Hygiene in Krankenhäusern und natür-
lich der Gesundheit der Individuen ab.
Doch auch das Wohlstandsniveau, die
Arbeitsbedingungen, die Bildungshöhe
und der Umfang der sozialen Fürsorge
wirken sich auf die Lebenserwartung
auf. In der Bundesrepublik ist die Le-
benserwartung bislang kontinuierlich
gestiegen. Dies belegt, dass sich die
Lebensverhältnisse im Großen und
Ganzen deutlich verbessert haben. Doch
die letzten beiden Datensätze des Statis-
tischen Bundesamtes offenbaren erst-
mals eine Stagnation. Die Lebenserwar-
tung der Deutschen ist nicht weiter über
78 Jahre und 4 Monate bei den Männern
und 83 Jahre und zwei Monate bei den
Frauen gestiegen.
Haben wir vielleicht den Zenit er-
reicht? Überdeckt der negative Einfluss
einer schlechten Lebensführung mitt-
lerweile den positiven Effekt der ins-
gesamt nach wie vor guten Lebens-
verhältnisse? Stagniert in diesem Sinne
die Gesundheit? Die Gesundheit eines
Individuums kann deutlich besser oder
schlechter als der Durchschnitt sein und
die Lebenserwartung entsprechend
niedriger oder höher ausfallen. In einem
Land wie Deutschland, in dem Lebens-
umstände und medizinische Versorgung
auf einem mehr als akzeptablen Niveau
sind, sehen Gesundheitsexperten als
wichtigste Faktoren für eine unter-
durchschnittliche Lebenserwartung:
Rauchen, Fettleibigkeit, Bluthochdruck,
Diabetes und zu wenig Bewegung.
Rund zwei Drittel der deutschen
Männer sind zu dick. Besorgniserregend
ist, dass die Fettleibigkeit in immer
früheren Lebensjahren beginnt. Fast
jeder vierte 15-Jährige ist bereits be-
troffen. Bei den Mädchen sind es im
gleichen Alter immerhin 13 Prozent. Und
Studien zeigen: Wer bereits als Jugend-
licher übergewichtig ist, schafft es sel-


ten, dieses Handicap als Erwachsener
abzuschütteln. Der Grund für jugend-
liche Adipositas ist in erster Linie ein
Mangel an Bewegung. Tobten früher
Kinder in Parks oder verkehrsarmen
Straßen herum, so sitzen sie heute eher
vor Geräten mit einem Monitor. In Be-
wegung bleiben da nur die über Touch-
Screens huschenden Finger. Außerdem
ist ein hoher Konsum von Zucker und
Fett ein Schlüsselfaktor für Übergewicht
bei Teenagern.
Wenn insgesamt die Lebenserwartung
stagniert, sagt dies noch nichts über
einzelne gesellschaftliche Gruppen aus.
Ja, es gibt sie, Menschen, die sich ge-
sundheitsbewusst ernähren, viel Sport
treiben,dabei nicht rauchen und nur
mäßig oder gar keinen Alkohol kon-
sumieren. Und ja, diese Menschen errei-
chen in der Regel ein überdurchschnitt-
liches Alter. Die Entscheidung zu einem
gesunden Leben und die Willenskraft,
dies auch umzusetzen, erfordern gewis-
se kognitive Fähigkeiten. Es überrascht
nicht, dass die Statistik einen Zusam-
menhang zwischen Lebenserwartung
und dem Bildungsgrad ausweist. Frauen
mit niedrigerem sozialem Status sterben
acht Jahre früher. Bei Männern macht
dieser Effekt sogar mehr als zehn Jahre
aus. Hier spielt aber sicherlich nicht nur
die ungesündere Lebensführung eine
Rolle. Da Bildung in aller Regel auch mit
finanziellem Wohlstand korreliert, kön-
nen sich Gebildete meist auch eine bes-
sere medizinische Versorgung leisten.
Wir sind also, was die Gesundheit be-
trifft, eine gespaltene Gesellschaft.
Wenn es den politischen Willen gibt,
dies zu überwinden, und das Ziel eine
insgesamt gesündere Bevölkerung ist,
dann wäre die Bildung die wichtigste

Gesünder


wird‘s nicht


NORBERT LOSSAU

LEITARTIKEL


Der medizinische Fortschritt


war in den vergangenen


Jahrzehnten gigantisch


Stellschraube. Lebensmittelampeln auf
Verpackungen im Supermarkt werden da
alleine nicht helfen.
Eine höhere Lebenserwartung ist
indes kein Selbstzweck. Wenn ein länge-
res Leben lediglich zu einer längeren
Phase des Leidens in den letzten Le-
bensjahren führt, ist dieser Fortschritt
zumindest fragwürdig. Studien zeigen,
dass die gestiegene Lebenserwartung
auch zu einem schlechteren Gesund-
heitszustand alter Menschen geführt
hat. Arthrose, Demenz oder Krebs sind
Erkrankungen, die statistisch signifikant
mit wachsendem Alter häufiger auf-
treten. Der kontinuierliche Anstieg von
Krebsneuerkrankungen lässt sich pro-
blemlos mit der höheren Lebenserwar-
tung erklären. Der Rückgang der Sterb-
lichkeit bei den meisten Krebsarten ist
hingegen dem medizinischen Fortschritt
zu verdanken.
Wer gesund alt werden möchte, muss
also neben einer gesunden Lebensfüh-
rung auch Vorsorgeuntersuchungen auf
sich nehmen. Für viele Erkrankungen
gilt: Je früher sie diagnostiziert werden,
umso größer ist die Chance einer Hei-
lung. Das gilt insbesondere für die meis-
ten Krebserkrankungen. So ist beispiels-
weise die Zahl der Todesfälle durch

Darmkrebs hierzulande deutlich zurück-
gegangen, seitdem immer mehr Men-
schen die entsprechenden Vorsorgeun-
tersuchungen nutzen. Der medizinische
Fortschritt in Diagnostik und Therapie
war in den vergangenen Jahrzehnten
gigantisch. Wir sollten uns aber nicht
darauf verlassen, dass neue Therapien
und Medikamente vor Altersleiden be-
wahren. Das größere Potenzial steckt in
der Verantwortung des Einzelnen.
Leider muss man auch sagen, dass es
sich hier immer nur um statistische
Aussagen und keine 100-Prozent-Kausa-
litäten handelt. Auch wer alle Ernäh-
rungsratschläge berücksichtigt und
täglich viel Sport treibt, kann Pech ha-
ben und von einer schweren Erkrankung
heimgesucht werden. Bei manchen ist
die Ursache ohnehin noch gar nicht
bekannt. Dann ist eine entsprechende
Prävention gar nicht möglich. Das
Schicksal lässt sich nicht komplett ab-
schalten.
Zu all dem können sich jederzeit neue
Gefahren und Risiken für die Gesund-
heit der Menschen ergeben. Mutationen
können neue, gefährliche Krankheits-
erreger hervorbringen, die sich global
verbreiten und Gesundheitssysteme vor
größte Herausforderungen stellen. Ab-
sehbar sind bereits die Konsequenzen,
die sich aus dem Klimawandel ergeben.
Höhere Temperaturen führen im statis-
tischen Mittel beispielsweise zu mehr
Herzinfarkten und Hitzetoten. Und
wenn das Klima hierzulande erst einmal
den tropischen Stechmücken genehm
ist, werden sich auch Malaria und Den-
gue-Fieber verbreiten. Auf die mittlere
Lebenserwartung wird sich das gewiss
nicht positiv auswirken.
[email protected]

ǑǑ


Bislang sind die Deutschen von Jahr zu Jahr


immer älter geworden. Nun zeigt sich erstmals


eine Stagnation – weil die Menschen rauchen,


zu viel essen und sich zu wenig bewegen. Und


es drohen noch ganz neue Risiken


KOMMENTAR

DAGMAR ROSENFELD

C


urrywurst ist SPD. Mit
diesem Slogan haben die
Sozialdemokraten Wahl-
kampf gemacht, zu einer Zeit,
als Fleischessen noch nicht böse
war und es für die SPD in den
Umfragen noch nicht um die
Wurst ging. Nun ist bekannt
geworden, dass Andrea Nahles
ihr Bundestagsmandat nieder-
legen wird, und mit ihrem Ab-
gang sind die Currywurstzeiten
bei den Genossen endgültig
vorbei.
Würzig, bodenständig, immer
auch ein bisschen prollig und
manchmal schwer verdaulich, so
ist die Currywurst, und so war
Andrea Nahles. Eben eine echte
Sozialdemokratin. Ob sie als
erste Frau an der Spitze die
Partei in eine neue Zeit hätte
führen können, diese Frage wird
unbeantwortet bleiben. In je-
dem Fall ist sie eine Linke, die
versucht hat, die SPD auf den
rechten Weg zu führen: hinein
in die große Koalition und zu-
gleich heraus aus dem Schatten-
reich der Agendapolitik. Den
darin angelegten Widerspruch
hat sie allerdings nicht auflösen
können.
Ausgerechnet Nahles ist zur
Symbolfigur der Vernunfts-SPD
geworden, einer Partei, die sich


  • wie so oft in ihrer langen Ge-
    schichte – gegen ihre Gefühle
    und für das Wohl des Landes
    entschieden hat. Nur: Dieses
    Mal hat sich der Herzschmerz
    in Wut verwandelt, und diese
    Wut hat sich gegen die Vor-
    sitzende gerichtet, und zwar
    gnadenlos. Wobei Gnade keine
    politische Kategorie ist, wie
    derzeit auch bei der CDU zu
    beobachten ist.
    In der SPD ist der Grat zwi-
    schen Emotionalität und Bruta-
    lität ein schmaler, so gesehen ist
    Andrea Nahles Sozialdemokra-
    tin durch und durch gewesen.
    Franz Müntefering wird das
    bestätigen können. Nahles ist
    jedoch auch brutal authentisch
    gewesen. Bezeichnenderweise
    haben gerade die, die besonders
    laut nach Authentizität in der
    Politik rufen, das nicht aus-
    gehalten. „Ab morgen kriegen
    sie in die Fresse“ oder „Bätschi“
    mögen unangemessen gewesen
    sein, aber in jedem Fall waren
    sie Andrea Nahles pur.
    SPD pur, das soll nun das
    gemischte Doppel bringen, das
    die Nachfolge von Nahles an-
    tritt – der ersten Frau an der
    Parteispitze, die durch und
    durch Genossin war und für
    eine Sozialdemokratie stand, die
    eine Currywurst zu schätzen
    weiß.
    [email protected]


Authentisch


wie Currywurst

Free download pdf