Die Welt Kompakt - 15.10.2019

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2 THEMA DES TAGES DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,15.OKTOBER


A

n Russlands Präsident
WWWladimir Putin kommtladimir Putin kommt
in diesen Tagen nie-
mand in Nahost vor-
bei. In den vier Jahren seit dem
russischen Eingreifen in den Sy-
rien-Krieg hat der Kreml-Herr
sein Land zur neuen politischen
Ordnungsmacht in der Region
aufsteigen lassen. Seit Donald
Trump im Weißen Haus sitzt und
die Amerikaner sich als weltpoli-
tischer Ordnungspolizist zurück-
ziehen, zieht Putin kaum ange-
fffochten die Strippen. ochten die Strippen.

VON PAVEL LOKSHIN
AUS MOSKAU

Besonders gilt das für den
Schlüsselkonflikt Syrien, wo der
russische Autokrat sich als un-
umstrittener Vermittler etab-
liert hat. Ohne Putin passiert in
dem Bürgerkriegsland gar
nichts, und nun lässt der Kreml-
Chef offenbar die türkische Of-
fensive im Norden des Landes
umstandslos zu.
Das grüne Licht für Erdogan
läuft nur auf den ersten Blick der
russischen Strategie zuwider. Pu-
tin stützt Assads Regime und
sollte Erdogans Vorstoß daher ei-
gentlich kritisieren. Bisher hat
Moskau stets betont, in Syrien
dürften sich nur Streitkräfte auf-
halten und einmischen, die Da-
maskus im eigenen Land duldet –
RRRussland selbst, versteht sich.ussland selbst, versteht sich.
Die Türkei gehörte bisher expli-
zit nicht dazu. Doch Putin zeigt
sich, jedenfalls im Nahen Osten,
als äußerst flexibel.
Zu Beginn der Woche präzisier-
te Putin seine Position in einem
Interview: Über ausländisches
Militär in Syrien soll erst die
künftige legitime Regierung des
Landes entscheiden – also eine,
die nach der politischen Lösung

des Konflikts zustande kommt.
Selbstverständlich wäre das eine
Lösung nach den Vorstellungen
Moskaus, und die könnte mit dem
türkischen Einmarsch näher rü-
cken und zugleich die Vermittler-
rolle Russlands in Syrien weiter
zementieren.
Zum einen wird ein lang ge-
hegter Wunsch Russlands nun
Realität: Der türkische Angriff
treibt die Kurden in die Arme
des syrischen Machthabers As-
sad. Ihnen soll Moskaus Verfas-
sungsentwurf für die Nach-
kriegsordnung Syriens, den
Russland seit zwei Jahren im
Rahmen des sogenannten Asta-

na-Prozesses mit dem Iran und
der Türkei diskutiert, zwar grö-
ßere Autonomie einräumen –
aber unter dem Daumen Assads.
„Die Interessen aller ethni-
schen und religiösen Gruppen
müssen garantiert werden“, sag-
te Putin jüngst. Bislang fehlte
den Kurden das Vertrauen in die
wahren Absichten Assads. Die-
ses mag auch heute gering sein,
doch angesichts der türkischen
Bedrohung bleibt den Kurden
nach dem Abzug der Amerikaner
keine andere Wahl.
Schon im September machte
Putins Außenminister Sergej
Lawrow bei einem Treffen mit
VVVertretern der kurdischen Auto-ertretern der kurdischen Auto-
nomie des Irak deutlich, dass
auch für die Kurden in Syrien ei-
ne politische Lösung möglich sei


  • vorausgesetzt, sie ordnen sich
    Assad unter. Nun fanden die Ver-
    handlungen der syrischen Kur-
    den mit dem Assad-Regime aus-
    gerechnet auf der russischen Mi-
    litärbasis Hmeimim in Assads
    Heimatregion Latakia statt. Für
    beide Seiten also ist guter Kon-
    takt mit Moskau unerlässlich.
    Zugleich wird der Nord-Feld-
    zug der Assad-Truppen von Ge-
    neral Suheil al-Hassan angeführt.
    Der Anführer der Tiger Forces
    gilt als Kreml-freundlich und
    wwwurde vor vier Jahren mit demurde vor vier Jahren mit dem
    russischen Orden der Völker-
    fffreundschaft ausgezeichnet. reundschaft ausgezeichnet.
    VVVor zwei Jahren überreichteor zwei Jahren überreichte
    der russische Generalstabschef
    WWWaleri Gerassimow al-Hassan ei-aleri Gerassimow al-Hassan ei-
    nen Säbel und einen Dankesbrief
    von Russlands Verteidigungsmi-
    nister Sergej Schoigu. Der Syrer
    küsste ehrfurchtsvoll die Waffe
    und pries die russische Armee
    und „alle russischen Länder vom
    Süden bis zum Nordpol“.
    Es ist kein Zufall, dass Ba-
    schar al-Assad diesen Mann in


den Norden Syriens schickt. As-
sad ist über Erdogans Vorstoß
gewiss nicht glücklich, doch er
weiß: Ohne Putin kann er die
Türken nicht einhegen. Und der
Kreml-Herrscher wiederum ist
über den gewachsenen Einfluss
Moskaus in der Region nicht
unglücklich. „Moskau will Da-
maskus und Ankara an einen
Tisch bekommen“, beschreibt
der russische Nahost-Experte
Kirill Semjonow die weiter ge-
henden Ziele Moskaus. Der
Kreml bezwecke einerseits den
AAAusgleich zwischen Erdogansusgleich zwischen Erdogans
und Assads Interessen und ver-
suche gleichzeitig, für Assad so

Alle Wege in Syrien


führen zu Putin


Die vermeintliche Konfrontation zwischen Moskau und


Ankara in Nordsyrien stärkt in Wahrheit die Stellung des


russischen Präsidenten – als Machtfaktor in der Region


Russlands lang gehegter Wunsch
wird nun Realität: Der türkische
Angriff treibt die Kurden
iiin die Arme des syrischen n die Arme des syrischen
Machthabers Assad

T


ürkische Politiker sind sel-
ten einer Meinung. Wenn
sich die Abgeordneten strei-
ten, kommt es manchmal gar zu
einem Faustkampf im Parlament
in Ankara. Seit allerdings der tür-
kische Präsident Recep Tayyip Er-
dogan seine Militäroffensive in
Nordsyrien startete, herrscht un-
gewohnte Einigkeit im Land. Wer
nach innertürkischem Widerstand
gegen den Einsatz der Armee Aus-
schau hält, sucht in diesen Tagen
vergebens.
VVVon einem „wichtigen grenz-on einem „wichtigen grenz-
überschreitenden Einsatz“ sprach
Istanbuls Bürgermeister Ekrem
Imamoglu von der Oppositions-
partei CHP. „Möge Allah unsere
Kinder segnen und siegen lassen“,
schrieb deren Vorsitzender Kemal
Kilicdaroglu auf Twitter. Mit Aus-
nahme der prokurdischen HDP
haben sich alle Parteien hinter Er-
dogans Plan in Nordsyrien ge-
stellt, von den Sozialdemokraten
über die rechtsextreme MHP bis
zur nationalistischen IYI.
Die Vereinten Nationen spre-
chen von mittlerweile 200.
VVVertriebenen in Nordsyrien, Hilfs-ertriebenen in Nordsyrien, Hilfs-
organisationen warnen vor einer
humanitären Katastrophe – und in
der Türkei sind so gut wie alle mit
Erdogans Krieg gegen die Kurden
einverstanden. Man fragt sich: Wo
sind die Kundgebungen im sonst
so protestfreudigen Istanbul? Wa-
rum schreit niemand auf ange-
sichts der zivilen Opfer auf der an-
deren Seite der Grenze?
Dafür gibt es zwei Gründe, und
keiner davon rechtfertigt die feh-
lende Gegenwehr. Erstens: Die
Menschen hoffen auf die Sicher-
heitszone in Nordsyrien, die ih-
nen ihr Präsident versprochen
hat. Dort will er einen Großteil
der 3,5 Millionen syrischen
Flüchtlinge ansiedeln, die die Tür-
kei aufgenommen hat. In Zeiten
wirtschaftlichen Drucks schwin-
det die türkische Gastfreund-
schaft, und Forderungen nach
Rückkehr werden laut.
Zweitens: Selbst wenn es Dis-
sens gäbe – äußern möchte ihn
dieser Tage in der Türkei kaum je-
mand. Erdogan unterdrückt jede
noch so leise Kritik, lässt alle ver-
haften, die auch nur von einer „In-
vasion“ oder einem „Krieg“ spre-
chen.
Dabei wäre Widerstand gegen
Erdogans Neo-Osmanismus gera-
de jetzt so wichtig – und zwar
nicht nur aus humanitären Grün-
den. Die Militäroffensive destabi-
lisiert die kurdisch verwaltete Re-
gion, die nach dem Sieg über die
Terrormiliz IS erst begonnen hat-
te, zur Ruhe zu kommen. Das ist
fffatal. Erdogans Kalkül geht auf –atal. Erdogans Kalkül geht auf –
der zuletzt politisch angeschlage-
ne Präsident sitzt wieder fest auf
seinem Thron. Denn: Krieg vereint
das Land. Das weiß auch Erdogan.


KOMMENTAR

CAROLINA DRÜTEN

Krieg vereint


das Land


D


ie EU-Außenminister
haben kein gemeinsa-
mes Waffenembargo ge-
gen die Türkei wegen des Ein-
marsches in Syrien verabschie-
det. Sie verwiesen am Montag in
einer Erklärung bei ihrem Tref-
fen in Luxemburg lediglich auf
nationale Entscheidungen „eini-
ger Mitgliedstaaten, die Waffen-
exporte sofort einzustellen“.
Die EU-Staaten insgesamt ver-
pflichteten sich darüber hinaus
zu „starken nationalen Positio-
nen mit Blick auf ihre Waffenex-

porte an die Türkei“ auf Grund-
lage von EU-Kriterien, wonach
diese die Stabilität einer Region
nicht gefährden dürfen. Damit
bleibt die Entscheidung, ob ein
Waffenembargo gegen Ankara
verhängt wird oder nicht, weiter
bei den nationalen Regierungen.
Die Außenminister kündigten
an, eine Arbeitsgruppe werde
sich diese Woche treffen, um
„die Standpunkte der Mitglied-
staaten in dieser Angelegenheit
zu koordinieren und zu überprü-
fen“.

Die Türkei hatte am Mittwoch
eine Militäroffensive gegen die
KKKurden in Nordostsyrien begon-urden in Nordostsyrien begon-
nen. Die Bundesregierung hatte
daraufhin erklärt, keine neuen
Genehmigungen mehr für Rüs-
tungsgüter zu erteilen, die durch
die Türkei in Syrien eingesetzt
werden könnten. Auch weitere
EU-Länder wie Frankreich
schränkten ihre Rüstungsexpor-
te ein. Die Außenminister forder-
ten Ankara erneut auf, „seine
einseitigen militärischen Hand-
lungen in Nordostsyrien zu stop-

pen und seine Truppen abzuzie-
hen“. Die Offensive untergrabe
„ernsthaft die Stabilität und die
Sicherheit der gesamten Region“
und führe „zu mehr Leid und
weiterer Vertreibung der Zivilbe-
völkerung“. Zudem bedrohe die
Militäraktion die Fortschritte im
Kampf gegen die Dschihadisten-
miliz Islamischer Staat (IS).
Unterdessen erteilte Wa-
shington allen in Nordsyrien
stationierten US-Truppen den
Befehl, wegen der türkischen
Militäroffensive gegen die Kur-

Europäische Union uneinig über Waffenembargogegen die Türkei


Die Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) zeigt sich
besorgt über die Lage der
Zivilbevölkerung im um-
kämpften Nordosten Sy-
riens. Seit Beginn der
türkischen Militäroffensi-
ve gegen kurdische Mili-
zen Mitte der vergange-
nen Woche seien bis zu
2 00.000 Frauen, Männer
und Kinder zur Flucht
gezwungen worden,teilte
die WHO mit. Fast 1,5 Mil-
lionen Menschen bräuchten
medizinische Hilfe, hieß es.
Durch die Gewalt sei das
ohnehin schwache Gesund-
heitssystem in der Region
noch mehr in Mitleiden-
schaft gezogen worden.
Mehrere Krankenhäuser
könnten keine Leistungen
mehr anbieten, Einrichtun-
gen seien angegriffen wor-
den. epd

2 00.000 Menschen
auf der Flucht
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