Die Welt Kompakt - 15.10.2019

(nextflipdebug5) #1
KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,15.OKTOBER2019 SEITE 20

garn stammende Philosoph Ge-
org Lukács gelegt, indem er eine
ideologische Konstante von
Schellings „intellektueller An-
schauung“ über Arthur Schopen-
hauer und Friedrich Nietzsche
direkt bis zum Faschismus kon-
struierte.
Das Grundmotiv des Nietz-
sche-Verdikts war simpel: Wer
wie Nietzsche von den Nazis be-
ansprucht wurde, der kann nur
ein Erzfeind sein. Dem stalinis-
tischen Zeitgeist folgend presste
man Nietzsches philosophi-
sches Werk, das sich bekannter-
maßen jeder Systematisierung
verweigert, in ein willkürliches
ideologisches Korsett. „Ins
Nichts mit ihm“ hatte noch in
den 80er-Jahren Wolfgang Ha-
rich gefordert, ein orthodox-
marxistischer Philosoph, der
sich selbst als Gralshüter der
reinen Lehre verstand.

A

ls Teenager war ich ein
Suchender, wie viele
Gleichaltrige auch. Ich
suchte nach meinem
Platz im Leben, nach der Wahr-
heit, nach Antworten auf all die
Fragen, die einem so unkontrol-
liert durchs pubertierende Hirn
schießen: Was ist richtig, was ist
falsch, was soll das alles, wohin
will ich? Und wenn man zudem
in einer Diktatur wie der DDR
aufgewachsen ist, die Antworten
vorgibt und Fragen als Provokati-
on empfindet, kann so eine Su-
che zum dominierenden Inhalt
eines jungen Lebens werden.

VON HARALD STUTTE

Das Internet war noch nicht
erfunden, niemand besaß einen
Computer, das Fernsehen er-
schöpfte sich in drei Kanälen
West und zwei Kanälen Ost – al-
so fraß ich mich durch geheftete
und bedruckte Papierstapel, Bü-
cher genannt, suchte darin nach
Antworten.
Irgendwann stieß ich auf
Friedrich Nietzsche, durch rei-
nen Zufall. Meine Oma hatte von
ihrer Schwägerin „aus dem Wes-
ten“ eine Goldmann-Taschen-
buchausgabe von Wilhelm Raa-
bes „Chronik der Sperlingsgasse“
bekommen. Ich las das Buch, wie
ich alle Bücher las, die mir meine
belesene Oma empfahl: Her-
mann Hesse, Thomas Mann, Ste-
fan Zweig, Lion Feuchtwanger,
die ganze Riege.
Am Ende des Raabe-Buches
war eine 30-seitige Leseprobe
von Friedrich Nietzsches „Ecce
Homo“. Nicht sein bestes Buch,
aber ich hatte Feuer gefangen,
wollte gern mehr davon lesen.
Und bestellte bei einer der en-
gelsgleichen, gesichtslosen
„West-Tanten“, die fast jede
DDR-Familie hatte und die all-
weihnachtlich Wünsche erfüllte,
ein Buch von Nietzsche. Das Pa-
ket kam auch an, samt Schokola-
de, Kaffee und Lübecker Marzi-
pan – nur das angekündigte
Nietzsche-Buch „Ecce Homo“
fehlte. Konfisziert – angeblich
vom DDR-Zoll (laut Beipackzet-
tel), in Wahrheit aber von der
Staatssicherheit.
Wie wir ja heute aus Filmen
wie „Das Leben der Anderen“
wissen, gab es in jeder großen
Stadt eine Abteilung in Schul-
klassenstärke, die in Kellern der
Stasibehörde damit beschäftigt
war, Pakete und Briefe zu öff-
nen, um das vermeintlich Böse
abzuwehren. Ob der Stasimitar-
beiter, der sich unser Paket vor-
nahm, sofort wusste, dass er mit
dem „Hammer-Philosophen“
einen nach DDR-Lesart Ultra-
schurken zwischen den Fingern
hatte?
Als Philosoph war Nietzsche
nach dem Krieg in Ostdeutsch-
land mit einem Bann belegt wor-
den, seine Bücher standen auf
dem Index, waren im Gift-
schrank gelandet, gleich neben
Hitlers „Mein Kampf“. Das Fun-
dament der marxistischen Nietz-
sche-Exegese hatte der aus Un-

Für den starrsinnigen Greis
waren Nietzsches Schriften, die
ihn noch als jungen Mann tief be-
eindruckt hatten, eine „Riesen-
kloake“, gespeist aus den Einge-
weiden des Faschismus. Und da-
her sei es ein Gebot „geistiger
Hygiene“, Nietzsches Schriften
nicht zu verlegen, nicht zu inter-
pretieren, nicht zu zitieren.
Ich las ihn dennoch. Weil
Hartnäckigkeit die DDR-Zensur
besiegte. Und weil die Stasi im
Thüringer Wald offenbar etwas
nachlässiger arbeitete als in
Leipzig. Nach mehreren ge-
scheiterten Versuchen erreichte
Nietzsches Buch „Menschliches,
Allzumenschliches“ als Gold-
mann-Taschenbuch in einem
Paket tatsächlich meine Oma.
An eine alte Ausgabe des Zara-
thustra kam ich über eine Mit-
schülerin, konnte ihr das Buch
aber nie zurückgeben, weil ich

gleich nach dem Abi 1984 die
DDR verließ.
Eine alte Ausgabe von Arthur
Schopenhauers Aphorismen-
sammlung „Parerga und Parali-
pomena“ erstand ich in einem
Antiquariat in Krakau, es kostete
fast nix. Und am Staat rächte ich
mich, indem ich einem Leipziger
Antiquariat eine alte Ausgabe
von „Der Einzige und sein Eigen-
tum“ von Max Stirner klaute. Es
war eine Phase, in der wir uns als
Rebellen und Anarchos fühlten.
Irgendwie gehört ja alles zusam-
men, dachte ich damals. Ihr klaut
Bücher aus den Paketen meiner
Westtante, dafür beklaue ich
euch jetzt auch – und rannte mit
dem Buch unter dem Parka aus
dem Laden. Ein schlechtes Ge-
wissen hatte ich dennoch.
Nach DDR-Lesart war ich also
einem Faschisten auf den Leim
gegangen – wie Thomas Mann,

Hermann Hesse, Jean-Paul Sar-
tre, Rainer Maria Rilke, Sigmund
Freud, Heerscharen von Künst-
lern auch. Natürlich war das
Quatsch und befeuerte nur meine
Neugier auf den Wortgewaltigen.
Doch es war schwer, in der DDR
an Bücher von nicht systemkon-
formen Autoren zu kommen.
Da eine Quellenrezeption
nicht vorgesehen war, hatte man
ihn aus dem Autorenverzeichnis
gelöscht: Neuauflagen gab es
nicht, der Handel alter Ausga-
ben in Antiquariaten war verbo-
ten, in Bibliotheken war er ge-
sperrt, durfte nur mit Sonderge-
nehmigung gelesen werden.
Und selbst die Hinterlassen-
schaften von Nietzsches irdi-
schem Dasein – seine biografi-
schen Spuren in Deutschland
konzentrieren sich im Dreieck
zwischen Röcken, Naumburg
und Weimar – waren dem Ver-

Friedrich Nietzsche,


die DDR und die AfD


Friedrich Nietzsche,


die DDR und die AfD


In der DDR war der Philosoph verboten, stand im Giftschrank neben


„Mein Kampf“. Eine Erinnerung zum 175. Geburtstag

Free download pdf