Die Welt Kompakt - 15.10.2019

(nextflipdebug5) #1

fall preisgegeben.
Aus dem Ehrenverzeichnis der
Leipziger Universität war der
Name des Philosophen bereits
1945 gestrichen worden. Das von
seiner Schwester Elisabeth Förs-
ter-Nietzsche zu einer Art „Kult-
tempel“ umfunktionierte Nietz-
sche-Archiv in der Villa Silber-
blick in Weimar war versiegelt
worden, sein umfangreicher In-
halt wurde dem Goethe-Schiller-
Archiv unterstellt. Es gab sogar
Überlegungen, es abzureißen
und den „Nietzsche-Müll“, wie
Harich den Nachlass nannte, ge-
gen Devisen ins Ausland zu ver-
schleudern.
In einem klapprigen Linienbus
fuhren Schulfreunde und ich tat-
sächlich eines Tages vom Leipzi-
ger Hauptbahnhof aus in Rich-
tung Südwesten. Bis hinter Lüt-
zen, wo der Schwedenkönig Gus-
tav Adolf auf den Schlachtfeldern
des Dreißigjährigen Krieges sein
Leben ausgehaucht hatte und
noch immer begraben liegt.
Gleich hinter Lützen liegt Nietz-
sches Geburtsort. Damals war


Röcken, gelegen am Rande eines
riesigen Braunkohlereviers, ein
fast schon verwunschener Ort.
Nichts informierte darüber,
dass hier einer der größten Philo-
sophen der Welt begraben lag.
Das Dorf wirkte grau und verges-
sen, auf dem Pfarrhof fanden wir
die Gräber Nietzsches und seiner
Schwester. Anwohner erzählten
uns, dass sich der Röckener Pfar-
rer liebevoll um das Grab des er-
klärten „Antichristen“, so einer
von Nietzsches Buchtiteln, küm-
mere. Und dass auf dem Grab-
stein oft Blumen oder manch
Kranz mit fremdsprachiger Bot-
schaft lagen, vor allem im März
und September, wenn Leipzig
zur Messe Geschäftsleute aus al-
ler Welt empfing.
Versuche, das Nietzsche-Ver-
dikt aufzuweichen und zumin-
dest eine wissenschaftliche Kon-
troverse mit der Philosophie des
Verfemten zuzulassen, gab es
kurz vor Ende der DDR. Der
Schriftsteller Stefan Hermlin
schmuggelte Nietzsche-Gedichte
in sein „Deutsches Lesebuch“. In

der Zeitschrift „Sinn und Form“
wurde Mitte der 1980er-Jahre of-
fen über eine „Revision des mar-
xistischen Nietzsche-Bil-
des“ gestritten. Der Re-
clam-Verlag plante,
Nietzsche-Schriften zu
publizieren.
Der Philosoph aus Rö-
cken war auf gutem Wege,
ins „nationale Kulturer-
be“ der DDR eingeglie-
dert zu werden – wie zuvor Bis-
marck und Friedrich der Große.
Und tatsächlich erschien 1985 im
Leipziger Edition-Verlag eine
Faksimileausgabe von „Ecce Ho-
mo“ zum Preis von fast 200
Mark, in Kleinstauflage und als
sogenannte Bückware. Doch da
hatten ich und meine Freunde
die DDR schon längst verlassen.
In ostdeutschen Philosophen-
kreisen erzählte man sich eine
Episode, die sich so oder ähnlich
kurz vor dem Untergang der DDR
abgespielt haben soll: Ein vom
Leben gezeichneter, gramgebeug-
ter Greis, Professorentyp mit
Vollbart und weißem Haarkranz,
geriet beim Anblick der Nietz-
sche-Faksimileausgabe in einer
Ostberliner Schaufensterauslage
dermaßen in Rage, dass er seinen
Krückstock schwingend in den
Laden stürmte und den Verkäufer
mit den Worten irritierte: „Neh-
men Sie sofort diesen Faschisten
aus dem Schaufenster!“
Das war Wolfgang Harich, der
selbst ernannte Hüter der reinen
Lehre. Aufhalten konnten er und
seine Mitstreiter den Untergang
der DDR nicht – auch nicht die
„Wiederauferstehung“ Nietz-
sches. Dessen mittlerweile muse-
al aufpolierte (und im Fall Rö-
ckens mit Kunsttrash verunstal-
tete) Wirkungsstätten sind zu
Pilgerorten der globalen Nietz-
sche-Anhängerschaft geworden:
Weimar, Sils Maria im Engadin,
Basel, Naumburg und Röcken.
Wie schon in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts wird Nietz-
sche heute wieder als Starphilo-
soph gehandelt – als Krisenvisio-
när und Wertezertrümmerer.
Nietzsches Werk gilt als uner-
schöpflicher philosophischer
Steinbruch, aus dem sich jeder
bedienen kann. Doch vor allem
bedienen sich neurechte Dogma-
tiker, geflissentlich ignorierend,
dass Nietzsche Nationalismus,
völkischen Chauvinismus, zumal
jede Form von Deutschtümelei
abgrundtief verachtete.
Mitglieder der Identitären Be-
wegung huldigen ihm als Vorden-
ker, neben Ernst Jünger und Carl
Schmitt, die unsägliche Kette fata-
ler Missdeutungen Nietzsches
fortführend. „Nach Schopenhauer
war Nietzsche für mich ein frühes
prägendes Lektüreerlebnis ... Von
dem, was Nietzsche in der Genea-
logie der Moral über das Ressenti-
ment schreibt, lässt sich eine di-
rekte Linie zum Gutmenschen-
tum ziehen, dem sich die AfD ent-
gegenstellt“, äußerte Marc Jon-
gen, einst Assistent des Philoso-
phen Peter Sloterdijk, heute lässt
er sich als AfD-Chefideologe be-
zeichnen, in der „Zeit“.

PICTURE ALLIANCE/DPA

/MARTIN SCHUTT

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,15.OKTOBER2019 KULTUR 21


S


aša Stanišić erhält den
Deutschen Buchpreis


  1. Das gab die Jury am
    Montag in Frankfurt am Main
    bekannt. Sein Roman „Her-
    kunft“ gilt damit als das beste
    Buch des Jahres. Schon 2014 hat-
    te der aus Bosnien stammende
    Autor mit „Vor dem Fest“ den
    Preis der Leipziger Buchmesse
    bekommen. In seinem Roman er-
    zählt der 1978 im jugoslawischen
    Visegrad geborene und in Ham-
    burg lebende Autor von der
    Flucht vor dem Jugoslawien-
    Krieg, der seine Familie in die
    Welt verstreute. Er beschreibt
    das Ankommen in Deutschland –
    mit einem Mund voller Karies
    und einer Mischung aus Angst
    und Erwartung. „Das Einzige,
    was ich auf Deutsch sagen konn-


te, war Lothar Matthäus.“ Er er-
zählt von der Freude bei der An-
kunft in Heidelberg, das zur ers-
ten neuen Heimat wurde, „weil
wir uns zum ersten Mal nach der
Flucht sicher fühlten.“ Hier fin-
det er die erste Liebe und ent-
deckt die deutsche Romantik:
Hölderlin und Eichendorff. Saša
Stanišić, der im Jahr 2014 für
„Vor dem Fest“ den Preis der
Leipziger Buchmesse erhielt,
sammelt Erinnerungsfragmente
und verbindet sie erzählerisch.
Und weil Erinnerung nicht chro-
nologisch abläuft, springt er zwi-
schen Orten, Personen, Lebens-
phasen. Wie er das tut, ist große
Erzählkunst. Aus den rührenden,
aberwitzigen, eigenartigen, bis-
weilen märchenhaften Anekdo-
ten von Stanišić und dessen Vor-
fahren wird so etwas Größeres:
eine Geschichte über das Ge-
schichtenerzählen selbst.

„Unter jedem Satz dieses Ro-
mans wartet die unverfügbare
Herkunft, die gleichzeitig der An-
trieb des Erzählens ist“, lautet die
Begründung der Jury in Frankfurt.
„„„Verfügbar wird sie nur als Frag-Verfügbar wird sie nur als Frag-
ment, als Fiktion und als Spiel mit
den Möglichkeiten der Geschich-
te.“ Der Autor beweise große Fan-
tasie und verweigere sich „der
Chronologie, des Realismus und
der formalen Eindeutigkeit“.
Am Ende lädt der Wahl-Ham-
burger Saša Stanišić den Leser
sogar zu einem Spiel ein: Er darf
selbst entscheiden, wie die Ge-
schichte weitergeht. „Mit viel
Witz setzt er den Narrativen der
Geschichtsklitterer seine eige-
nen Geschichten entgegen“, teil-
te die Jury mit. Die Entscheidung
über den Buchpreis traf eine sie-

benköpfige Jury. Die Mitglieder
hatten mehr als 200 Titel gesich-
tet. Der Preis wird in einem
mehrstufigen Verfahren verge-
ben: Erst wird eine Liste mit 20
Titeln veröffentlicht (Longlist),
die später auf sechs verkürzt
wird (Shortlist). Der Preis wird
seit 2005 vom Börsenverein des
Deutschen Buchhandels verge-
ben. Der Sieger erhält 25.000 Eu-
ro, die fünf übrigen Autoren der
Shortlist jeweils 2500 Euro. In
diesem Jahr standen in der letz-
ten Runde drei Männer und drei
Frauen, drei Neulinge und drei
etablierte Autoren zur Wahl. Ne-
ben dem Siegertitel waren das
die Romane von Raphaela Edel-
bauer („Das flüssige Land“), Mi-
ku Sophie Kühmel („Kintsugi“)
und Tonio Schachinger („Nicht
wie ihr“), sowie von Jackie Tho-
mae („Brüder“) und Norbert
Scheuer („Winterbienen“). DPA

„Unter jedem Satz wartet


die unverfügbare Herkunft“


Saša Stanišić wird in Frankfurt mit dem
Deutschen Buchpreis ausgezeichnet

Der aus Bosnien stammende Autor Saša Stanišić bekam
die Auszeichnung für seinen Roman „Herkunft“

DPA

/ ANDREAS ARNOLD

In der DDR ein
Ultraschurke:
NNNietzsche-Büstenietzsche-Büsten
im Neuen Museum
WWWeimareimar

In seinem Roman erzählt


der Autor von der Flucht


vor dem Jugoslawien-Krieg

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