Die Welt Kompakt - 15.10.2019

(nextflipdebug5) #1

22 KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,15.OKTOBER2019


B

lau glimmt der Schin-
kel-Saal, rot leuchtet
das erweiterte Podi-
um tief hinein ins
Berliner Konzerthaus. Klassi-
sche Musik, immer noch gern
unter dem Verdacht mangeln-
der Barrierefreiheit, soll hinein-
ragen in die Gesellschaft, zu-
rück ins bürgerliche Bewusst-
sein. Populär werden. Das unter
anderem hatte man sich auf die
Fahnen geschrieben, als der
Echo nach dem Rapper-Skandal
dahingeschieden war. Und es
galt einen Sendeplatz im ZDF-
Abendprogramm zu retten für
die Kultur. Das war die Ge-
burtsidee des Opus Klassik, den
Thomas Gottschalk gleich zum
„deutschen Oscar der Klassik“
adelte, als er im vergangenen
Jahr zum ersten Mal vergeben
wurde. Kein Schallplattenpreis,
keine retrospektive Aufnahme-
nauszeichnung – sondern eine
Leistungsschau der besten In-
strumentalisten, Ensembles,
Sängerinnen, Sänger, Dirigen-
ten. Die tragen inzwischen nur
noch eher selten Frack – auch
so ein Beitrag zur Barrierefrei-
heit. Weswegen Gottschalk
auch hier im Konzerthaus auf-
fällt. Gottschalk trägt lila ge-
säumten Smoking samt Siebzi-
ger-Samtfliege.
2018 noch war der Opus samt
seinem gleichnamigen Verein
zur Förderung und Popularisie-
rung der klassischen Musik mit
heißer Nadel zusammenge-
strickt und aus dem Boden ein
wenig ins Konzerthaus ge-
stampft worden. Da wollte
Gottschalk wohl in diesem Jahr
vorsichtshalber mit ein biss-
chen Plüsch aushelfen. Ein no-
torisch Frackloser machte den
Anfang mit etwas, das er norma-
lerweise nie tut: Christoph
Eschenbach, bald 80 Jahre alt
und gerade frisch bestallt als
Konzerthausorchester-Chef, di-
rigiert Filmmusik. Nicht welche
von John Williams, mit dem An-
ne Sophie Mutter gegenwärtig
in allen Kanälen unterwegs ist.
Eschenbach lässt das fanfaren-
knatternde Motiv aus der Musik

zum Michael-Curtiz-Klassiker
„Captain Blood“ erklingen. Von
Erich Wolfgang Korngold, der
hat ja immerhin als Klassiker
begonnen, bevor er in Holly-
wood anheuerte. In diesem mu-
sikalischen Zwischenstockwerk
zwischen Klassik und Unterhal-
tung, das es so wahrscheinlich
nur im deutschen Kulturleben
gibt, blieb der ganze Abend.
Und man fühlte sich in ihm or-
dentlich wohl. Für das, was
Thomas Gottschalk, der zu
Korngolds Fanfare statt Errol
Flynn die Bühne enterte, als Ze-
remonienmeister moderierte,
war der Verein zur Förderung
der klassischen Musik verant-
wortlich. Dessen Vorstandsvor-
sitzender, Clemens Trautmann,
ist auch Chef der Deutschen
Grammophon. Vergeben wur-
den in 22 Kategorien 46 Preise,
von der Sängerin des Jahres
über das innovativste Konzert
bis zum Komponisten, der
Komponistin des Jahres – aus-
gewählt unter 462 Einreichun-
gen. Außer Trautmann waren in

der Jury vertreten die neben der
Deutschen Grammophon übri-
gen Major-Plattenunternehmen
Sony und Warner, die „harmo-
nia mundi“, das größte und bes-
te unter den kleineren Labels,
Konzertveranstalter, Verleger,
zwei Intendanten, das ZDF, ein
Fachmagazinredakteur und eine
Feuilletonredakteurin.
Die Preisträger bewiesen in
einem fort, wie sehr sie einen
seriösen und weit ins Fernseh-
volk ausstrahlenden Preis ver-
dient haben. Sie nutzen ihre
Sendezeit nicht nur mit fulmi-
nantem Können, sondern auch
mit Meinung. Mit Hymnen wur-
de naturgemäß nicht gespart.
Die Sopranistin Nadine Sierra
wurde als „die neue Callas“, als
„ein Gottesgeschenk“ gefeiert,
als eine Art Mutter Theresa
vom hohen C verklärt. Lobprei-
sungen, deren sie sich gleich
würdig erwies. Lang Lang,
Preisträger für den besten Vi-
deoclip, wurde aus Peking zuge-
schaltet. Klarinettist Andreas
Ottensamer, der es nicht so

weit hat, weil er quasi nebenan
vom Berliner Konzerthaus bei
den Berliner Philharmonikern
angestellt ist, hat als Instru-
mentalisten-Ausgezeichneter
für sein Soloalbum „Blue Hour“
Musik von Carl Maria von We-
ber mitgebracht und spielt so
schick, wie er aussieht. Der ka-
nadische Jazzpianist Chilly
Gonzales nimmt als Laudator
seines Klavierkollegen Igor Le-
vit (Beethoven-Sonaten-Kom-
pletteinspieler und Ausgezeich-
neter im Fach Klavier) das Wort
„Eier“ in den Mund, nennt ihn
„Priester“ und „Soldat“. Und
der kontert, nach dem struktur-
klar gespielten, mit tausend
Lichtsternlein verkitschten ers-
ten Satz der „Mondscheinsona-
te“: „Ich widme diesen Preis Ja-
na L. und Kevin S., die ihr Le-
ben sinnlos in Halle verloren
haben.“ Und darüber hinaus,
„denen, die seit Jahren still
oder laut gegen Rechts-
extremismus und Antisemitis-
mus, gegen Islamophobie und
gegen Antifeminismus kämp-
fen.“ An Betroffenheitsmomen-
ten, an klaren Worten herrschte
kein Mangel an diesem ober-
flächlich so glitzernden Abend.
Auch der Tenor Klaus Florian
Vogt erklärt, als er den Preis für
die Bayreuther „Meistersinger“
entgegennimmt: „Die ,Meister-
singer‘ haben sehr viel mit To-
leranz, mit Ausgrenzung und
mit Vorbehalten gegenüber
dem Fremden zu tun. Und ich
möchte dafür sprechen, dass
wir Toleranz gegenüber dem
Neuen haben, und mich gegen
Ausgrenzung aussprechen.“
Der Bariton Christian Gerhaher
nimmt die Gelegenheit wahr,
für Schumann und gegen
Trump und die AfD zu reden.
Wer die Nazizeit als Vogel-
schiss bezeichne, so Gerhaher,
sei nicht hinnehmbar. Sehr löb-
lich auch der Nachwuchsför-
derpreis für das Grundschul-
projekt „Düsseldorfer Singpau-
se“ und natürlich, ein Kuriosum
darf immer sein, der Bartók (!)
von der Lippe lassende Mund-
harmonikaspieler Konstantin
Rheinfeld im Blümchensakko.
Einen Preis durfte nicht die
intransparente Jury vergeben,
einen vergab das Publikum. Die
Leser der WELT AM SONN-
TAG. Sie konnten die schönste
Klassik-Visualisierung aus-
zeichnen. Und WELT AM
SONNTAG-Chefredakteur Jo-
hannes Boie vergab den Publi-
kums-Opus an den Pianisten
Alexandre Tharaud. Der hatte
für einen Videoclip zusammen
mit dem auf Trampolinen und
Treppen waghalsig Kobolz
schlagenden Akrobaten Yoann
Bourgeois aus Debussys „Claire
de Lune“ eine schwebende,
zauberhafte, poetische, kristall-
klare Kurzgeschichte verwan-
delt. Ein bisschen mehr von all-
dem und weniger Plüsch
wünscht man auch dem Opus.
Aber er ist ja noch jung. ELK/BRU

TDie WELT AM SONNTAG ist
Medienpartner des OPUS
KLASSIK

FFFeierliche Stimmung: Blick auf die Bühne des Berliner Konzerthauseseierliche Stimmung: Blick auf die Bühne des Berliner Konzerthauses

O

WÜSTENHAGEN

/ OPUS KLASSIK 2019

TTTrio mit Mundharmonika: Moderator Thomas Gottschalk, Lau-rio mit Mundharmonika: Moderator Thomas Gottschalk, Lau-
dator Lutz van der Horst (r.) und Mundharmonika-Virtuose
KKKonstantin Reinfeld (l.)onstantin Reinfeld (l.)

MO WÜSTENHAGEN

/ OPUS KLASSIK 2019

Funkel, funkel,


neuer Stern


In Berlin wurde der Opus-Klassik-Preis


vergeben. Über einen Abend der Musik


und der starken Meinungen


NOBELPREISTRÄGERIN


Tokarczuk kommt


zur Buchmesse


Die frischernannte Literatur-
nobelpreisträgerin Olga To-
karczuk kommt zur Frank-
furter Buchmesse. Die 57-
jährige Polin wird heute bei
der Eröffnungskonferenz
unter anderem über die poli-
tische Verantwortung von
Schriftstellern sprechen.


THEATER


Meyerhoff spielt an


der Schaubühne


Nach mehr als einem Jahr-
zehnt am Wiener Burgtheater
hat Schauspieler Joachim
Meyerhoff die Stadt gewech-
selt. Meyerhoff, der auch die
autobiografischen Bücher
„Alle Toten fliegen hoch“
geschrieben hat, arbeitet nun
an der Berliner Schaubühne.
Er wolle unter anderem ein-
fach mal raus „aus diesen sehr
plüschigen Theaterräumen“,
sagte er der „Berliner Zei-
tung“. Am Sonnta trat er erst-
mals als neues Ensemblemit-
glied auf. In Molières „Am-
phitryon“ spielt er den etwas
unbeholfenen Diener Sosias.


KOMPAKT


A


rme müssen früher
sterben als Reiche. Das
ist keine von Linken
verbreitete Legende, sondern
das fanden Forscher vom Ros-
tocker Max-Planck-Institut
heraus, nachdem sie 27 Millio-
nen Datensätze ausgewertet
hatten. Der Auftrag für die Po-
litik: Sie muss die Armut ab-
schaffen, am besten verbieten.
Das wäre allerdings ein Ein-
griff in die Freiheitsrechte des
Einzelnen. Wer unbedingt
arm sein möchte, den darf
man nicht daran hindern. Man
sollte nicht vergessen: Wäh-
rend die Armen immer früher
sterben, überleben die Rei-
chen, und eines Tages, viel-
leicht noch vor Eröffnung von
Stuttgart 21, gibt es dann nur
noch Reiche. Die Rostocker
Forscher haben außerdem he-
rausgefunden, dass Arbeitslo-
sigkeit das Sterberisiko min-
destens verdoppelt, und diese
Erkenntnis ist eigentlich viel
interessanter. Warum treibt
die Regierung Menschen vor-
sätzlich in den Tod durch le-
bensgefährliche Konzepte wie
vorgezogene Altersrente oder
Rente mit 67? Das Max-
Planck-Institut hat doch zwei-
felsfrei bewiesen: Wer arbei-
tet, der lebt am längsten, ja,
der ist vielleicht sogar un-
sterblich.


Zippert


zappt

Free download pdf