Die Welt Kompakt - 15.10.2019

(nextflipdebug5) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,15.OKTOBER2019 THEMA DES TAGES 3


viel Gebietsgewinne wie möglich
herauszuholen.
WWWas also zunächst wie eineas also zunächst wie eine
Konfrontation zwischen einem
Nato-Partner (der Türkei) und
Russland aussieht, ist in Wahr-
heit pragmatisches Powerplay.
Die Abstimmungen zwischen
Moskau und Ankara gehen hinter
den Kulissen unvermindert wei-
ter. Dazu passt auch Erdogans
jüngstes Statement, es werde
„keine Probleme in Kobani ge-
ben“. Putins Pressesprecher Dmi-
tri Peskow, selbst ein ausgewiese-
ner Türkei-Kenner und in den
1 990er-Jahren Diplomat in Anka-
ra, bestätigte, dass die Streitkräf-
te der beiden Länder sich in en-
gem Austausch befänden.
Putin hat nie einen Hehl daraus
gemacht, dass sein Land die Si-
cherheitsinteressen der Türkei ak-

zeptiert. In Ankara nimmt man
zufrieden zur Kenntnis, dass Putin
sich dabei auf das Adana-Abkom-
men zwischen Syrien und der Tür-
kei von 1998 beruft. Es sollte si-
cherstellen, dass die Kurdische Ar-
beiterpartei (PKK) keine Hilfe von
Syrien erhält. Aus türkischer Sicht
ermöglicht dieses Abkommen erst
die jüngste Militäroperation.
Mit dem Verweis auf das Adana-
AAAbkommen zeigt sich der Kremlbkommen zeigt sich der Kreml
einmal mehr als verlässlicher Part-
ner, der sich in Ankaras Wünsche
einfühlen kann, gerade angesichts
der Reaktionen aus Washington
und den europäischen Hauptstäd-
ten. Die EU hat die türkische Ope-
ration als eine „Invasion“ kriti-
siert, einzelne EU-Mitglieder Waf-
fffenlieferungen an Ankara ge-enlieferungen an Ankara ge-
stoppt. Die Sanktionen der Ameri-
kaner dürften bald folgen.

Fakt ist: Vor einem russischen
WWWaffenembargo muss sich Erdo-affenembargo muss sich Erdo-
gan jedenfalls nicht fürchten. Es
ist gerade wenige Monate her,
dass die erste Lieferung der rus-
sischen Luftabwehrsysteme
S-400 in der Türkei ankam – da-
fffür riskierte Ankara sogar einenür riskierte Ankara sogar einen
Konflikt mit Washington, im-
merhin dem wichtigsten Nato-
Partner.
Statt auf Konflikt stehen die
Zeichen zwischen Moskau und
Ankara auf Annäherung. Erdogan
dürfte es auch nicht weiter stö-
ren, dass Putin wie von den Kur-
den gefordert eine No-Fly-Zone
in Nordsyrien verfügte. „Schließ-
lich kann die Türkei kurdisches
Gebiet auch aus dem eigenen
Luftraum heraus angreifen“, sagt
der russische Nahost-Experte
Semjonow.

AFP

/ MAXIME POPOV

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den das Land zu verlassen. Rund
1000 Soldaten würden Syrien ver-
lassen, lediglich ein kleines Kon-
tingent von 150 US-Soldaten blei-
be auf dem südsyrischen Stütz-
punkt al-Tanf stationiert, sagte
ein US-Vertreter am Montag. US-
Präsident Donald Trump hatte
den Abzug am Vortag angeordnet.
Die USA werden nach Worten
des einflussreichen US-Senators
und Trump-Vertrauten Lindsey
Graham zudem „lähmende Sank-
tionen“ gegen die Türkei verhän-
gen. Damit werde ein „unmissver-

ständliches“ Zeichen an den tür-
kischen Präsidenten Recep Tayy-
ip Erdogan und die Welt gesen-
det, sagte Graham am Montag
dem TV-Sender Fox News. Gra-
ham sprach von Sanktionen, die
denen gegen den Iran ähnelten.
„Wir werden seine (Erdogans)
Wirtschaft brechen, bis er das
Blutvergießen beendet“, sagte
Graham.
Syrien stationierte derweil in
etlichen Grenzstädten Truppen,
die sich der „türkischen Aggressi-
on“ entgegenstellen sollen. Sol-

daten seien bereits in Tell Tamer,
Tabka nahe Rakka, Ain Issa und
weiteren Orten eingerückt. Vo-
rausgegangen war eine Verständi-
gung zwischen der Regierung in
Damaskus und dem von der Kur-
denmiliz YPG geführten Rebel-
lenbündnis Syrische Demokrati-
sche Streitkräfte (SDF). Seit Mitt-
woch nimmt das türkische Militär
den überwiegend von Kurden be-
wohnten Nordosten Syriens un-
ter Beschuss, worauf die SDF Prä-
sident Baschar al-Assad um Hilfe
baten. AFP/rtr/dpa

uropäische Union uneinig über Waffenembargogegen die Türkei


E


s kam wie erwartet: Die
EU-Außenminister
konnten sich am Montag
bei ihrem Treffen in Luxemburg
auf kein gemeinsames Waffen-
embargo gegen die Türkei we-
gen des Einmarsches in Syrien
einigen. Die notwendige Ein-
stimmigkeit kam nicht zustan-
de, mehrere Länder, allen voran
Ungarn, waren dagegen.

VON CHRISTOPH B. SCHILTZ
AUS BRÜSSEL

Für Aufregung sorgte eine
Äußerung von Luxemburgs
Chefdiplomaten Jean Assel-
born. Er warnte wegen der Mili-
täroffensive der Türkei davor,
dass die Nato in den Konflikt hi-
neingezogen werden könnte.
Sollte das Nato-Mitglied Türkei
von Syrien angegriffen werden,
so könne sich das Militärbünd-
nis mit dem Bündnisfall kon-
frontiert sehen, sagte Assel-
born. Wörtlich sagte der Minis-
ter aus Luxemburg: „Stellen Sie
sich vor, Syrien oder Alliierte
von Syrien schlagen zurück und
greifen die Türkei an.“ Wenig
später ergänzte er: „Ich habe
Nato-Mitglied gesagt, dann sage
ich auch Artikel 5. Das heißt, der
Beistandspakt besteht. Auf
Deutsch heißt das, dass alle Na-
to-Länder, wenn die Türkei an-
gegriffen würde, dann einsprin-
gen müssten, um der Türkei zu
helfen“. Diese Vorstellung sei
für ihn „außerirdisch“.
Wie realistisch ist das Assel-
born-Szenario? Der Artikel 5
lautet wörtlich: „Die (Nato)-
Parteien vereinbaren, dass ein
bewaffneter Angriff gegen eine
oder mehrere von ihnen in Eu-
ropa oder in Nordamerika als
ein Angriff gegen sie alle ange-
sehen wird; sie vereinbaren da-
her, dass im Falle eines solchen
bewaffneten Angriffs jede von
ihnen in Ausübung des in Arti-

kel 51 der Satzung der Vereinten
Nationen anerkannten Rechts
der individuellen und kollekti-
ven Selbstverteidigung der Par-
tei oder der Parteien, die ange-
griffen werden, Beistand leistet
(...).“ Im Klartext: Ein Angriff
gegen ein Nato-Mitglied wie die
Türkei wird als Angriff gegen al-
le angesehen. Der Bündnisfall
ist in der Nato-Geschichte bis-
her erst einmal beschlossen
worden: 2001 als Reaktion auf
die Terroranschläge vom 11. Sep-
tember in den USA.
Sollte die Türkei bald tatsäch-
lich aus dem Nachbarland ange-
griffen werden, so könnte es al-
so sein, dass auf Antrag Ankaras
zunächst einmal Konsultatio-
nen auf Grundlage von Artikel 4
des Nato-Vertrags stattfinden.
Dort müsste Ankara begründen,
warum die „Sicherheit“ des
Landes bedroht ist. Sollte die
Erdogan-Regierung im Falle ei-
ner bedrohlichen Entwicklung
dies tatsächlich tun, so wären
die Erfolgsaussichten „sehr,
sehr gering“, so die Einschät-
zung westlicher Diplomaten. Sie
verweisen darauf, dass die große
Mehrheit der Nato-Länder be-
reits zu Beginn der Offensive
Ankara aufgefordert hätte, sich
wieder zurückzuziehen.
Deutschland, die Niederlande
und Frankreich stellten sogar
aus Protest vorübergehend die
WWWaffenverkäufe an die Türkeiaffenverkäufe an die Türkei
ein. Nato-Chef Jens Stoltenberg
erklärte bereits in der vergange-
nen Woche unmissverständlich:
„Auch wenn die Türkei ernstzu-
nehmende Sicherheitssorgen
hat, erwarten wir von der Tür-
kei, mit Zurückhaltung vorzuge-
hen.“ Vor diesem Hintergrund
dürfte es nahezu ausgeschlos-
sen sein, dass die notwendige
Einstimmigkeit für eine Bei-
standspflicht zustande kommt –
selbst dann nicht, wenn Erdo-
gan dies verlangen sollte.

Erdogans Einmarsch, im


Zweifel ein Nato-Bündnisfall?


Die türkische Offensive stellt


den Westen vor große Herausforderungen

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