Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
von f abian wolff

G

ershom Scholem wiederholte
gern die Anekdote von dem
Besuch bei dem großen alten
RabbinerPhilippBloch,derei-
neSammlung kabbalistischer

Textebesaß.„InmeinerBegeisterungsag-


te ich durchaus harmlos: ‚Wie schön, Herr


Professor, dass sie das alles studiert ha-


ben! Der alte Herr erwiderte: ‚Was, den


Quatsch soll ich auch noch lesen?“


Den ernsten Wissenschaftlern des Ju-

dentums und den strengen Talmudisten


war die mystische Tradition des Juden-


tums, die Kabbala, ein Ärgernis: irrgläu-


big, zu nah christlicher Gnosis oder eben


einfach Quatsch über Zahlen, Buchstaben


und geheime Muster in Tora und Tanakh.


Doch dieser Quatsch ist, so Scholems gro-


ße These, so etwas wie der geheime Fluss


jüdischer Geschichte, der immer dann


übertritt, wenn die Tradition der Erneue-


rung bedarf.


Das heißt nicht, dass alle selbsternann-

ten Propheten und Messiase der Kabbala


große Erneuerer waren. Die Behauptung


auf dem Klappentext der „Jakobsbücher“


der gerade mit dem Literaturnobelpreis


ausgezeichneten polnischen Autorin Olga


Tokarczuk, ihr Romanobjekt Jakob Frank


sei so etwas wie „der Luther der Juden“,


schafft das seltene Kunststück, sowohl


Frank als auch Luther Unrecht zu tun.


Denn tiefe Spurenhaben Frankundder

Frankismus nicht hinterlassen, nicht im


Judentum, und auch nicht in Polen, wo sie


die größten ekstatischen Triumphe und


bittersten Niederlagen erfuhren. Als Stoff


hingegen wird der Lebensweg des Pelz-


händlers aus Podolien zum Schlüssel für


mehrere Kapitel mittel- und osteuropäi-


scher Kultur- und Geistesgeschichte.


So jedenfallsdie großspurige, mehrzei-

lige Ankündigung direkt im Titel, die „ei-


ne große Reise über sieben Grenzen“ ver-


spricht, „aus mancherlei Büchern ge-


schöpft,undbereichertdurchdieImagina-


tion, die größte natürliche Gabe des Men-


schen“. Die neckische Aufmachung als al-


tes Manuskript, die Länge von mehr als


1100 Seiten, die auch noch rückwärts lau-


fen: Tokarczuks Roman scheint zum eher


unangenehmen Genre des postmodernen


epischen Schelmenromans zu gehören.


Die Erzählung läuft langsam an – Jacob

Frank taucht nach 200 Seiten auf – um


sichersteinmalumzuschaueninPolen-Li-


tauen um 1750, nach der Blüte und vor der


Teilung. Die Erde vibriert noch nach dem


kataklysmischen 17. Jahrhundert, für Ju-


den wie für Nichtjuden. Der beklommene,


aber nicht nur unfreundliche Austausch


zwischen diesen beiden Gruppen, auch


die verwischten Grenzen, sind das Thema


desRomans.EsbeginntmiteinemAktver-


suchten kulturellen Austauschs: Der Pfar-


rer Benedykt Chmielowski besucht das


StädtchenRohatyn,ummitdemRabbiEli-


scha Schor Bücher zu tauschen, sein eige-


nes Werk „Nowe Ateny“ gegen den Zohar,


den zentralen Text der Kabbala. Später


wird dem des Hebräischen nicht mächti-


gen Pater erklärt, dass er statt des Zohar


ein Buch mit Märchen bekommen hat.


Nicht nur, weil seine Reaktion – „so ein

Schlawiner!“–kaumantijüdischeUntertö-


ne hat, ist Chmielowski einer der Helden


des Romans. Er ist, wie auch Rabbi Schor,


eine historisch belegte Person, und To-


karczuk macht ihn zu einem nur leicht ge-


brochenenSymbolfüreineuniversellaus-
gerichtete polnische Kultur, die den frem-
den Juden (und ungebildeten Polen) zwar
mit Paternalismus begegnet, aber auch
mit Interesse und Toleranz. Sein Gegen-
bild ist die ebenfalls historisch verbürgte
Politikerin Katarzyna Kossakowska, die
schon früh beklagt, dass „die Juden jetzt
überall sind, da muss man nur noch zuse-
hen, wie sie uns auffressen mit Haut und
Haar“.
DieseWeltdespolnischenAdelsundKle-
rus ist hochsinnig, aber blutleer, Tokarc-
zukschildertsieinerzähltenPassagenund
Briefwechseln, in denen, einer der weni-
gen stilistischen Verfremdungseffekte,
aus ß stets sz wird. Die Kapitel über die
Schtetljuden hingegen sind vom ersten
Schlaganineinemmystischen Tonfall:Die
alteJenta,dienichtsterbenkann,istdieSe-
herin des Romans, sie erblickt die ganze
Welt und die kommende Erschütterung.
Tokarczuk vermeidet Überzeichnung
in beide Richtungen, und wenn die jüdi-
schen Figuren eher in der Lage zu sein
scheinen,sichflüsterndmitdemWeltgeist
auszutauschen,währenddiepolnischenFi-
guren nur ratlos in den Wald schauen,
dann fängt das die historische Stimmung
ein. Das Gespenst, das durch die Betstu-
benundJeschiwotgeistert,heißtSchabba-
tai Zwi, der Pseudo-Messias aus Smyrna,
dessen Bewegung aus dem osmanischen
Reich bis nach Osteuropa und jenseits da-
vonJudenanzog,auchnachseineröffentli-
chen Konvertierung zum Islam.
Scholem sah in Zwi eine wichtige Kraft,
die das Judentum vom Mittelalter in die
Moderne brachte, Theodor Herzl hinge-
gen ein warnendes Beispiel, inzwischen
gibt es auch feministische Lesarten seiner
sabbatianischen Bewegung.
Dagegen ist Jacob Frank eher eine klei-
ne Flamme. Sein Weg wird durch die Au-
gen des Nachman aus Busk erzählt, der
vor seiner Begegnung mit ihm schon Baal
Schem Tow gefolgt ist und sich überhaupt
gernean Propheten undWeisehängt. Weil
es vielen Juden Osteuropas so geht, kann
der charismatische Jacob Frank eine gro-
ßeGefolgschaftumsichscharen,dieerda-
von überzeugt, dass er die Reinkarnation
von Schabbatai Zwi ist.
Seine Verkündungen sind häretisch,
aberplatt.DasvonGeorgHerlitzherausge-
gebene „Jüdische Lexikon“, eine der Krö-
nungen deutsch-jüdischer Kultur zwi-
schendenWeltkriegen,schreibt,dass„sei-
ne Lehren auf Originalität keinen An-
spruch erheben konnten“ und nur „ein
Sammelsurium aus den Theorien der tür-
kischen Sabbatianer und der Kabbalis-
ten“ waren. Grundlage seiner Ausstrah-
lungwaren Wundertatenund vor allemri-
tuelle Zusammenkünfe mit „Gesang und
Tanz, nicht ohne erotische Begleiterschei-
nungen“.
So wird berichtet, dass Chaja, die Toch-
ter des Rabbi Schor, nackt vor der Menge
steht und ein Kreuz schwenkt. Ein Rabbi-
nerrat hört diese Nachricht mit Entsetzen,
undRebMoschkoausSatanowäußertden
Leitspruch mehrerer Tausend Jahre jüdi-
scher Diaspora-Existenz: „Was sollen die
Gojim jetzt denken?“
Die Frankisten stören das Gleichge-
wichtzwischenJudenundChristen,ehan-
fällig für Pogrome, Ritualmordvorwürfe
und Zwangstaufen. Die Frankisten bie-
dern sich verschiedenen Fraktionen an,
lassensichtaufen,werdentrotzdemeinge-
sperrt, müssenimmer wieder fliehen, und
lassen sich am Ende in Offenbach nieder.
Tokarczuk schildert diesen Machtkampf
zwischen machtlosen Juden und mächti-
genPolenmitgroßerSubtilität.Alsangeb-
liche Satanisten tauchen die Frankisten

seit Jahrhunderten immer wieder in der
Verschwörungsliteratur auf, darunter
auch in Büchern des polnischen Deka-
denzdichters Stanisław Przybyszewski.
TokarczukbefreitihreGeschichtevonTo-
tenschädelkitsch,unddamitauchvonAn-
schlussfähigkeit an antisemitische My-
then.
In einem Porträt imNew Yorkerwird
ihr Werk als „Romane gegen Nationalis-
mus“ beschrieben, darunter das mit dem
InternationalBookerPrizeausgezeichne-
te Buch „Unrast“, ein wunderbar schwer
zugreifendesErzählwerk,dasvondener-
digen „Jakobsbüchern“ so weit entfernt
ist, dass sich beide wieder in der Mitte
treffen und als Geschwister erkennbar
werden. Ob eng und klaustrophobisch,
oder rastlos polyphon, Tokarczuks Bü-
cher reißen Fenster zur Welt weit auf.
Ein Fenster zur Welt, so nannte Isaac
Bashevis Singer eine Kurzgeschichte
überdiejiddischeLiteraturszenedesWar-
schaus seiner Jugend, die damit endet,
dass der Erzähler merkt, warum er seine
Novelle zu Jacob Frank einfach nicht be-
enden kann: Der sich sephardisch geben-
de und Ladino, „Judenspanisch“, spre-
chendeFrankistihmfremd,dieGeschich-
te muss über seine polnischen Anhänger
erzählt werden.
Bei Tokarczuk wird aus der Novelle ein
Tausendseiter, trotzdem taucht der Ori-
ent als speziell jüdischer Sehnsuchtsort
kaum auf. Der Roman ist Teil eines spezi-
fisch polnischen Erinnerungsprojekts.
ImNew Yorkererzählt Tokarczuk, dass
der Roman auch für jene geschrieben sei,
die sich schämen, aus einst frankisti-
schen Familien zu kommen.

Die kleine jüdische Gemeinde Polens,
vor der Schoah die bedeutendste und le-
bendigste der Welt, besteht heute vor al-
lem austinokot shenishbu, also außer-
halbjedesBewusstseinsfürjüdischeReli-
gion und Kultur aufgewachsenen, oft so-
gar getauften Juden. Es waren Nichtju-
den, die Ende der Achtziger das Festival
für jüdische Kultur in Krakau gründeten.
WasinDeutschlandunangenehm philose-
mitisch wirken würde, scheint in Polen
ein Akt echter Restitution zu sein.
Immer mehr Romane und Filme wol-
lendasSchweigenüberdasverdrängtejü-
dische Erbe brechen. Auch Tokarczuks
Roman, laut Untertitel „den Landleuten
zur Besinnung“, ist eine Ausgrabung. Sie
zeigt, dass polnische Juden zu Polen ge-
hörten,auchwennsiekein Polnisch spra-
chen, nicht katholisch waren, sich noch
nicht einmal als Polen verstanden. Sie tut
das ohne Vereinnahmung, ohne Verklä-
rung, und nur in den allerseltensten Fäl-
len („Nachmans Atem geht auf wie der
Teig einer Challa“) in der Nähe zum
Kitsch.
Den größten Beitrag der Frankisten
zur polnischen Kultur erwähnt Tokar-
czuk dabei nicht: Unter den Juden von
Warschau, so Scholem, sei es allgemein
bekannt gewesen, dass Adam Mickie-
wicz, der Dichter des Nationalepos „Pan
Tadeusz“, aus einer frankistischen Fami-
lie käme. Vielleicht stimmt das, vielleicht
istesaberwiedernur,wie RabbiBlochsa-
gen würde, Quatsch.
Eine letzte Anekdote von Scholem
zeigtdieAbgründeundHöhenundabsur-
de Schönheitjüdischer Mystik: Einen von
Scholems Vorträgen einleitend, erinnerte
sich der Rabbiner und Professor Saul Lie-
berman an den Wunsch einiger Studen-
ten, kabbalistische Texte zu lesen, was er
ihnen nicht gestattete. Ein Vortrag von
ScholemzudiesenTextenseihingegenet-
was ganz anderes: „Unsinn ist Unsinn.
Aber die Geschichte des Unsinns, das ist
Wissenschaft.“ Und 1000 sensible, zärtli-
che, trauererfüllte Seiten zu diesem Un-
sinn sind denkbar größte Literatur.

Olga Tokarczuk:
Die Jakobsbücher. Roman.
Aus dem Polnischen von
Lisa Palmes und Lothar
Quinkenstein. Kampa
Verlag, Zürich 2019.
1184 Seiten, 42 Euro.

Das Erbe der


Frankisten


„Die Jakobsbücher“, der neue Roman der


Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk


Die Frankisten stören


das Gleichgewicht


zwischen Juden und Christen


Marion Tiedtke ist Chefdramaturgin am Schauspiel Frankfurt.
Sie hat Inszenierungen zum Beispiel von Andreas Kriegenburg
und Ulrich Rasche betreut. Außerdem hat sie die Reihe
„Stimmen der Stadt“ mitentwickelt, bei der
Autoren nach Gesprächen mit einem Bewohner Frankfurts
einen Monolog für einen Schauspieler schreiben. Marion Tiedtke
liest gern im Kulturzentrum „Hafen 2“ am Main.

DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 – SZ SPEZIAL LITERATUR BELLETRISTIK V2 3


»Verblüff end aktuell.«


Mit einem Nachwort von Volker Weiß


Klappenbroschur. 86 Seiten. € 10,–


»Was würde Adorno heute zum sogenannten Rechtspopulismus


sagen? Man kann auf diese Frage eine ziemlich verlässliche Antwort


geben, denn am 6. April 1967 hielt der Philosoph einen Vortrag,


dessen Gedanken zum Teil verblüff end gut auch zur jetzigen Lage

passen.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung


»Verblüff end oft hat man den Eindruck, dass das, was dort


steht, nicht vor einem halben Jahrhundert gedacht worden ist,


sondern gerade eben erst.« Süddeutsche Zeitung


»Was Adorno aufzeigt, ist nicht nur

von einer verblüff enden Aktualität,


sondern auch von einer Subtilität in

den Beobachtungen, die man in vielen


aktuellen Publikationen zur Rechten


dann doch vermisst.« der Freitag


Suhrkamp http://www.suhrkamp.de


Die Literarische Welt

Free download pdf