Karl Meyer istam Ende: sein achtzehnjäh-
riger Sohnhat sich umgebracht. „Tausend
Mal am Tag vergaß ich, dass Jakob-Ole tot
war. Tausend Mal am Tag fiel es mir plötz-
lich wieder ein. Beides war unerträglich.
Ihn zu vergessen war das Schlimmste, was
ich tun konnte. An ihn zu denken war das
Schlimmste, was ich tun konnte.“ Auf der
Suche nach den Gründen für den Freitod
seines Sohnes findet Meyer die Schuld bei
sichselbst:Erwares,derdieFamiliefürei-
ne Affäre mit einer zwanzig Jahre jünge-
ren Frau verlassen hatte, der weglief von
seiner Ehefrau und den beiden Kindern.
Der Roman erzählt die Zeit vor und
nach dem Unglück. Sæterbakken geht es
dabei um die Extremsituationen: im Äu-
ßersten soll sich das Wesen, die Natur des
Menschen, sein Eigentliches zeigen. Eine
zentraleundzugleich umstritteneFigur in
der norwegischen Literaturlandschaft,
war Sæterbakken Zeit seines Lebens
(1966–2012), ein literarischer Extremist.
Schon sehr früh erregte er Mitte der
1980er-Jahre durch eine Gedichtsamm-
lungAufmerksamkeit,die eralsachtzehn-
jähriger Schüler veröffentlichte. Neben
den zahlreichen Romanen schrieb er
Essays und übersetzte die Werke Ján Bu-
zássys, IvanKupecsundNikanor Teratolo-
gens ins Norwegische. Er war künstleri-
scher Leiter des Literaturfestivals in Lille-
hammer, bis er 2009 seinen Posten ver-
liert, als er den Holocaustleugner David
Irving einlädt.
„Durch die Nacht“ ist ein Tagebuch der
Trauer, der Flucht vor einer unerträgli-
chenWirklichkeit,erzähltausderPerspek-
tive eines Vaters, eines Ehebrechers, eines
Verrücktgewordenen, einer ganz und gar
gebrochenen Figur. Meyer zu bemitlei-
den,fällt aber nicht leicht. Er ist ein heillo-
ser Pathetiker und damit die klischeehaf-
te Verkörperung eines gewissen dunklen
Tons, einer existenziellen Motivik, des
scandinavian blues, der mit Karl Ove
Knausgård, Tomas Espedal und Merethe
Lindstrømindenletzten Jahren zurtrade-
marknorwegischer Literatur geworden
ist. Existenzielle „Wirklichkeitsliteratur“,
die von der allzumenschlichen Wahrheit
des Liebens, Lebens und Träumens er-
zählt, von Schmerz, von Rausch, Einsam-
keitundKompromisslosigkeit.WennMey-
er von der Zeit des Kennenlernens seiner
FrauEvaerzählt,wird erhyperbolisch,sei-
ne Verliebtheit steigert sich zur größten
Liebe aller Zeiten, eine Trennung das En-
de der Welt. Er suhlt sich in der Größe sei-
nereigenenGefühle, gerührtvondereige-
nen Fähigkeit zu großen Emotionen. Eine
Figur, für die die Wirklichkeit immer
schon wahlweise „wie im Film“, „wie im
Traum“ oder wie in einem Gemälde von
Edvard Munch daherkommt.
Es dauert nicht lange, bis er Mona ken-
nenlernt. Sie soll ihn retten, den mittelal-
ten Zahnarzt. Mona erscheint ihm als das
große Versprechen, in ihrer Nähe nimmt
der blasse Meyer „Farbe“ an: „Sie lächelte
mich an, und um mich war es geschehen.
Ich entlockte ihr dieses Lächeln, und es
ließ mich ihr verfallen. Wie eine schöne
Welle schlug es über mir zusammen, alles,
vondemichgeglaubthatte,ichkönnedar-
auf verzichten. Sie weckte etwas in mir,
von dem ich vergessen hatte, dass ich es
haben wollte.“
Meyer zögert, ist hin- und hergerissen
und entscheidet sich dann doch für Mona,
zieht mit ihr zusammen, fühlt sich frei
und doch nach kurzer Zeit unglücklich.
Als er merkt, dass ihm sein Imaginäres ei-
nen Streich gespielt hat, sich Mona doch
nicht als Frau der Träume erweist, ver-
lässtersie,nenntsieein„großesKind“,fin-
det damit aber lediglich eine perfekte Be-
schreibung für sich selbst. Wer so viel
fühlt, hat es wahrlich nicht leicht, der Le-
ser solcher Plattitüden aber auch nicht:
„Es musste dieses Doppelleben gewesen
sein, das mich in zwei Teile gespalten hat-
te. Da war dieser eine Teil, der einfach nur
ertrinken wollte, und der andere, der le-
ben wollte. Würde ich jemals wieder eins
sein? War ich das jemals? Zu lieben half,
und trinken half, dann floss alles zu einer
Ganzheit zusammen. Doch dann wachte
ich aus dem Rausch auf und fiel wieder
auseinander wie eine Frucht, die man in
der Mitte durchschneidet.“
Doch es ist zu spät, er findet nicht mehr
in sein altes Leben zurück. Insbesondere
sein Sohn kann ihm den Verrat an der Fa-
milie nicht verzeihen, verhärtet sich und
fährt schließlich betrunken in einen Las-
ter. An dem Punkt verliert der Roman sei-
nen Protagonisten und Meyer das Interes-
se an der Wirklichkeit. Er macht sich auf
eine Reise, die einer halluzinatorischen
Psychose ähnelt, flieht nach Deutschland
zueinemHorrorfilm-Festival,besuchtalb-
traumhafte Theatervorstellungen und ist
auf der Suche nach einem geheimnisvol-
len Haus in der Slowakei, von dem man-
chebehaupten,„dortgewesenund umvie-
les erleichtert wieder herausgekommen
zu sein, von allem kuriert, was ihnen das
Leben schwergemacht hatte, froh und
munter, ohne eine einzige Angst im Leib.
Doch das Grauen kommt in anderer Ge-
stalt als erwartet. Der wahre Horror, den
Meyer nicht erträgt, ist der Horror des All-
täglichen,dieDurchschnittlichkeitundLä-
cherlichkeit der eigenen Person, das
stumpfsinnig Redundante und x-Beliebi-
ge seiner Existenz. Das Haus führt die
qualvolle Erinnerung an das Versäumte
und achtlos Vergeudete vor Augen. Sæter-
bakkensletzterRomanisteineambivalen-
te Angelegenheit: eine verstörende Unter-
suchung des literarisch Zumutbaren und
desWesensmenschlicherTrauer,dasTes-
tament eines Schriftstellers, der sich ein-
mal als Misanthropen, der Menschen
liebt, bezeichnet hat. „Durch die Nacht“
wird allzu oft von einer holzhammerhaf-
ten Drastik dominiert, die Sæeterbakken
am Ende beinahe um den Anspruch
bringt, den er stets an Literatur zu stellen
versuchthat:EmpathiefürdasUnvorstell-
bare zu ermöglichen.
wolfgan g hottner
Stig Sæterbakken:
Durch die Nacht.
Roman. Aus dem Norwegischen
von Karl-Ludwig Wetzig,
Dumont Verlag, Köln 2019.
288 Seiten, 22 Euro.
Empathie für das Unvorstellbare
Stig Sætterbakkens letzter Roman „Durch die Nacht“
Vielleicht ist es gar nicht dieses phänome-
nale Licht, das Italien zum Sehnsuchts-
land der Menschen aus dem Norden ge-
macht hat. Vielleicht ist es das Bild einer
italienischen Großfamilie beim Essen ge-
wesen: so lebendig, so genießerisch mit-
einander redend, während die Schüsseln
und Teller sich auf dem Tisch türmen –
ohne dass jemand hektisch aufspringt, al-
les wegreißt und für Ordnung sorgt –, und
man sich erst nach Stunden, süßem Es-
presso und sündigen Zigaretten zufrieden
wieder den eigenen Lebensdingenzuwen-
det. Klar, auch die glückliche italienische
Familie ist schöner Schein, aber als Sehn-
sucht ist sie ganz real.
Die norwegische Autorin Helga Flat-
land, Jahrgang 1984, setzt in ihrem Ro-
man „Eine moderne Familie“ diese Sehn-
sucht als Folie für die Selbstbetrachtun-
gen der Geschwister Liv, Ellen und Håkon
ein, die schon erwachsen sind. Allerdings
nur dem Alter nach, tatsächlich sind sie
nochvoll integriertinsNetz derfamiliären
Rollen und Abhängigkeiten. Liv, die Ältes-
te,hatMannundzweiKinder.IhreGedan-
kennehmendengrößtenRaumeinundle-
gen die Grundlage für die Reflexionen der
beiden anderen. Aus Ellens Perspektive
werden zwei Kapitel erzählt, und Håkons
SichtwirdnurzumSchlussgegendasErle-
ben seiner Schwestern geblendet.
So nüchtern wie der Titel „Eine moder-
ne Familie“, so sachlich ist die Erzählwei-
se.WashättemanausderEinstiegssituati-
on für eine Komödie machen können:
Beim Familientreffen in Italien eröffnen
die Eltern ihren erwachsenen Kindern in
einer klassischen Tischszene, dass sie sich
scheidenlassen werden.DieKinderreagie-
ren wie schon früher: Liv möchte sagen,
dass „sie alles in Ordnung bringt“, Ellen
treibt die Dinge mit ätzendem Sarkasmus
auf die Spitze: „Auseinandergelebt? Zu-
kunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!“ Und
derJüngste zieht sichzurück,um dannfür
praktische Arbeiten zur Verfügung zu
stehen.
Damit ist das Spiel eröffnet. Die Schei-
dung der Eltern veranlasst die Geschwis-
ter, ihre Lebens- und Familienauffassun-
gen infrage gestellt zu sehen. Natürlich
sind Norwegerinnen wie Liv um fort-
schrittlichere Einstellungen bemüht als
beispielsweise die Bewohner der Alpenre-
gion,anderen pädagogischeÜberzeugun-
gen Liv im Flugzeug auf dem Weg nach
Romkopfschüttelnddenkt.Zurecht,inÖs-
terreich meint ein Drittel der Bevölkerung
nämlich immer noch, so die Zeitung „Der
Standard“ 2014, „eine Watschen“ sei
gesund, was die österreichische Autorin
PetraPiuk2017,imselbenJahr,indem„Ei-
ne moderne Familie“ in Norwegen er-
schien, zu ihrer tiefschwarzen Komödie
„Toni und Moni oder: Anleitung zum
Heimatroman“ veranlasst hat.
Es hat schon fast etwas klischeehaft
Nordisches, wie rational Helga Flatland
mit dem Eltern-Kind-Thema im Gegen-
satz zu Piuk verfährt. Ihr Roman nimmt
die Stelle der Psychoanalyse ein, die die
drei Geschwister dringend bräuchten: Liv
belastet als Älteste das Gefühl, sich um
alleskümmernzumüssen.Sieistein„Kon-
trollfreak“, wie ihr Mann sagt, und nimmt
damit allen anderen jede Möglichkeit zu
handeln. Zugleichleidet sie unterdem Ge-
fühl, nichts wert zu sein, und gibt oben-
drein anihreKinderdenMangelanEmpa-
thie weiter, den sie von ihren Eltern erfah-
renhat.Ellen,dieMittlere,fühltsichschul-
dig. Dafür, dass sie keine Kinder bekom-
men kann, dafür, dass sie überhaupt auf
der Welt ist. Ihren Körper, um den Liv sie
beneidet, hasst Ellen und empfindet ihn
als „Mängelexemplar“. An ihrer abstrusen
Überzeugung, dass sie als Kinderlose nie
eine„tiefereFormvonVerbundenheitund
Sinn“ erleben wird, geht sie regelrecht zu-
grunde. Alles kein Wunder, hat ihre Mut-
ter ihr doch schon früh erzählt, wie „grau-
envoll“ ihre Geburt war und dass der von
Ellen verursachte „Geburtsschaden“ (da
trappst die Freud sche Nachtigall) schuld
gewesen sei, dass ihre Mutter keine Kin-
der mehr bekommen konnte. Eins kam
dann doch noch, Håkon, allerdings mit
LochimHerzen.VonseinenSchwesternei-
fersüchtig klein gehalten, von den Eltern
ausgenutzt und in die Pflicht genommen,
vertritt er die Theorie, dass die Ehe wider-
natürlich sei. Da auch er keine Analyse
macht, bleibt er in der Utopie eines freien
Miteinanders gefangen – und unglück-
lich.
Es ist reizvoll, wie Helga Flatland diese
Konstellationen durch die verschiedenen
Blickwinkel als Kippbilder der Erinnerun-
gen erzählt. Keine Anleitung zum Heimat-
roman, aber zur Familienaufstellung.
ManhättesichsogarnochfürdiePerspek-
tivenderElternundderAngeheiratetenin-
teressiert. Flatland illustriert erzählend,
wie wenig selbstverständlich es ist, sich
aus dem Rahmen der Kindheitsrollen zu
befreien. Dadurch wirkt der Roman aller-
dings zunehmend thesenhaft und teilwei-
se sogar unlebendig, weil allzu häufig auf
die elterliche Mitteilung zurückgegriffen
wird,dieaberehereineDeus-ex-Machina-
Technik ist, um das ganze tragische
Familiending in Gang zu bringen. Die
Skandalisierung der Scheidung durch die
Geschwister wirkt selbst mit der psycho-
analytischenBrilleirgendwannunverhält-
nismäßig.
Trotzdem wirdgenaudieses unverhält-
nismäßige Vergrößerungsglas, mit dem
FlatlanddieFamilienpsycheanschaut,da-
zu geführt haben, dass die norwegischen
Buchhändler ihren Roman 2017 ausge-
zeichnet haben. Er erzählt von Konflikten,
die allen bekannt vorkommen und insbe-
sondere Ellens Geschichte leuchtet innere
Verstrickungen aus, über die selten ge-
sprochen wird. Flatland gibt dem winzi-
gen „Pieksen von einem Gefühl“ eine
Sprache, das „im Gedächtnis als etwas ab-
gespeichert“ wurde, wogegen man sich
„verteidigen“muss.Diehintersolchen Ge-
fühlen schlummernden unbearbeiteten
Verletzungen haben allerdings so wenig
mit Modernität zu tun wie die Diskrepan-
zen zwischen tatsächlichem Alltag und
den unerreichbaren Vorstellungen, die die
Geschwister sich von ihrem Leben ma-
chen. – Das Moderne an dieser Familie ist
ihre Betrachtung. Und die ist dann doch
auch ironisch, was Flatlands Roman nicht
zum erzählerischen Meisterwerk macht,
sondernihneheralssolideerzähltenKom-
mentar zum gegenwärtigen Familiendis-
kurs zeigt. insa wilke
Helga Flatland:
Eine moderneFamilie.
Roman. Aus dem
Norwegischen von
Elke Ranzinger.
Weidle Verlag,
Bonn 2019.
308 Seiten, 15 Euro.
von t homas steinf eld
E
s ist schwierig, von Landschaf-
ten zu erzählen, fast so schwie-
rig, wie von Träumen zu berich-
ten. Nie scheinen die Worte aus-
zureichen.ImmeristdaeinUnge-
nügen, dass das Wesentliche, das einem
doch so deutlich vor Augen zu stehen
scheint, am Ende doch nicht getroffen ist.
ImAngesichteinerLandschafterscheintal-
le Sprache dürftig, und das gilt auch für das
scheinbarschlichtesteLandschaftsbild,für
Edvard Munchs Gemälde eines mit Kohl-
köpfen bestandenen Ackers etwa, das der
norwegischeSchriftstellerKarlOveKnaus-
gård so beschreibt: „Die Kohlpflanzen im
Vordergrund sind grob und fast skizzen-
haft gemalt und lösen sich zum Hinter-
grund hin in grüne und blaue Pinselstriche
auf. Neben dem Acker befindet sich ein
Feld in Gelb, darüber ein Feld in Dunkel-
grün und wiederum darüber ein schmales
Feld mit einem sich verdunkelnden Him-
mel. Das ist alles, das ist das ganze Bild.“
Dennoch hat Karl Ove Knausgård ein gan-
zes Buch über dieses Bild und andere Wer-
ke Edvard Munchs geschrieben. Weil aber
dasBetrachtenunddasBeschreibenbeiGe-
mälden so weit auseinandertritt, handelt
dieses Buch vor allem davon, wie schwierig
es ist, sie zu beschreiben.
EntstandenistdiesesBuchauseinerAuf-
tragsarbeit. Karl Ove Knausgård hatte in
Malmö einen Vortrag über Edvard Munch
gehalten, woraus die Anfrage hervorging,
obernichtinOsloeineAusstellungmitWer-
ken Munchs kuratieren wolle, was dann
schließlich zu dieser Schrift führte. Über
diese Entstehungsgeschichte lässt sich
spotten,weilesinderKunst-undKulturge-
schichte nicht viele berühmte Norweger
gibt, und hier der berühmteste norwegi-
sche Schriftsteller der Gegenwart über ei-
nen der berühmtesten norwegischen
Künstler der Vergangenheit schreibt. Für
die nähere Zukunft erwartet man Bücher
zuHenrikIbsen,EdvardGriegsowie,zurall-
gemeinen Aufregung, Knut Hamsun. Doch
istdieSchriftüberMuncheineernsteAnge-
legenheit, der sich Karl Ove Knausgård mit
der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit stellt.
Ertutesumsomehr,alserweiß,warumBe-
trachtenundBeschreibensoweitauseinan-
derliegen: weil die Landschaft, und sei es
nurdieserAckermitKohlköpfen,etwasver-
spricht,dassienichteinlösenkann:„gleich-
wohl Versöhnung, gleichwohl Frieden,
gleichwohl der Rest von etwas Schreckli-
chem“. Aus diesem Grund erzählt dann der
Betrachter von sich selbst, manchmal aus-
führlich und gedanklich durchgearbeitet,
manchmalbeinahenurinGestaltvonStim-
mungslauten: „also Kohl, Korn und Wald“,
also in der Hoffnung, dass es im Leser eine
Saite gibt, die mitschwingt, auch wenn sie
nicht berührt wird.
Nur wenige Werke Edvard Munchs sind
dem großen Publikum bekannt: die vier
Gemälde und die eine Lithografie, zwi-
schen den Jahren 1893 und 1910 entstan-
den, die den Namen „Der Schrei“ tragen,
ferner der„Vampir“ (wiederum eineSerie),
die „Angst“ und vielleicht die „Madonna“.
Gemalt aber hatte Edvard Munch in sech-
zig Schaffensjahren etwa 1700 Bilder, wo-
zu zahllose Arbeiten auf Papier kommen.
Viele von ihnen wurden nie ausgestellt,
sondern blieben verwahrt in den Depots
des Munch-Museums in Oslo, wobei sich
das Schicksal dieser Werke mit der unter
Kunsthistorikern und Kritikern verbreite-
ten Ansicht verband, Edvard Munch sei
nach einer Nervenkrise im Jahr 1908 ein
minderer Maler geworden. Karl Ove
Knausgård nun will das spätere Œuvre
dem Vorurteil entreißen, Edvard Munch
seieigentlicheinMalerderfinsterstenSee-
lenzustände und nur als solcher wirklich
groß. Die Gemüsegärten, Apfelhaine und
kleinen Wälder, die der Künstler in steter
Folge in der relativen Abgeschiedenheit
seiner Villa in Ekely verfertigte, haben es
ihmdagegen angetan.An die Stelle dertie-
fen Einsamkeit und der Sehnsucht, die das
frühe Werk geprägt hätten, so die These
Knausgårds,sei einebeinaheschonlebens-
förderlicheHingabeandasBeobachtenge-
treten, vor allem der näheren Umgebung.
Selbstverständlich drängt sich bei einer
solchen These die Parallele zu Karl Ove
Knausgård selbst auf, zu dem Schriftstel-
ler, der einer romanhaften Autobiografie
namens„MeinKampf“einWerkvonsechs-
tausendSeitenUmfangwidmete, soalsgä-
beeskeinMaßfürdasInteresse,daseinin-
ternationales Publikum am Leben eines
werdendenSchriftstellersausdereuropäi-
schen Peripherie haben könne. Tatsäch-
lich gibt es Passagen im Buch über Edvard
Munch, die an „Mein Kampf“ erinnern,
wie auch an die kleinen Bücher über die
vier Jahreszeiten, die das Schönste sind,
was Karl Ove Knausgård bislang schrieb:
BerichteüberdasLebeneinerFamilieinei-
nem alten Haus im äußersten Süden
Schwedens, in einem Winter zum Beispiel,
in dem ihn, im Angesicht von dünn be-
schneiten Feldern und in der Betrachtung
eines Bildes von Edvard Munch, das eben-
falls eine beschneite Landschaft zeigt,
plötzlich die Einsicht überfällt: „Das
Grundgefühl war Einsamkeit, in der Welt
allein zu sein. Nicht ohne Freunde oderFa-
milie, nicht ohne andere Menschen in der
Nähe, nicht diese konkrete Einsamkeit,
sondern die rasende und existenzielle: Ich
bin hier, auf dieser Erde, und ich bin al-
lein.“ Man könnte dieses Gefühl für etwas
Nordisches halten, für eine Empfindung,
die sich einstellt, wenn die Erde leer und
der Himmel groß ist. Das wäre aber nur
sentimental. Bei Knausgård wird es zum
Ausgangspunkt einer Bewegung, die
„Welt“ in sich aufzunehmen und in ein
Werk zu verwandeln.
Mit der ihm eigenen Neugier, aber auch
mit der ihm eigenen Unsicherheit macht
sich Karl Ove Knausgård auf, mehr über
Edvard Munch zu erfahren, über die Per-
sonundüberdasMalen.ErfährtnachEke-
ly, um dort die Reste des Anwesens zu se-
hen, er besichtigt den Badeort Åsgårds-
trand, wo Munch ein Sommerhaus besaß,
und schaut sich dort die Steine an, die er
auf den Bildern wiederfindet. Er besucht
die Maler Anselm Kiefer und Peter Doig,
lässt sich von Kunsthistorikern und Kriti-
kern beraten, er taucht in die Biografie Ed-
vard Munchs ein, um eine verlorene Seele
darinzu finden,erarbeitetaneinemDoku-
mentarfilm, der den Künstler als eine Ge-
stalt des internationalen Kulturbetriebs
zeigt,underunternimmtall dieseAnstren-
gungen, um immer wieder zu derselben
Frage zurückzukehren: Was ist Kunst, und
warumvermagsiesovielzubedeuten?Die-
ser Frage wegen macht er sich, wie er
selbst meint, zu einem „Idioten“, was
heißt,dasser lauterFragen stellt, die Men-
schenvomFach nicht in denSinn kommen
würden. Der Idiot ist aber klug, er denkt
gründlich und umfassend, weshalb er zum
Skeptiker der „statischen Größe“ oder der
kritischen Konventionen wird, die sich be-
vorzugtaneinscheinbarsosymbolträchti-
ges Werk heften.
Deswegen ist am Ende auch die Ausein-
andersetzung mit dem „Schrei“ unaus-
weichlich. Aber die Auseinandersetzung
findet eher am Rande statt, in der Bemer-
kung etwa, der „Schrei“ sei aus der An-
strengung Edvard Munchs hervorgegan-
gen, sich immer wieder selbst zu übertref-
fen, und es wäre zu dieser Anstrengung
nicht gekommen, wenn es nicht auch ein
BewusstseinvonMittelmäßigkeit,vonsys-
tematischem Ungenügen gegeben hätte.
Deshalb sei der „Schrei“ so wild, so „un-
fassbarbahnbrechend und fortschrittlich“
ausgefallen. Zu dieser Einsicht gehört eine
andere Erkenntnis. Sie gilt dem Umstand,
dass Edvard Munch zu gewissen Zeiten
und in gewissen Bildern – der „Schrei“ soll
offenbardazugehören – versucht habe, et-
was Persönliches und Zeittypisches als et-
was Grundsätzliches und Allgemeingülti-
ges darzustellen. Und dass gerade dieser
Versuch den „Schrei“ für die Nachgebore-
nen in etwas Fremdes verwandelt habe, in
etwas Unnatürliches, das wirkt, „als wäre
es aus einer anderen Welt zu uns gesandt“.
Um wie viel zugänglicher, ja wahrer er-
scheinen dagegen heute die Kohlköpfe
und Baumstümpfe. Unangetastet von sol-
chen Überlegungen zur Rezeptionsge-
schichte bleibt indessen, was es mit dem
„Schrei“ als Bild auf sich hat: dass dieses
Gemälde einen zerrissenen Kopf zeigt, in
dem das Gesicht und damit alle Zeichen-
haftigkeit verschwunden und nur das
Schreiende als solches sichtbar ist, als eine
Kraft,dergegenüberdie„ästhetischen Ein-
wände irrelevant erscheinen“.
Das Buch schließt damit, dass Karl Ove
Knausgård selbst ein Bild Edvard Munchs
erwirbt, einen der unzähligen Drucke, die
durch dieInternet-Auktionen geistern,ein
FrauenporträtausdemJahr1904,gezeich-
net in nur einem Strich, zu einem Preis, für
den er der Familie eine Ferienreise hätte
kaufen können oder eine gute Fruchtpres-
se. Der Schriftsteller bringt das Bild nach
Hause,hängtesandieWand,wasnichtein-
fachist,weilesdieanderenBilderdortver-
drängt, und er ist betört, durch nichts als
„Präsenz“. Denn darum gehe es ja schließ-
lich, hält er fest, dass alles, „was in diesem
Buch gedacht und geschrieben wurde, sei-
ne Gültigkeit in dem Augenblick verliert,
in dem der Blick der Leinwand begegnet“.
Zu den glücklichen Augenblicken, die das
Buchbereitet,gehörtdieschlichteErkennt-
nis, dass Karl Ove Knausgård auch diesen
Satz geschrieben hat.
Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so klei-
ner Fläche. Evard Munch und seine Bilder. Aus dem
Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Verlag,
München 2019. 288 Seiten, 24 Euro.
Der Idiot
Wennsich die Welt in ein Werk verwandelt:
Karl Ove Knausgård und sein Buch über Edvard Munch
Skandal der Scheidung
Nordisch rational: Helga Flatlands Roman „Eine moderne Familie“
Am Ende kauft der Autor selbst
ein Bild von Munch zum
Preis einer guten Fruchtpresse
4 V2 LITERATUR BELLETRISTIK SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH