von marie schmidt
D
erpostmoderneAutoristnoch
nicht tot. Aber sehr krank.
Sein Sohn fährt ihn durch
Amerika,zudenSchauplätzen
seines letzten Buches. So ge-
schieht es auf der zweiten Handlungsebe-
ne von Salman Rushdies neuem Roman
„Quichotte“. Der fiktive Autor (in dem sich
unverkennbar der reale Autor Rushdie
spiegelt) erklärt, der Roman, an dem er ge-
rade arbeite, sei eine kulturpessimisti-
schen Geschichte im Gewand eines pika-
resken Romans. Glaubst du dir eigentlich,
was duda schreibst,fragtderSohnundder
Autorreagiertbockig:„,Ichhalteesfürlegi-
tim, dass ein in heutiger Zeit gefertigtes
Kunstwerk aussagt, wir seien durch die
Kultur,diewir geschaffen haben,verkrüp-
pelt, vor allem durch ihre populärsten Ele-
mente‘, antwortet er. ,Und durch die
Dummheit, die Ignoranz und die Heuche-
lei, ja.‘ ,Was hast du dagegen getan? , fragte
Sohn. ,Was war dein Beitrag?“
Das ist keine private Frage, sondern die
große Frage der Nachkommen, die jetzt als
Klimademonstranten auf die Straße ge-
hen. Eine Menschheitsfrage, die immer
wiederkommt, wenn auf Hybris und Fort-
schrittsglaubenZeitenderReuefolgen.Sol-
che Zeiten sind jetzt. Wobei man sagen
könnte, dass gerade die Literatur es schon
immerbesser wusste: VonMichel Houelle-
beqcüber Sybille Berg, vonKazuoIshiguro
über Margaret Atwood ist die Gegenwart
dystopisch extrapoliert worden. In den
Nachrichten scheinen sich die Voraussa-
gen zu erfüllen: Populismus, Backlash,
Selbstabschaffung zugunsten künstlicher
Intelligenz, Klimakrise. „Es gab Momen-
te“, schreibt Salman Rushdie über den
„Bruder“ genannten fiktiven Autor in sei-
nem Roman, „da meinte er, die ganze Welt
sei ein Echo auf das Buch, das er gerade
schrieb.“ Als erschrecke der Literat vor
Geistern, die ausgerechnet er gerufen hat.
DerpostmoderneSpaßdaran,mitSpra-
che und Fiktion die Wirklichkeit ummo-
deln zu können, scheint in Selbstzweifel
und Größenwahn umgeschlagen. Aus die-
ser Stimmung heraus erstehen jetzt zwei
Gestalten des Kanons der Weltliteratur
wieder auf: Bei Rushdie die Titelfigur des
(Adorno zufolge) ersten bürgerlichen Ro-
mans überhaupt, „Don Quijote von der
Mancha“. Ein Held, der übrigens schon im
1615 erschienenen zweiten Teil des Origi-
nals von Miguel de Cervantes über seinen
Erfolg in der außerfiktiven Welt sinnierte.
Metafiktionale Selbstkommentierung ist
so alt, wie der moderne Roman selbst.
Im Roman „Frankissstein“ der briti-
schen Schriftstellerin Jeanette Winterson
kommt der Erfinder aus Mary Shelleys
„Frankenstein oder Der moderne Prome-
theus“ wieder. Wobei weder Rushdie noch
Wintersonsotun,alsmüssemandieKlassi-
ker im Lichte der Gegenwart neu schrei-
ben. Auch das wäre Hybris. Vielmehr kom-
men in ihren Erzählungen die alten Typen
als Wiedergänger vor. Zwischen den Fikti-
onsebene hindurch schlüpfen sie in die Ge-
genwart, wie Geister der Ahnen, die je-
mand gerufen hat, um nicht so allein zu
sein.UndsichvorAugenzuführen,dassdie
Probleme der Gegenwart nicht neu sind.
ViktorFrankenstein,Erfinder ausdemRo-
man von 1818, der ein künstliches Wesen
erschafft, menschenähnlich aber mons-
trös, taucht bei Winterson im 21. Jahrhun-
dert als „Viktor Stein“ auf: Fachbereich
„maschinelles Lernen und menschliche
Verbesserung“.InseinemLaborwirdanin-
telligenten Prothesen geforscht und dem
Auslesen der Daten aus Menschengehir-
nen.DasZielistdieUnsterblichkeit,zumin-
destdesBewusstseins,derÜbergangindie
„Transhumanität“: „Die Menschen ma-
cheneine Evolutiondurch.DereinzigeUn-
terschied besteht darin, dass wir hier ei-
nen Teil unserer eigenen Evolution selbst
denken und entwerfen.“ Stein trifft einen
transsexuellen Arzt namens Ry Shelley:
„Er hielt meine Hand fest: Sind wir uns
schon einmal begegnet? Und die seltsame,
für einen Sekundenbruchteil aufblitzende
Antwort aus einer anderen Welt lautet: Ja.“
Offensichtlich ist Ry ebenfalls ein Wie-
dergänger, nämlich der der Schriftstellerin
Mary Shelley. Wintersons Roman verfügt
(wie Rushdies) über zwei Handlungsebe-
nen, und die Metaebene gehört hier der
SchöpferindesUr-Frankenstein.DerenGe-
schichte beginnt Winterson mit einer der
berühmtesten Szenen der englischen Lite-
raturgeschichte: Mary Shelley und ihr
Mann, der Dichter Percy Shelley, Lord By-
ron, dessen Arzt Polidori und Marys Stief-
schwester Claire verbringen den Sommer
1816 am Genfer See. Die Leute der Umge-
bung haben Fernrohre aufgestellt, um die
Freigeister im Auge zu behalten. Es regnet
ununterbrochen. Man ist also ans Haus ge-
fesselt, erzählt sich Geschichten, und ge-
nau da fällt Mary Shelley ihr „Franken-
stein“ein, der sie unsterblich machen wird.
Jeanette Winterson lässt es zwischen Ry
Shelley und Viktor Stein, den Wiedergän-
gernder Autorin undihres Geschöpfs zu ei-
ner leise gruseligen Liebesgeschichte kom-
men. Im Hintergrund beschreibt sie die La-
ge der historischen Mary. Die Tochter der
Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft ist
mit dem Dichter Shelley durchgebrannt.
Von ihren fünf Kindern überlebt nur eins,
der Tod ist ein Begleiter, gleichzeitig hört
sie, wie Forscher versuchen mit Elektrizität
tote Körper zu beleben. Sie sieht die Paupe-
risierungderArbeiterinderFrühindustria-
lisierung. Die Fragen, die sie auf die Ge-
schichte des Monsters bringen, das seinen
Erfinderüberwältigt,sinddiebangen,exis-
tenziellen Fragen, die sich in Zeiten von KI
und Spätkapitalismus immer noch stellen:
Was ist der Körper? Sind wir Menschen an
ihn gefesselt? Macht uns der technische
Fortschritt unabhängig, abhängig oder
überflüssig? Wie werden wir mit unseren
Erfindungen zusammenleben?
Als Schriftstellerin ist Mary Shelley
aberauchAhnfrau derSchriftstellerin Jea-
nette Winterson, die sich da in eine Genea-
logieeinschreibt.DazugehörtauchAdaLo-
velace, Tochter von Byron und frühe Pro-
grammiererin. Auf den verschiedenen Er-
zählebenenstelltWintersonDemiurgenal-
ler Art nebeneinander: den Monster-Vater
Frankenstein, die Schriftstellerin Mary
mit ihrer unsterblichen Figur, Ada, Geist
der Rechenmaschinen und Computer, den
Transsexuellen, der sich den Körper
nimmt, den er braucht und Stein, der mit
seinenkünstlichen GehirneneineneueLe-
bensform schafft. Weil sich die Geschichte
immer auch als Farce wiederholt, gibt es
dazu eine groteske Gegenfigur, einen im
Sexroboter-Business beschäftigten Mann
namens Ron Lord, der einsame Männern
mit faltbaren Frauen beliefert.
Winterson erzähltall dasin witzigenDi-
alogen und verlässt sich ziemlich um-
standslos auf die Routine ihrer Leserinnen
und Leser mit alternativen Realitäten und
Fiktionsebenen. Die Pointe dieses Romans
liegtim Dazwischen,inAnalogienundÄhn-
lichkeiten. Ohne generalisieren zu dürfen,
ergibt der Vergleich von Wintersons Ro-
man mit Rushdies nicht minder in Zitaten
und Metafiktionen verfangenem „Qui-
chotte“: Die postmoderne Autorin Winter-
son solidarisiert sich mit ihren Vorgänge-
rinnen gegen die Selbstabschaffung des
Menschen. Der postmoderne Autor Rush-
die begehrt auf gegen den eigenen Unter-
gang zwischen den verschiedenen Schich-
ten seiner Fiktion und schiebt Einfall um
Einfall zwischen sich und eine Apokalyp-
se, die er selbst heraufbeschwört.
Der Wiedergänger des „Ritters von der
traurigen Gestalt“ in Rushdies „Qui-
chotte“ istoffenbarauchideellerVerwand-
ter der Hauptfigur des amerikanischen
Meisterwerks „Moby Dick“, denn er heißt
Ismael, Ismael Smile: Ein alternder Phar-
mavertreter, der „angesichts seiner Liebe
zum geistlosen Fernsehen viel zu viel Le-
benszeitimgelbenLichtvongeschmacklo-
senMotelzimmernverbrachte, wo eres bis
zum Exzess schaute“. Nicht Ritterromane
(wie dem Ur-Quichotte), sondern TV-
ShowshabenihmdieWahrnehmungverzo-
gen, seine Dulcinea ist eine medikamen-
tenabhängige Talkshow-Moderatorin. Ei-
nen Sohn namens Sancho zaubert er sich
in einem magischen Ritual herbei, und der
taucht auf wie ein Hologrammbild.
Dieser Sancho ist die rührendste Figur
des Romans, denn als imaginäres Ge-
schöpf seines Vaters hängt er zunächst so
hilflos von dessen wirren Bewusstsein ab,
wie der Leser vom Rausch der Zitate, Ne-
benhandlungen, Anekdoten dieses Ro-
mans.Allerdings machter sich („Werde re-
al, Sancho“) unabhängig, während der Le-
ser sich vor lauter Wiedererkennen mit ei-
ner Art quichottischen Paranoia ansteckt:
DervonCableNewsbesesseneRegierungs-
chef, die Opioidkrise, absurde rassistische
Übergriffe – das ist Amerika. Leute, die
sich inMammutsverwandeln,dassindEu-
gène Ionescos „Nashörner“, der Unterneh-
mer und Millionär Evel Cent, der behaup-
tetdenZugangzueinemparallelenUniver-
sumzu haben, isteine Art zu Ende gedach-
ter Elon Musk. Alles steht für etwas ande-
res und alles hängt mit allem zusammen.
Und die jeweils nächsthöhere Instanz
im Weltwissen des Romans, etwa der Au-
tor auf der Metaebene der Geschichte, ist
nurselbstwiederverwickelt,ineinenAgen-
tenplot und eine traurige Familienge-
schichte. Es scheint unter diesen Bedin-
gungen kein außerhalb der Fiktion mehr
zu geben, man muss es taumelnd genie-
ßen,wieeinenderRomanzwingt,dieGren-
zenzwischenRealitäten,fiktivenundalter-
nativen Welten und der Wirklichkeit zu
übergehen,umseinerQuestfolgenzukön-
nen. Die Zerstörung der Wahrheit durch
TrolleundCyber-Kriege, fragtsichderfik-
tive Autor einmal, „wie unterschied sich
das von der Fiktion, die er machte und die
ihn nun fest in der Schlinge hatte? Nur
dassernichtversuchte,diewestlicheZivili-
sation zu Fall zu bringen, Entschuldigung.
Das war ein kleiner Unterschied.“ Rushdie
schreibt seinen „Quichotte“ gewisserma-
ßen als bombastisches Werk des Trotzes
gegen den Vorwurf, die stets an den Gren-
zenzwischenFiktionundRealitätmanipu-
lierendepostmoderne Kultur,habe diePo-
litik des Post-Truth-Zeitalters verursacht.
Die Literatur hat das nur im aufkläreri-
schen Sinne getan, demonstriert Rushdie.
Dafür ist Quichotte sicher der richtige Ge-
fährte, denn, wie Lord Byron über das Ori-
ginal schrieb, der „Held hat recht... seine
Tugend macht ihn toll“.
Der Held
hat recht
Die Auferstehung von Don Quijote und
Frankenstein im 21. Jahrhundert
Jeanette Winterson:Frankissstein.
Eine Liebesgeschichte. Aus dem
Englischen von Michaela Grabinger
und Brigitte Walitzek.
Kein und Aber Verlag, Zürich 2019.
400 Seiten, 22 Euro.
Salman Rushdie:Quichotte.
Roman. Aus dem Englischen
von Sabine Herting.
C. Bertelsmann Verlag,
München 2019.
464 Seiten, 25 Euro.
Die Politologin Hadija Haruna arbeitet als Journalistin und Moderatorin.
Sie beschäftigtsich mit Migration und Rassismusforschung, unter anderem hat sie
mit dem „Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch“ eine Handreichung
für Medienmacher geschrieben, die helfen soll, Stereotype zu vermeiden. Ihr Leseort
ist der Frankfurter Hauptfriedhof mit seinen prächtigen Portalen und Mausoleen.
„Nur dass er nicht versuchte,
die westliche Zivilisation zu Fall
zu bringen, Entschuldigung.“
Quichotte ist ein alternder
Pharmavertreter, dem zu viel
TV die Wahrnehmung verschiebt
DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 – SZ SPEZIAL LITERATUR BELLETRISTIK V2 5
»Ein Mosaik der Erinnerungskultur.
Ein Monument der Liebe.« Florian Leclerc, FR
Gebunden
€ (D) 20,–
Verfügbar auch
als E-Book
http://www.kiwi-verlag.de
© Gerald von Foris
»Otto knüpft an jiddische Erzähltraditionen an, modernisiert sie,
holt sie in die Gegenwart, und ist außerdem wahnsinnig lustig.
Ein kleines Wunder.« Felix Stephan, SZ
Dana von Suffrin liest:
17.10. Frankfurt | 25.10. Köln | 8.11. Verden | 12.11. Lübeck | 5.12. Berlin | Weitere Termine unter http://www.kiwi-verlag.de/von Suffrin
»Ein Leben im 21. Jahrhundert, mit
den Narben und Albträumen des Vorherigen
versehen« Elmar Schenkel, FAZ
»Fabelhaft, lustig, traurig, melodiös«
Alexander Solloch, NDR Kultur
»Selten begegnet man in Romanen liebenswerteren,
gemeineren, tragischeren und lustigeren Figuren als
dem Helden in Dana von Suffrins brillantem Debüt.«
Christoph Farkas, Stern
»Es hat einen so wunderbaren
stillen Sarkasmus, es hat einen
so schwarzen bösen Humor!«
Christine Westermann, WDR