von meredith haaf
D
as intellektuelle Mutter-
schaftsbuchhatimangloame-
rikanischen Raum eine er-
staunliche Entwicklungskur-
ve hingelegt, um im Jargon
desThemaszubleiben.Von einermutmaß-
lichen Paradoxie, einer Art Einhornprosa,
hat es in den letzten Jahren den Sprung zu
einem eigenen Genre vollzogen, mit dem
man bestimmt mindestens ein Regalfach
hübschvollbekommt.MaggieNelsons„Ar-
gonauten“,SheilaHetis„Mutterschaft“,Jo-
an Didions „Blue Nights“ fallen einem da-
zu als besondere Werke ein, theoretisch
und literarisch anspruchsvoll, manchmal
ausgesprochen befremdlich und zugleich
sehr unterhaltsam. Eben ein bisschen
wie der Zustand, von dem sie handeln.
ImdeutschsprachigenRaumhält mansich
in der literarischen Welt bei dem Thema
nach wie vor tendenziell an das legendäre,
von Mehrfachpapi Gerhard Schröder him-
self in die Welt gesetzte Paradigma von
„Frauen und Gedöns.“ Über das Kinderha-
ben zu schreiben ist hierzulande etwas für
FrauenmitBlogsoderfürfeinsinnigeAuto-
rinnen, deren intellektuelle Anpassungs-
strategie an den Schock der Elternschaft
darin besteht, eine vornehme Verachtung
für das Gedöns und ihre Rolle darin zu for-
mulieren.
Ein Hinweis darauf, dass sich das lang-
sam ändern könnte, ist die Übersetzung
und Veröffentlichung des 18 Jahre alten
„A Lifes Work. On Becoming a Mother“ im
Suhrkamp-Verlag. Es ist gewissermaßen
der Urtext des Genres. Die britische Auto-
rin Rachel Cusk begann ihre Arbeit an „Le-
benswerk“ im Jahr 2001, in einer Zeit, in
der auch englischsprachige, seriöse Auto-
rinnen das Thema mit einer ähnlichen Be-
geisterung anfassten wie eine volle Win-
del. Sie war zu dem Zeitpunkt noch kein
Jahr Mutter einer Tochter, die in den ers-
ten drei Lebensmonaten durchgeschrien
hatte – und bereits wieder schwanger. Sie
war außerdem eine seit Jahren etablierte,
kommerziell und künstlerisch erfolgrei-
che Autorin. Sie war also etwas, was sich
nicht in Einklang bringen ließ, weder nach
innen noch nach außen. Von dem Versuch,
aus der Fragmentierung ihrer Identität in
die Liebesbeziehung zu ihrem Kind und
dann auch zurück zu ihrer Arbeit zu fin-
den, handelt der Text zum einen. Zum an-
deren handelt er vom Schreien, Stillen,
schrecklichen Nannys und der schreckli-
chen Empfindung, man sei bei der Geburt
vonsichselbstgetrenntwordenunddasei-
gentlicheIch irre nunruhelos und verloren
zwischen Krankenhausfluren hin und her.
InderEinleitungihresBuchs,dasindie-
semMonatinderhervorragendenÜberset-
zung von Eva Bonné erscheint, äußert
Cusk die „düstere Vorahnung, dass ein
Buch über Mütter niemand anderen inter-
essiert außer andere Mütter“. Doch „Le-
benswerk“ wurde damals zum Bestseller
und zu dem Buch, das Cusk auf Jahre defi-
nierte,bissieihre„Outline“-Trilogie(eben-
falls Suhrkamp) veröffentlichte. Eine
frühe Rezensentin beschrieb das Buch
sorgenvoll als Gefahr für die menschliche
Fortpflanzung: Beim Lesen bekäme man
Angst vor Babys.
Dabei schreibt Cusk sehr genau, sehr lie-
bevoll und immer selbstkritisch über die
Lust und das Leid jenes Wandlungsprozes-
ses, in dem aus einer Frau, die geboren hat,
eine Mutter wird. Ein weitverbreiteter Irr-
tum ist ja, dass das dieselbe Sache ist. Lako-
nisch bemerkt sie im ersten Kapitel, das
von der Schwangerschaft handelt: „Ich per-
sönlich habe an die Geburt meines Kindes
keine froheren oder rationalerenErwartun-
gen als an meine Ermordung.“ Und schreibt
dann ein paar Monate später so elegisch
überdasNeben-einem-Kleinkind-Einschla-
fen: „Die den Schlaf ankündigende Wärme
überrollte uns beide, und ich konnte spü-
ren, wie wir zusammen durch die leuchten-
den Konstellationen unserer Gedanken
stürzten. Noch auf der Schwelle zum Schlaf
konnte ich spüren, wie auch sie hinüber-
glitt. (...) Wenn ich später aufwachte, lag ihr
Kopf auf meinem Bauch und ihr Körper war
an mich geschmiegt wie nach einer Heim-
kehr, und ich rührte mich nicht, weil ich
wusste, sie würde bei der ersten Bewegung
aufwachen.“ Da muss etwas passiert sein.
Ein weiterer Irrtum: Dass das Werden
ein linearer Prozess sei. Das Buch beschrei-
be„einePhase,inderdieZeitkeinegeordne-
te Abfolge von Ereignissen mehr war, son-
dern im Kreis zu vergehen schien.“ Für den
Text zieht Cusk daraus die Konsequenz, ef-
fektvoll und verwirrend zwischen den Ebe-
nen von Zeit und Empfindung zu wechseln.
Sie ist eine sensible Dramaturgin – immer
wenn es im Text anfängt, zu sehr nach
Milch und Windeln zu riechen, kommt ein
Essay über die Geschichte der Pädiatrie,
über D.H. Lawrence, Proust, Tolstoi (alles
keine Mamis, versteht sich).
„Lebenswerk“isteinerseitsMemoir,an-
dererseits die haarscharfe Analyse einer
Kultur,diemitderSchwangerschaftdieer-
wachsene Frau zurück in ein betreuungs-
bedürftigesWesenverwandelt,dem fürje-
de Unannehmlichkeit noch ein Ratschlag
zuerteilenist:„MutterschaftisteineKarri-
ere in Konformität und ihre Grundausbil-
dung ist die Schwangerschaft.“ Werdende
und junge Mütter stehen unter allgemei-
nen Verblödungsverdacht, das demons-
triert Cusk mit einem Aggregat aus Ratge-
berbroschürentipps,dieinihrerheißgelau-
fenen Fürsorglichkeit rasend komisch und
beklemmend zugleich sind: „Steht eine Ul-
traschalluntersuchung an, sollte man ge-
nug Zeit einplanen, um im Krankenhaus
dierichtigeAbteilung zufinden. Wenn man
sie gefunden hat und aufgerufen wird, be-
gibt man sich in den Untersuchungsraum.
Entkleiden Sie sich und legen Sie sich zur
Untersuchung auf die Liege. (...) Wenn Sie
nachts nicht schlafen können und Ihre Ge-
danken sich überschlagen, sollten Sie die-
ses Aufmucken Ihrer Identität gewaltsam
unterdrückenunddieZeitnutzen, umKon-
takt zu Ihrem Baby aufzunehmen.“
Lesenswert ist das Buch aber auch, weil
Cusks Wille zu erzählen vor Kraft und Hu-
mor strotzt: Ihre kleine Tochter weint un-
unterbrochen, trotz des Dauerstillens, zu
dem Cusk übergegangen ist. Oder viel-
leicht gerade deshalb? „Ich versuche, die
Sache aus ihrer Perspektive zu sehen.
Wenn sie zu weinen anfängt, erscheinen
meine Brüste wie zwei Gefängniswärter,
die einer Störmeldung nachgehen, zwei
tumbe, mondgesichtige Handlanger, die
sich ihr nähern und sie durch die Gabe ei-
nes Beruhigungsmittels zum Schweigen
bringen.(..) Langsam vermute ich, dass ich
einen bürokratischen Wahnsinn verwalte,
in dem das Stillen die Strafe für das Wei-
nen ist und folglich noch mehr Weinen er-
zeugt.“Sohartund amüsantundscharfsin-
nig über diese gegenseitige Gefangennah-
me namens Elternschaft zu schreiben, vor
allem wenn es um einen selbst geht, ist ei-
ne besondere Übung in Ambiguitätstole-
ranz. Doch in der ist kaum jemand so ge-
schultwiedieintellektuelleMutter. Alsoei-
neEntwarnung:DiesesBuchwirdnieman-
dem die Fortpflanzung vermiesen, aber
der ein oder anderen Paradoxbehauptung
vielleicht den Garaus machen.
Rachel Cusk:Lebenswerk. Über das Mutterwerden.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp, 220
Seiten, 22 Euro. Das Buch erscheint am 27. Oktober.
Lieben in
Zirkeln
Der Grundtext der Mütterliteratur endlich
auf Deutsch: Rachel Cusks „Lebenswerk“
„Mutterschaft ist eine Karriere in
Konformität, ihre Grundaus-
bildung ist die Schwangerschaft.“
In Sommer dieses Jahres wurde die Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs zur künftigen „Vorsteherin des Börsenvereins
des DeutschenBuchhandels“ gewählt. Kurz darauf schlug sie vor, den Titel ihres Amtes zu ändern. Vor allem im Ausland sei nicht ganz einfach
zu vermitteln, was eine „Vorsteherin“ eigentlich sei. Nach der Messe wird sie das Amt von ihrem Vorgänger übernehmen. Schmidt-Friderichs,
die mit ihrem Mann den „Verlag Hermann Schmidt“ betreibt, liest am liebsten im Fond ihres Busses.
6 V2 LITERATUR BELLETRISTIK SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH
Roman. 319 S., 13 Abb. Geb. € 22,– ISBN 978-3-406-73963-7
© Elvira Scheuer
«Ein zutiefst beeindruckender
Roman.»
Knut Cordsen, Bayern 2
«Ein Buch voller leichter Sätze,
in denen doch das gesamte Gewicht des Lebens enthalten ist:
die Hoffnung, die Angst, die Lust.»
Oliver Creutz, Stern
«Die Bücher von Norbert Scheuer
habe ich in den letzten Jahren mit am liebsten
gelesen. Seine leisen und wuchtigen Bücher,
seine verrätselten und traumklaren.
Wenn Sie sie verpasst haben,
dann holen Sie es nach!»
Frank Meyer, Deutschlandfunk Kultur