Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
von alex rühle

W

enn man 26 ist und gerade
erst aus dem Gefängnis
kommt, denkt man nicht
ans Sterben. Im Gegenteil,
zum ersten Mal liegt die

Zukunft vor Albe wie die Weiten der


Cevennen, wild, duftend, ein spannendes


Versprechen. Endlich kann es losgehen,


endlichdasBuchfertigschreiben,daswäh-


rend der langen Haft schon erste Form an-


genommen hat. Außerdem ist ihr Gelieb-


ter Lou, auf den sie fast 200 Seiten gewar-


tet hat, mittlerweile auch freigekommen,


sie haben ein eigenes Haus, selbst wenn es


nur eine Abbruchhütte in der Wildnis ist,


durch die der Mistral pfeift. Und so klin-


gen die folgenden Zeilen beim ersten Le-


sen wie ein souveränes Einverstandensein


mitdenMühenderArmut:„Vielleichtwer-


den wir nie vom Pont du Gard ins Wasser


springen, keine Weltreise machen und die


Leute, denen wir in unseren nächtlichen


Träumenaufdem StrohsackdenHals um-


drehen wollten, erst viel später wieder-


sehen (...) Wir waren einmal am Fluss, ein-


mal im Schwimmbad, einmal im Kino,


einmal beim Stierkampf, alles ein Mal,


und das reicht uns.“ Wenn man aber um


Albertine Sarrazins Ende weiß, bekom-


men die zitierten Sätze etwas von einem


unheimlichen Lebensresümee.


Siewäreheute82,zweiJahreälteralsAn-

nie Ernaux. Als diese 1974 ihr erstes Buch


publizierte, war Sarrazin schon sieben


Jahre tot. Nur, weil sie im Krankenhaus


von Montpellier einem Dilettanten in die


Hände fiel. Der Anästhesist hat sie nicht


mal angeschaut vor der Operation, kannte


weder ihr Gewicht noch ihre Blutgruppe.


Nach der OP blieb er nicht im Zimmer, bis


sie aufwachte und er hatte sich auch nicht


darum gekümmert, dass Blutreserven


vorrätig waren. So ist Albertine Sarrazin
eben gestorben, nach einer eigentlich
ungefährlichen Nierenoperation, alleine
im Aufwachraum des Hôpital Saint-Roch,
am 10. Juli 1967. Mit 29 Jahren. Was hätte
sie wohl alles noch geschrieben? Immer
wieder,geradezubeißend,kehrtdieseFra-
ge beim Lesen von „Querwege“, Sarrazins
drittem und letztem Roman, zurück. So
lässig, so poetisch, so wild und frei klingt
ihre Sprache, dass Patti Smith sie ihre
Lebensleitfigurnannte, „diekleineHeilige
der schreibenden Außenseiter“.
Geboren wurde Albertine Sarrazin 1937
inAlgier,ihreMutterwarwohleine15-jäh-
rige Spanierin, die sie vor einem Waisen-
heim ablegte. Mit eineinhalb Jahren wur-
de sie von einem kinderlosen Ehepaar
adoptiert, der Mann war ein 58-jähriger
Militärarzt(und vielleichtihrleiblicherVa-
ter). Mit zehn wurde sie vom Adoptivonkel
vergewaltigt, kurz darauf gab der „Vater“
dashochbegabte Kind in eine Besserungs-
anstalt. Kurz vor dem Abitur brach sie von
dort aus und schlug sich nach Paris durch,
wo sie sich ihren Lebensunterhalt fortan
entwederzusammenklauteodermitPros-
titution verdiente. Was natürlich irgend-
wann ins Gefängnis führte.
Vielleicht war dieses Gefängnis ihr
Glück. Schließlich hat sie dort zu schrei-
ben angefangen. Ihre beiden Helfer waren
„Bic und Nes“, Wegwerfkuli und Instant-
kaffee, ihre Anwältin schmuggelte die
Texte heraus, Simone de Beauvoir bekam
Auszüge davon in die Hände, Texte über
die Träume dieses lebensgegerbten Mäd-
chens und die Langeweile des Knastall-
tagsund machte sich für die jungeAlberti-
ne stark, die übrigens ironischerweise im
Gefängnis von Pontoise saß, dem Ort, in
dem 500 Jahre zuvor Francois Villon die
Gefängnisliteratur erfunden hatte.
Nachdem sie freikam, schrieb sie inner-
halb von zwei Jahren ihre drei Bücher,
Hanser Berlin hat 2013 den ersten Band
„Astragalus“ herausgegeben, aber dann
anscheinenddasInteresseverloren.Glück-
licherweise hat Susanne Schenzle sofort
zugeschlagen und in ihrem Zürcher Ink-

Press-VerlagdieanderenbeidenBändever-
legt, 2018 „Der Ausbruch“ über die Jahre
im Gefängnis, diesen Herbst erscheint nun
der dritte und letzte Band „Querwege“.
Alle drei wurden übersetzt von Claudia
Steinitz, der man als deutscher Leser
französischer Literatur ohnehin immer
wieder nur dankbar sein kann für ihre
meisterliche Arbeit. So wie sie es geschafft
hat, bei Virginie Despentes „Vernon Sub-
utex“ jeder Figur ihre ganz eigene Tonlage
zu geben, so schafft Steinitz es hier, Sarra-
zins jugendliche Schnoddrigkeit genauso
unverstellt ins Deutsche zu übertragen
wie ihre bissige Poesie. Den perfekten
Sechzigerjahreslang von den Polypen bis
zur Fluppe gibt s gratis dazu.
So. Aber worum geht es überhaupt? Der
erste Band, „Astragalus“, begann mit ei-
nem tiefen Fall: Die 19-jährige Anne ist
vonder zehn Meterhohen Gefängnismau-
ergesprungen,hatsichdabeidenFußkno-
chen gebrochen, der ihrem Buch den Titel
geben sollte und wurde von Julien auf-
gelesen, einem Mann, der selbst auf der
Flucht war. Flucht- und Liebesgeschichte
sind so von Anfang an ineinander verwo-
ben, die beiden Kleinkriminellen erinnern
in Charme, Eros und Witz an Jean Seberg
und Belmondo in „À bout de souffle“, nur
dass das hier alles tatsächlich durchlebt
war, die Fluchten, die Einbrüche, das Auf-
einanderangewiesensein. Am Ende des
Buchs wartet ein behäbig grinsender Poli-
zistundnimmtsiemit,zurückinsGefäng-
nis, alles auf null. „Der Ausbruch“ erzählte
dann–erstmalsinderGeschichtederLite-
ratur aus Sicht einer Frau – von Gefängnis
und dem seltsamen Zeitempfinden dort
(„Eine leere Minute saugt grenzenlose
Ewigkeiten ein“). Interessanterweise wer-
den beide Bücher aus der Warte einer fest-
gesetzten, zur Passivität verdammten Be-
obachterinerzählt,einmalwegendesBein-
bruchs, das andere Mal aus der Haft her-
aus. Umso erstaunlicher, wie temporeich,
quecksilbrig, kapriolesk Sarrazin erzählt.
Zu guter Letzt nun also „Querwege“, ge-
schrieben 1966. Die Erzählerin wird aus
dem Gefängnis entlassen, steht auf dem
Bahnsteig, „mit dem durchscheinenden
Teint eines Keller-Chicorées“, und sucht
alteFreundeauf.Siesieht,wiedieehemali-
genWeggefährten in Zeitlupe untergehen,
sei es, weil sie in kaputten Beziehungen
feststecken oder – eine Phase weiter – al-
lein mit zwei Kindern dasitzen. Albe weiß,
sowillsienieleben,siewartetaufihrenGe-
liebten, jobbt bei einem Supermarkt und
will schreiben, sonst nichts. „Ich schlief
mitdemHeftalsKopfkissenein,völligaus-
gelaugt,aber denKopfvollerMorgenröte.“
Und so schmilzt sie ihr eigenes Leben in
Texte um, verwandelt Pritschendreck in
GoldundSchönheit,beschreibtdiebehäbi-
gen bürgerlichen Menschen um sich her-
um aus weiter Ferne, mit scharfem Witz.

Als ihr Geliebter freikommt, fangen sie
mühsam an, sich freizustrampeln. Lou
(der in den beiden Vorgängerbänden den
„echten“ Namen Julien trug) „hansdampft
in allen Gassen“, um die Ruine in den Ce-
vennen irgendwie bewohnbar zu machen,
sie selbst schreibt Tag und Nacht. „Die
Schlenderpausen, der schmale Grat der
Zärtlichkeit, die Nachsicht des Glücks sind
uns immer nur für kurze Zeit vergönnt.“
Einer der vielen Sätze, an denen man kurz
innehalten möchte, um Claudia Steinitz
für diese lässige Lyrik en passant aus
wildwuchernden Brombeerranken einen
notdürftigen Kranz zu flechten.
„Querwege“, Traversières, so heißen in
Südfrankreich die Erdstreifen, die man
terrassierte, um dem kargen Boden etwas
abzugewinnen. Sarrazin ist elektrisiert, als
sie das Wort erstmals hört, „Hindernis,
Durchgang, Abkürzung, ein gekreuztes
Wort, das den Wegen meines Lebens
gleicht.“ Auf den Querwegen ihres An-
wesens ist alles verwildert, „man bräuchte
eine Machete, um sich einen Weg durch
das Gewirr aus Dornen, verfilztem Gras
und verdorrten Weinranken zu bahnen.“
Esist unglaublich, was für einenblühen-
den Garten Albertine Sarrazin aus den
kargen,kurzenQuerwegenihresLebensge-
schaffen hat. Ihr drittes Buch wird mit ei-
nem Happy End gekrönt, mündet er doch
in den eigenen Anfang als Autorin ein:
Albe, die wie die echte Albertine keine Kin-
der kriegen kann und von ihren Texten als
ihren Babys spricht, bekommt einen Brief
aus dem fernen Paris: „Ich schließe die
Augen vor den wie Sterne in meine Lider
gravierten Worten: Wir freuen uns, Ihnen
mitzuteilen, dass Ihr Manuskript ange-
nommenwurde. Ein großes Pendel schlägt
in meiner Brust die feierlichen, magischen
Sekunden, jetzt kann es stehen bleiben,
mein Pendel: Mein Kind ist geboren.“
ImechtenLebenhabenJulienundAlber-
tine geheiratet, weil sie merkten, dass das
vermeintlich freie Gangsterleben am Ende
eines der unfreiesten ist: „Die Freiheit ist
vielleicht eine Geschichte aufgesperrter
Türschlösser,vielleichteineGeschichtespi-
ritueller Meisterschaft oder ganz einfach
eineGeschichtevonvielGeld,aberichden-
ke nicht,dasssieeine Geschichtedes Vaga-
bundierens sein kann.“ Albertine Sarrazin
nahm noch den Prix des Quatre-Jurys in
Tunis entgegen, wusste, dass sie in Paris
plötzlich als neue Hoffnung gefeiert wird,
fühlte sich aber im Literaturbetrieb fremd.
Dann starb sie, einfach so. Zurück blieben
Pläne für ein neues Romanprojekt, Tage-
buchaufzeichnungen, Essays, Gedichte,
Chansons. Und Julien, der sie sehr geliebt
haben muss, der ihr ein wunderschönes
Grabmal im Garten baute, ihren Nachlass
verwaltete, und den Anästhesisten, der sie
in den Tod geschludert hat, für zwei Jahre
ins Gefängnis brachte.

Albertine Sarrazin: Querwege.
Aus dem Französischen von
Claudia Steinitz.
Ink Press, Zürich 2019.
228 Seiten, 20 Euro.

Ein „Doppelzüngler“ zu sein, der Verdacht


wiegt schwer im Moskau des Jahres 1937,


und eigentlich genügt auch schon der Ver-


dacht des Verdachts. Hat der oder die An-


geklagte sich abfällig über den Genossen


Stalin geäußert, hat sie oder er „feindliche


Gedanken gehabt, die Sie nicht geäußert


haben“? Im Hotel Metropol, dem Belle


Époque-Gebäude gegenüber dem Bol-


schoi-Theater,hatsichdieParanoiaeinge-


nistet. Hierher hat man vor Kurzem die


deutschen Kommunisten Charlotte und


Wilhelm verbracht, zusammen mit ande-


ren Genossen vom jetzt aufgelösten


„Punkt Zwei“ der OMS, dem Nachrichten-


dienst der Komintern. Die Säuberungen


haben nun auch die Treuesten der Treuen


erreicht, im Frühstückssaal wird es im-


mer leerer, und Charlotte hat allen Grund


zu glauben, dass sie als nächste abgeholt


wird. Die deutsche Genossin Hilde Tal hat


sie denunziert: Charlotte habe, so die


schriftliche Mitteilung, mit ihrem Mann


„bei dem trotzkistischen Banditen EMEL“


verkehrt.


Eugen Ruges „Hotel Metropol“ trägt

nach,wasseinberühmtgewordenerMehr-


generationenroman „In Zeiten des abneh-


menden Lichts“ von 2011 aussparte oder


aussparen musste: Charlotte, seine Groß-


mutter, und Wilhelm, ihr zweiter Mann,


habennachihrerRückkehrausdemmexi-


kanischen Exil in die DDR über die Mos-


kauer Erfahrungen nie gesprochen. Man


weiß,dassdieseErfahrungen dieBetroffe-


nen entweder zu „Renegaten“ haben wer-


den lassen oder dass sie „Loyalisten“ ge-


blieben sind. Charlotte und Wilhelm ha-


ben, wie viele Gläubige der Weltrevoluti-


on, Stalin lebenslang die Treue bewahrt.


Auch CharlottesSohn,Wolfgang Ruge,der


Jahre im Gulag verbrachte und dann einer


der führenden Historiker der DDR wurde,
blieb dem Kommunismus treu, schrieb


dann aber kurz vor seinem Tod, unter-


stützt von seinem Sohn, erstmals offen


über seine Zeit in Stalins „Gelobten Land“.


WirdmandasGeheimnisdieserTreuewo-


möglich aus Charlottes Moskauer Akten


erfahren?


Im „Russischen Staatsarchiv für sozio-

politische Geschichte“ konnte Eugen Ru-


ge vor einigen Jahren die beklemmende


Kaderakte von „Charlotte Germaine“, wie


seineGroßmutterbeiderOMShieß,einse-


hen.Die246SeitenmitBriefen undMittei-


lungen,indenenesvornehmlichumChar-


lottes und Wilhelms Rechtfertigung geht,


bildendasGerüstvonRugesTatsachenro-


man, der sich, um Roman sein zu können,


einige Freiheiten herausnehmen muss.


Real ist das Hotel Metropol, mit seiner

unwahrscheinlichen Mischung von Gäs-


ten,mitdenineinemgespenstischenWar-


testand verharrenden OMS-Kadern, mit


internationalen Stars wie dem Schriftstel-


ler Lion Feuchtwanger, der auf sanften


Druck überStalinsSchauprozesseFreund-


liches schreiben wird, und mit Stützen des
Systems wie Wassili Wassiljewitsch Ul-
rich, dem obersten Militärrichter der
UdSSR, einem mitleidlosen Zyniker, der
Todesurteile wie am Fließband verfasst.
Dieser Ulrich leidet, jedenfalls bei Ru-
ge, an Verdauungsbeschwerden, die ihm
jeden Gerichtstag zur Qual werden lassen.
Das Mittel, mit dem Ruge seine Leser aus
der Kaderaktenwelt in die Fülle der Wirk-
lichkeit hinausführt, ist meist die erlebte
Rede.AufdieseWeiseisteranseinenFigu-
ren so nahe dran, wie es die bloße Auswer-
tung seiner Recherchen niemals ermög-
licht hätte.

Man versteht gut, dass Ruge erfinden
muss, dass er die äußeren Fakten mit ei-
nem selbst nicht dokumentierten inneren
Erleben anreichern möchte. So lässt er et-
wa die Genossin Hilde Tal über ihre Ehe
wiefolgtins Grübelngeraten:„KeineEifer-
sucht,nein,esistetwasanderes.Esistdie-
se, wie soll man es nennen, Verbunden-
heit. Sie hat tatsächlich geglaubt, dass es
Dinge gäbe, die für immer verbinden. Was
wäredas?DieErfahrung,dassmanzuster-
benbereitist.“RugebeherrschtdieseTech-
nik der Einfühlung in die Herzen und Hir-
ne seiner Figuren gut, und wahrscheinlich
ist es auch diese Kunstfertigkeit, die den
Roman so lesbar und packend macht. Na-
türlich ist das, was der Roman sich an lite-
rarischer Gestaltung erlaubt, durch keine
Aktenlage abgesichert.

Recht häufig geht es in „Metropol“ um
Sex, ehelichen und außerehelichen, was
nicht verwundert, wenn man sich Sex als
eineRessourcevorstellt, dieauchinZeiten
der sonstigen Mangelwirtschaft einiger-
maßen ausreichend zur Verfügung steht.
Sogesehen,hat Sexin„Metropol“denRea-
lismus an seiner Seite. Für die psychologi-
schen und politischen Facetten des sozia-
listischen Sexuallebens hat Ruge ein offe-
nes Ohr. Der oberste Richter Ulrich etwa,
den seine Ehefrau nur noch gelegentlich
„ranlässt“ (ein Wort wie aus frühen Arno-
Schmidt-Romanen), sucht und findet Ab-

wechslung bei verzweifelten Ehefrauen
seinerAngeklagten.Charlotte,diezeitwei-
lig Anstellung in der „Verlagsgenossen-
schaft ausländischer Arbeiter“ gefunden
hat, lässt sich auf eine wilde Büro-Affäre
mit ihrem Chef ein, während sie Wilhelm,
dem erotisch erloschenen Ehemann, nur
nochsporadischundaufdessen sanfteBit-
te „Gutes tut“. Dies und vieles andere Pri-
vate wird von Ruge fein beschrieben, hat
einige Wahrscheinlichkeit für sich und
liestsichoftgeradezusüffig.InderKader-
akte steht so etwas natürlich nicht. Was
wüsste man aus ihr über Charlottes Lip-
penstift, über ihre heimlichen Besuche an
der Kuchentheke, und vor allem, über ihre
alltägliche und -nächtliche Angst, als
nächste abgeholt und exekutiert zu wer-
den? Dass Ruge diese extremen Stim-
mungslagenzwischen Lebenslust undTo-
desangstgreifbar, nachvollziehbar macht,
ist seine literarische Leistung. Dass er, in-
dem er aus Charlotte Literatur macht, in
gewisser Weise dem Schweigen seiner
Großmutter untreu wird, ist der Preis, der
bei dem gewählten literarischen Verfah-
ren zu entrichten war.
Viel ist zuletzt geschrieben worden
über Moskau 1937 und den großen Terror.
Sein Buch habe „der Stalinismus-For-
schungnichtshinzuzufügen“,bemerktRu-
ge im „Epilog“ seines Romans, dem viel-
leicht interessantesten Teil seines Buches.
Man kann ihm zustimmen: „Metropol“
fügt weniger der Stalinismus-Forschung
etwas hinzu als der Familiengeschichte
der Ruges. Weder darf man von „Metro-
pol“ erwarten, dass in ihm die unbeirrte
Gefolgschaft seiner Figuren zum Stalinis-
musaufgeklärtwürde,nochfindethierei-
ne first hand-Abrechnungmit Stalins Ter-
ror statt, wie sie literarische Zeitzeugen
von Koestler bis Jiri Weil aufs Eindrucks-
vollste geliefert haben.
Charlotte und Wilhelm, waren, anders
als etwa der „trotzkistische Bandit EMEL“
keine Intellektuellen, keine Ideologen,
sondern eher nur die Sachbearbeiter und
MitläuferderWeltrevolution.AnAbenteu-
ern hat es in ihren Leben weiß Gott nicht
gefehlt, aber man würde gerne noch bes-
ser verstehen, wie es eine ganze Generati-
on von Kommunisten geschafft hat, sich
daseigene DenkenvoneinerParteiverbie-
ten zu lassen, die immer Recht hatte. Tie-
feralsCharlotteundWilhelmimHotelMe-
tropol 1937 kann man nicht in den Mal-
strom des Stalinismus geschaut haben.
Der Schrecken muss so groß gewesen
sein, dass sie ihn fortan aus ihren Leben
verbannten. Statt für „Erinnern, Wieder-
holen, Durcharbeiten“, um Freuds Begrif-
fe zu verwenden, haben sich die Beiden
verständlicherweise für die Verdrängung
entschieden.Abervon diesemNichterzäh-
lenwollen kann auch der beste Erzähler
schwer erzählen.
christo ph bartmann

Der Anfangssatz, ein Schock: „Ich habe
ihn selbsthereingelassen.“ Das Kopfkino
springt an, obwohl noch gar nichts von
dem gewusst ist, was diesem bedrohli-
chen Einstieg folgen könnte. Auch der
Schlusssatz des fett-, kitsch- und gefüh-
ligkeitsfreien schmalen Romans von Me-
retheLindstrøm,die1963inBergengebo-
ren wurde, Sängerin einer Rockband war
und seit 1983 Erzählungen und Romane
schreibt, hat diese absolute Härte: „Ich
habe ihn nie wieder gesehen.“
„Tage in der Geschichte der Stille“
(überzeugend ins Deutsche gebracht von
Elke Ranzinger) ist die Geschichte eines
alt gewordenen Ehepaars, bei dem sich
der Mann Simon ins Schweigen zurück-
zieht. Seine Frau, die Ich-Erzählerin be-
ginntnuninihrerzunehmendstillerwer-
denden Welt Spuren in die Erinnerung
aufzunehmen. Wie war diese Liebesge-
schichte mit Simon, wie jener fast tödli-
che Schrecken, als der Eindringling, dem
sie selbst die Tür geöffnet hatte, plötzlich
inderWohnungstand.Weshalbbrachdie
sich bis zur Vertrautheit erwärmende Be-
ziehung zur Haushaltshilfe Marija plötz-
lich ab? Während die beiden Töchter un-
gehalten sind, dass die Alten Marija weg-
geschickt haben, denkt sie auch über je-
nenJungennach,densieals17-jährigebe-
kam und schon nach einem halben Jahr
zur Adoption freigab. Eine Tat, die bei Si-
mon,dereinstFamilienmitgliederinThe-
resienstadt verloren hat, dann tiefes Un-
verständnis hervorrief, als er noch nicht
anhaltend schwieg.
So behutsam wie unausweichlich wird
in all diesen Suchbewegungen, in den
Selbstbefragungen und manchmal ruck-
artig einsetzenden Klärungen die innere
Verschiedenheit der beiden deutlich: Si-
mons Weg ins Schweigen und ihre Versu-
che,daszubegreifen.LindstrømsErzähl-
stil bleibt dabei von einer Konzentration
des Unmerklichen beherrscht, die einen
staunen lässt über so viel schriftstelleri-
sche Disziplin. Gerade die Sparsamkeit
und Gefasstheit in Ton und Duktus lockt
insInnerediesersobitterenwiespannen-
den Geschichte einer Entfremdung.
har ald eggebrecht

Merethe Lindstrøm: Tage in der Geschichte der
Stille. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzin-
ger. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 222 Sei-
ten, 22 Euro.

Die Farbe des Lippenstifts


EugenRuge dramatisiert die Lücken in seiner Familiengeschichte


Eugen Ruge: Metropol.
Roman. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2019.
432 Seiten, 24 Euro.

Bitternis


und Spannung


Merethe Lindstrøms Roman


„Tage in der Geschichte der Stille“


Außer Atem


Albertine Sarrazin führte ein


wildes, kurzes, tragisches Leben.


So liest sich auch ihre Prosa


Vielleicht war das Gefängnis


ihr Glück, schließlich


fing sie dort an zu schreiben


Die Figuren sind keine
Intellektuellen, eher Mitläufer

der Weltrevolution


DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 – SZ SPEZIAL LITERATUR BELLETRISTIK V2 7


«Eine glänzend geschriebene


Abenteuergeschichte, die einen


starken Sog entwickelt.»


Die Zeit


«Der kritische, mündige


Whistleblower. Was könnte


aktueller sein?» Frankfurter


Allgemeine Sonntagszeitung


«Kopetzkys Roman gehört zum


Eindringlichsten, was in Deutschland


über das Wesen des Krieges


geschrieben wurde.» Stern


«Ein meisterhaft konstruiertes


historisches Panorama.»


Der Tagesspiegel


«Ein wahrhaft großer amerikanischer


Roman. Ein kluges, spannendes,


unterhaltendes Buch, das den Leser


lange nicht loslässt. Brillant.»


Frankfurter Rundschau


rowohlt.de/kopetzky


© Enno Kapitza
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