Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
von birthe mühlho f f

W

as wohl nur den wenigsten
Debütromanen widerfährt:
Einen Monat bevor „Taxi“
von Cemile Sahin über-
haupt erschien, schrieb be-

reits dieFrankfurter Allgemeine Sonntags-


zeitung,dasssiedasBuch aufderdiesjähri-


gen Longlist des Deutschen Buchpreises


vermisse. Was noch weniger Debütroma-
nen gelingt: Ein ernstes Thema derart lus-
tig ad absurdum zu führen, dass Ernsthaf-
tigkeit dabei herauskommt.
Polat ist ein 35-jähriger alleinstehender
Mann. Seine Eltern sind wahrscheinlich
tot, sie wurden eines Tages in einem LKW
abtransportiert.Es war Krieg,ein Konflikt,
der nicht weiter beschrieben wird, wie
auch die Stadt, in welcher die Geschichte

spielt, keinen Namen hat, jedenfalls aber
in einem Land liegt, in dem man Ayran
trinkt.AußerdemistPolatnichtseinrichti-
ger Name.
Der echte Polat ging im Krieg verschol-
len, soll als Soldat von einer Bombe getrof-
fenwordensein,undweilmankeinesterb-
lichen Überreste fand, beerdigte man ei-
nenleerenSarg.Seine Mutterkam nie dar-
überhinweg.Deshalbhatsiesich,zehnJah-
re nach dem Verschwinden ihres Sohnes,
auf die Suche nach einem neuen Polat ge-
macht und den Kandidaten lange heimlich
observiert. Sie hat eine durchaus passende
Wahl getroffen.
Etwas hilflos wirkt er – seine geräumige
Wohnungistkaummöbliert,einSesselbe-
findet sich darin, dazu ein Fernseher. Weil
er immer vergisst, Kaffee zu kaufen, trinkt
erTee.Hilflosaufeinerexistenziellen Ebe-
ne, aber nicht unbeholfen. Er arbeitet als
Immobilienmakler,fährteinAutomitwei-
ßen Ledersitzen. In ihm wühlt ein Gefühl
der Überlegenheit, ein richtungsloser Wil-

le zur Macht, und das schon seit er als Kind
beim Prügeln einem anderen Jungen mit
einemStockeinAugeausstach,nichtgera-
deabsichtlich,aber dochohne eszu bereu-
en.
Möglicherweise ist es aber eher ein Wil-
le zum Wasgemachthaben. Zum Nichtver-
gessenwerden. Er ist die perfekte Beset-
zung für eine Hauptrolle in einem Skript,
das sich jemand anderes für ihn ausdenkt.
An ihrem Skript hat Rosa Kaplan die letz-
ten zehn Jahre lang geschrieben. Entstan-
den ist eine Serie in zwei Staffeln, in Episo-
den unterteilt, „Taxi“ lautet der Titel. Die
Wiederkehr von Polat, die Heimkehr des
verlorenen Sohnes, das ist die in der Theo-
riesoeinfachewieinderPraxiskomplizier-
teHandlungihrerSerie.Rosaisteinerund-
liche kleine Frau, genauso fürsorglich wie
manipulativ. Ihre Erwartungen überstei-
genihretrostloseWirklichkeitumeinViel-
faches, fast bis ins Wahnhafte hinein. (Be-
zeichnenderweise ist Rot Rosas Lieblings-
farbe.) Um Polat dem echten Polat ähnli-
cher zu machen, schlägt sie ihm kurzer-
hand mit einem Baseballschläger die Nase
ein.Keine derFiguren in diesem Romanist
wirklich sympathisch.
Die Absurdität, dass sich jemand ein
Skript zu einer Vorabendserie ausdenkt,
dieses dannindieTatumsetzt(eineKame-
ra braucht man dafür nicht) und dass der
sogenannte Polat sich auch noch darauf
einlässt – das alles nimmt man der jungen
Autorin Cemile Sahin tatsächlich ab. Dass
es hier weniger um Realismus geht als um
RealityTVgonemad,istnämlichüberdeut-
lich.
Der Roman flirtet mit der eigenen Tra-
shigkeit. Genauso selbstverständlich wie
selbstironisch steht das Selbstlob in jeder
Kapitel- bzw. Episodenüberschrift: „the
best TV series of all time“, „starring Rosa &
Polat Kaplan“. Die Sprache ist ungeschlif-
fen, schlicht. Sehr direkt. Manche Schilde-
rungen von Polat, der die Vergangenheit
als Ich-Erzähler vor seinem inneren Auge
passieren lässt, sindsprachlich spröde,ge-
radezunaiv.AberesistdiebrutaleSimplizi-
tät eines Zynikers: „Mein Charme ist groß
und wenn ich will, dass ich nicht bestraft
werde, dann werde ich nicht bestraft. Mit
dem Polizisten war es genauso. Ich bemer-
ke, dass mich Männer mehr mögen als
Frauen. Aber ich mag beide nicht.“
Die Story, die Rosa sich in den Kopf ge-
setzt hat, führt zu diversen furchtbaren,
aberauchzuurkomischenSituationen.Zu-
nächst ist da das Problem, wie die Nach-
barn aus dem Häuserblock überhaupt von
der Wiederauferstehung Polats erfahren
sollen. „Ich habe genug gewartet. Wir neh-
men die Dinge einfach selber in die Hand.
Anstatt auf diese verpennten Nachbarn zu
warten, wie es im Skript steht, wecken wir
sie alle auf! Ich kann auch nichts dafür,
dass sie ihre eigenen Auftritte verpennen.
Aber wenn wir mit Frau Batic anfangen,
weiß sowieso die ganze Straße, was pas-
siert ist.“ Die Offenbarung ist mit viel Kör-
pereinsatz verbunden, inklusive gespiel-
ter Ohnmacht im Treppenhaus. „Mutter
schnauft und Frau Batic schnauft nicht.
Auf der Rückseite ihres T-Shirts strahlt
mir in glitzernden Buchstaben QUE PASA
entgegen. Das irritiert mich. Ist das echt?
Meinen wir alle dasselbe? Mutter zeigt mit
dem Finger auf mich, immer noch lie-
gend.“ Die spontan eingeladenen Nachba-

rinnen fallen ebenfalls in Ohnmacht und
schöpfen dann selbst Hoffnung: Vielleicht
hat auch mein Sohn den Krieg überlebt?
Wie bei Wundern kaum verwunderlich
kippt die gepimpte Hoffnung schließlich
in Missgunst um. Wenn mein Sohn nicht
mehr lebt, warum dann ausgerechnet dei-
ner?
Für den neuen Polat ist das alles schwer
verwirrend, zumal da auch noch die schö-
neEsraist,dieehemaligeVerlobtedesech-
ten Polat, die ihm um den Hals fällt. Er
schlägt sich indes tapfer, will Frau Kaplan
nicht enttäuschen. Zudem genießt er, wie
sie ihn umsorgt. Einmal erschrickt er sich,
wobei ihm beinah ein Teller aus der Hand
fällt. „Dann lasse ich ihn aus Absicht fal-
len, damit es dramatisch wirkt.“
Vor allem steht er – zum Leidwesen sei-
ner Wahlmutter, die diese Rolle eigentlich
für sich vorgesehen hatte – im Zentrum
der Aufmerksamkeit. Er ist der junge, tap-
fere Held, der sich leider Gottes an nichts
aus seiner Kindheit mehr erinnern kann,
dabei seufzt er tief oder bricht in Tränen
aus oder spielt eine Panikattacke und ver-
steckt sich hinter einer Hecke.
Wer ist Täter, wer Opfer? Was ist Lüge,
was Selbsttäuschung? Ein Krieg verwischt
die Kategorien. Wie verhalten sich die
GrenzenmeinerExistenzzumLebenande-
rer?VielleichtbeziehtsichderTiteldesRo-
mans genau auf diese Frage. Er spielt mit
der Möglichkeit – oder Unmöglichkeit –,
ins Leben eines anderen Menschen wie in
einTaxieinzusteigenundgleichsameinLe-
ben auf dem Beifahrer- oder Rücksitz zu
führen. Das Taxi ist ein Zustand, ein Über-
gang, dem alles „Eigene“ für die Dauer der
Fahrtabgeht, bisman irgendwo ankommt,
aussteigt – und immer noch derselbe ist.
„Das nennt man Folter oder Gerechtig-
keit“:wie einRefraintauchtdieserSatzim-
mer wieder auf.
Cemile Sahin wurde 1990 in Wiesbaden
geboren. Ihre Eltern, denen derRoman ge-
widmet ist, sind Kurden, die kurz vor Sa-
hins Geburt nach Deutschland kamen. Sa-
hin studierte Kunst in London und Berlin,
wo sie auch lebt. Gleich zwei der wichtigs-
ten Nachwuchsauszeichnungen hat sie in
diesem Jahr erhalten, den Ars Viva Preis
und das Berlin-Stipendium der Akademie
derKünste. ZurzeitarbeitetsieaneinerMi-
niserie mit dem Titel „Center Shift“, des-
sen erste, fünfzehnminütige Folge man im
Internet ansehen kann. Auch hier bleiben
Menschen und Orte namenlos, erzählen
ausunterschiedlichenPerspektivenvonei-
nem Todesfall mit Fremdeinwirkung. An-
ders als der Roman, der sich schnell und
bei allem Ernst sehr humorvoll liest, bleibt
es bei der Videoarbeit erst einmal rätsel-
haft, worum genau es geht.
„Taxi“ ist ein doppeltes Debüt, weil es
nicht nur Sahins erstes Buch ist, sondern
auch der erste klassische Roman des 2015
gegründeten Korbinian Verlags. Bislang
veröffentlichte dieser neben der Zeit-
schrift „Das Wetter“ zehn Bände, die sich
eher als experimentelle Manifeste lesen.
VieleDebüts erliegenderFehlannahme,
sie müssten, um ernst genommen zu wer-
den, Feinfühligkeit mit größtmöglicher
Sprachgewalt zum Ausdruck bringen, was
selten klappt. „Taxi“ ist anders. „Taxi“ ist
tatsächlich genauso wie dieser Titel: ir-
gendwas zwischen trashig, nachdenklich,
absurd, politisch und ziemlich cool.

Ist das echt?


In Cemile Sahins Roman „Taxi“


inszeniert eine Mutter


die Auferstehung ihres Sohnes


Cemile Sahin: TAXI. Roman.
Korbinian Verlag, Berlin 2019.
220 Seiten, 20 Euro.

Markus Karsten ist Verleger in Frankfurt. Sein Verlag Westend wurde
2004 zudem Zweck gegründet, ein einziges Buch zu veröffentlichen:
Andreas Schlumbergers „50 einfache Dinge, die Sie tun können,
um die Welt zu retten“. Das Buch wurde sofort ein Bestseller.
Heute erscheinen bei Westend Krimis und Sachbücher über Politik,
Umwelt und Elitenforschung. Karsten hat sich in der Kleinmarkthalle
in der Frankfurter Altstadt fotografieren lassen.

DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 – SZ SPEZIAL LITERATUR BELLETRISTIK V2 9


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