Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
nico bleutg e

W

er sich mit diesem Dichter
aufdieReisedurchdasGe-
dicht macht, der entdeckt
keine idyllischen Bilder,
sondernalldieAmbivalen-

zen und Widersprüche, die das menschli-


che Wahrnehmen und Denken durchzie-


hen. Dichtung ist hier bisweilen wie ein


schmutzigerLumpen,„nutzlos“.Dannwie-


der die größte Gabe, aber keine Gabe der


Inspiration oder der Schönheit, vielmehr


etwas, das einer „Krankheit“ ähnelt, das


mitunter an Besessenheit grenzt.


Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki ist eine

der bekanntesten und eigentümlichsten


StimmenderpolnischenGegenwartsdich-


tung. Wenn er seine Verse vorträgt, mal


flüsternd, mal hauchend, vermischt er die


Sagweisen und Töne immer wieder. Mit


großer Lust zapft er die alten Ekstasespei-


cher der Dichtung an. Die Vorstellung,


dass die dichterische Sprache die Vergan-


genheit und den Tod zu beschwören und


zugleich zu bannen vermag. Den Glauben


zudem, diePoesie könnedirektenEinfluss


auf die Kräfte der Welt nehmen.


Geboren wurde er 1962 in dem kleinen

Ort Wólka Krowicka, an der Grenze Polens


zur Ukraine. Ein Gebiet, in dem sich zahl-


reiche historische Schich-


ten überlagern. In der ers-


tenHälftedes20.Jahrhun-


derts war diese Gegend


den Konflikten zwischen


Polen, Russland und der


nachUnabhängigkeitstre-


benden Ukraine ausge-


setzt.ZweiWeltkriege lang


durchlebte die polnisch-


ukrainische Bevölkerung


alle nur erdenklichen


Schrecklichkeiten. Ermor-


dungen auf beiden Seiten,


Verschleppung in die so-


wjetischen Lager, die


Kämpfe zwischen deut-


scherundsowjetischerAr-


mee.GegenEndedesZwei-


ten Weltkrieges Massaker


anderpolnischenBevölke-


rung,dievonukrainischen


Nationalisten verübt wur-


den, nach dem Krieg


Zwangsumsiedlungen


und Vertreibungen. Saubere Trennungen,


wie man sie in der Alltagssprache so gern


benutzt, unterläuft Dycki mit jedem Wort.


Seine Welt sind die Zwischenzonen, die


Überlagerungszustände,immerwiederhe-


belt er gesellschaftlich festgeschriebene


Normenaus.SeiesdieAusgrenzungdurch


soziale Gruppen, sei es das Aushalten his-


torischer Brüche oder das Trauma einer


zerrissenen Familie – nichts ist fest in den


Gedichten,unddiesegrundsätzlicheUnge-


wissheitzeigtsich malals Schwanken,mal


als emphatische Schwebe.


Der Herausgeber Michael Zgodzay, der

2015 schon den Auswahlband „Tumor lin-


guae“ besorgthat, konntefürdiese Ausga-


be auf Gedichte aus Dyckis früheren Bän-


den und auf neue Gedichte zurückgreifen.


Mit genauem Blick und Ohr hat er den


Band nach Motiven und Tönen kompo-


niert. Zusammen mit der Dichterin Uljana


Wolf hat er klangstarke Entsprechungen


für Dyckis dunkel schimmernde Sprache


gefunden. Wo sich einer der vielen ver-


steckten Reime nicht direkt nachbilden


lässt, verschieben ihn die beiden in der


Übersetzung an eine andere Stelle. Selbst


kleinste Wortverwandlungen (ein einziger


Buchstabe genügt hier, um aus dem


„schreien“ein„schreiben“zumachen)ho-


len sie ein.


Vorallemaberkommtdiesmaldie eige-
ne Familiengeschichte in den Blick, das
Schicksal von Dyckis Mutter und seine
Kindheit.
Die Mutter war eine Außenseiterin im
Dorf,littanSchizophrenieundwardemAl-
kohol verfallen: „es ist allseits bekannt
dass / mutter essig trank wenn der // fusel
alle war wie konnte ich da / eine holde
kindheit haben“. Dyckis Vater, der sich auf
diepolnischeSeite geschlagen hatte, schi-
kanierteseineFrau,verbotihrsogar,ukra-
inischzusprechen.Erstspäthabeererfah-
ren,erwähntDyckiineinemkleinenNach-
wort, dass die Gründe für die Ausgren-
zung viel weiter zurückreichten. Im Zwei-
ten Weltkrieg hatte der Vater der Mutter,
sein Großvater, sich dem nationalisti-
schen ukrainischen Untergrund ange-
schlossen und in seiner Gegend mehrere
Verbrechen an Polen begangen. „Axt-
mann“ nannte man ihn im Dorf.
Die historischen Schichten sind bei Dy-
cki immer auch Sprachschichten. Noch
alsJugendlicherhater vorwiegend chach-
lackisch gesprochen, einen Dialekt oder
Ethnolekt dieser Gegend, mit ukraini-
schen, polnischen, russischen und bela-
russischen Einflüssen. Das Chachlacki-
schejedochwurdeunterdrückt,weilesda-
mals im Sinne nationalistischer Ideologie
immer um Sprachrein-
heit ging. Zur Sprache als
allgemeinem Macht- und
Ausgrenzungsinstrument
kommt Dyckis persönli-
che Sprachgeschichte.
Der Vers „mein zuhause
ist an mutters seite“ steht
gleichwertig neben dem
Vers„meinzuhauseistdie
polnische sprache“. Eine
mehrfachparadoxeSitua-
tion.
Sich zur Mutter zu be-
kennen, heißt, sich mit
dem ukrainischen Ande-
ren zu identifizieren, das
vompolnischenNationali-
tätsdiskurs in Gestalt des
polonisierten Vaters un-
terdrückt wird, zugleich
aber mit der nationalisti-
schen ukrainischen Ver-
gangenheit des Großva-
ters konfrontiert zu sein.
Und das Polnische zu bejahen, meint, die
Sprache der Unterdrückung anzuneh-
men, zugleich den verhassten Vater nicht
loszuwerden.
Täter- und Opferrollen überlagern sich
hier permanent. So nimmt es kein Wun-
der, dass Dycki kleine Wörter aus dem
Chachlackischen in seine Gedichte ein-
speist.VordemHintergrundderGeschich-
te sind diese Einsprengsel keine idylli-
schenReminiszenzenandieKindheit,son-
dern gleichsam die Partisanen der Dich-
tung,diealleVorstellungenvonEindeutig-
keit, von Ab- und Ausgrenzung immer
schon unterlaufen.
Überhaupt wirkt in diesen Versen
nichtsausgestelltoder gardidaktisch.Dy-
cki senkt alles in die Struktur der Gedich-
te ein und erzeugt so einen litaneihaften
Sog. „das wesen der poesie ist nicht ihr
sinn“, heißt es einmal, „sondern das sinn-
lose wiederholen und erinnern“. Und ge-
nau das macht Dycki. Er bewahrt die Na-
men und verwandelt sie zugleich über ge-
schickt eingesetzte Wiederholungen und
Variationen, erinnert an die Verdrängung
derVergangenheit,indemerihreMomen-
te über Zeilensprünge bricht. Auf dass die
Paradoxie von Sinn und Sinnlosigkeit im-
mer wieder hörbar werde: „poesie / muss
ordentlich knallen / muss gefallen“.

Poesie muss


knallen


Gedichtevon Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki


in einem Auswahlband


Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki:
Norwids Geliebte. Gedichte.
Polnisch/Deutsch, übersetzt
von Michael Zgodzay
und Uljana Wolf.
Edition Korrespondenzen,
Wien 2019,
224 Seiten, 20 Euro.

Kann das gutgehen, aus einem Mythos ei-


nen Roman zu machen? Der Mythos reicht


in älteste Zeiten zurück, sein Personal be-


steht aus Göttern und Heroen; sie handeln


und sprechen nach Gesetzen, die mit dem


bürgerlichen Zeitalter, als dessen charak-


teristisches Produkt der Roman gelten


darf, wenig oder nichts zu tun haben. Sei-


ne typische Gestalt hat der Mythos im epi-


schen Gedicht gefunden, einer Form, die


am Anfang der Literatur steht und sich


vomGesang,der Musik noch nicht mit Be-


stimmtheitabgelösthat.Undnunvollends


der Mythos von Kirke, der göttlichen Hexe


auf der Insel Aiaia, die mit ihrem Zauber-


stab Männer in Schweine verwandelt und


sich in einer für beide Seiten gefährlichen


Liebschaft mit dem weitgereisten Dulder


und Trickster Odysseus verbindet: Heißt


nicht,diesenStoffnocheinmalzubearbei-


ten, mit dem fast dreitausend Jahre alten


Klassiker Homer in eine hoffnungslose


Konkurrenz zu treten?


Erstaunlicherweise lautet die Antwort,

die man nach der Lektüre von Madeline


Millers Buch geben muss: ja, es kann gut-


gehen; und nein, die Konkurrenz ist mit-


nichten hoffnungslos. Das liegt zunächst


an der Wesensart des Mythos überhaupt,


der ja keine heilige Schrift darstellt wie Bi-
bel oder Koran, welche ein für allemal auf
einen bestimmten Wortlaut festgelegt
sind. Der Mythos, wie der Witz, bleibt im-
mer ein Stoff, der seine Form, sein Leben
jeweils erst im Mund des Erzählers findet;
und dass Homer es auch schon gemacht
hat, braucht niemanden abzuschrecken.
Mythos realisiert sich als Dichtung, nicht
als Sakralobjekt, er ist plastisch und der
unendlichen Erneuerung fähig.
Zum anderen aber hat sich Madeline
Miller,geboren1978,ihresZeichensAltphi-
lologin und Lehrerin für Latein und Grie-
chisch in Cambridge, genau überlegt, was
sietut.SiehatdieLückenabgetastet,dieje-
der altgestaltete Mythos in seiner relati-
ven Kürze aufweist. Im Mythos versteht
sich immer alles von selbst; darin bezeugt
er seine Nähe zum frühkindlichen Den-
ken, denn auch Kinder nehmen ja fraglos
hin, was sich ihrer ersten Erfahrung dar-
bietet, mag es einem Erwachsenen auch
noch so verquer vorkommen. Dem Verfas-
ser der Odyssee fällt es nicht ein zu fragen,
warumdieTochterdesSonnengotteswelt-
abgeschieden auf einer einsamen Insel
weilt oder warum sie ihre Verschweinun-
gen offenbar gewohnheitsmäßig betreibt.

Weshalb ist das so? Das stellt eine mo-
derne, eine psychologische, eine histori-
sche Frage dar – keine, die am Denkhori-
zont des Mythos Sinn hätte. Das heißt
abermitnichten, dasssieüberhauptsinn-
los wäre. Verfehlt wäre es freilich, all den
Gottheiten, Nymphen und Helden eine
Mentalität wie unsere heutige unterzu-
schieben; dann würde der Mythos in sei-
nem alten Glanz zu etwas Entbehrlichem

undreinerFassade. Millerhatdie Lösung
gefunden, die göttlich-mythische Welt
hinüberzuspiegeln in etwas, das hinter
uns liegt, aber eben nur so weit, dass wir
esnoch zuerkennenundzu begreifenver-
mögen: Die Verhältnisse bei Olympiern
undTitanen gleichenbei ihrdenenan Eu-
ropas frühneuzeitlichen Fürstenhöfen.
Ihr Sonnengott, Circes Vater, ist ein Son-
nenkönig, in dessen strahlendem Um-
kreis sich alle Macht personalisiert, der
Reichtum sichtbar glitzert, den Einzel-
nen keine Gewaltenteilung vor Willkür

schützt und ein Überfluss an märchen-
haft grausamen Strafen herrscht.
Zugleich aber werden die Einzelnen in
ihrem Interesse und ihrer Seelenlage
sehr deutlich, und eine subordinierte
TeilnehmerindieserglanzvollenWeltbe-
sitzt hinreichend Perspektive, das Ganze
aus ihrer Sicht darzustellen wie weiland
Lieselotte von der Pfalz am Hof Ludwigs
XIV. Die riskanteste Entscheidung der
Autorinbestand darin,ihre Circe „ich“ sa-
gen zu lassen, und sie zieht es radikal
durch. „Ich bin Circe“, lautet der Titel des
Buchs. Dieses Ich verneint die überkom-
mene Bewusstlosigkeit des Mythos, mit
ihm blickt das Licht der Aufklärung in
die archaische Dämonie hinein.
Miller beschränkt sich, was ihre Quel-
len betrifft, nicht auf die Odyssee, sie
zieht zahlreiche kleinere Erzählungen
heran, von denen etliche ihren Platz in
den Metamorphosen des Ovid gefunden
haben, die Verwandlungen des Glaucus,
der Scylla usw.; vorsichtig ergänzt sie es,
wo es ihr nötig scheint, um die eigene Er-
findung. Aus all dem erstellt sie eine
durchgehende Biografie ihrer Heldin
und damit etwas, das der episodisch ver-
fahrende Mythos weder kann noch will.

Circe ist wie gesagt die Tochter des Son-
nengottes, eines aufbrausenden Patriar-
chen; ihre Mutter Perse, sonst eine wenig
ausgearbeitete Figur, wird zu einer intri-
ganten, kaltherzigen Aristokratin – einer
der besten Charaktere des Romans. Cir-
ce, mit einer blechern menschlichen
Stimmebegabt, mussden Spottihrer Ver-
wandtschaft erdulden (wie bei Hofe üb-
lich, sind natürlich alle mit allen ver-
wandt) und verscherzt sich schließlich
durch ihre Widerrede das Bleiberecht in
der aus Obsidian erbauten Burg der Tita-
nen; sie wird nach Aiaia verbannt. Da er-
fahren wir endlich den Grund für ihr Do-
mizil: eine Strafe ist es, verhängt nicht
über eine große Göttin, wie sie bei Homer
erschien, sondern eine ganz kleine,
kaumhöherstehendinderHierarchie als
das Gewusel der Nymphen, die ihre Tage
damit verbringen, vor ihren zudringli-
chen Lovern davonzulaufen, und zum
Schluss immer eingefangen werden.
burkhar d müller

Madeline Miller:Ich bin Circe. Roman. Aus dem
Englischen von Frauke Brodd. Eisele Verlag, Mün-
chen 2019. 528 Seiten, 24 Euro.

Wirkt Kunst ansteckend? Kann man sich
an ihrden Tod holen? In Christiane Neu-
deckers Roman „Der Gott der Stadt“
scheint das Dämonische eines Werks auf
den Künstler überzugreifen. Fünf Regie-
studenten im Berlin der Neunzigerjahre
treibtdieFrageum,wiemanwohldasGe-
nie in sich weckt. Als Projektionsfläche
dient ihnen der expressionistische Dich-
ter Georg Heym, dessen Faust-Fragment
aus dem Jahr 1911 sie auf die Bühne brin-
gen sollen. Das ist die Aufgabenstellung
fürihrerstesSemester,andessenEndeei-
ne Leiche an einem Strick von der Decke
der Studiobühne baumelt.
Der Romanbeginnt mitzwei Todesfäl-
len, deren enge Verbindung nach und
nach aufgedeckt wird. Da ist nicht nur
der Tote im Zuschauerraum. Auch der
Tod des Dichters Georg Heym war tra-
gisch: Seine Skizze für eine Bühnenfas-
sungdes„Faust“schrieberwenigeMona-
te, bevor er im Januar 1912 beim Schlitt-
schuhlaufen in der Havel ertrank. Ob-
wohl er nur 24 Jahre alt wurde, gilt er als
einer der wichtigsten Lyriker des literari-
schen Expressionismus. Ein Genie eben.

Die Hauptfigur im dritten Roman der
197e geborenen Schriftstellerin Christia-
ne Neudecker, ist die Regiestudentin Ka-
tharina Nachtrab. Die junge Frau be-
ginnt, zusammen mit vier Kommilito-
nen, an einer renommierten Regieschule
im wiedervereinigten Berlin zu studie-
ren. „Der Gott der Stadt“ ist – und hier
liegt erzählerisch seine größte Stärke –
ein Hauptstadt-Roman der jungen Post-
Wendezeit.Erzeigtdiezerrisseneundzu-
sammengeklebte Stadt als Labyrinth,
durch das sich die Protagonistin kämpft.
Aus der bayerischen Provinz kommend
gerätKatharinaimmerwiederinSituatio-
nen, in denen sie sich als Wessi empfin-
det, einen Teil ihrer Identität spürt, über
den sie bislang nie nachdenken musste.
Neudecker, gebürtige Fränkin, die
selbst Ende der Neunziger an der Schau-
spielschule Ernst Busch in Berlin Regie
studierte, arbeitet im Roman stark auto-
biografisch und inszeniert eine fließende
Grenze zwischen Biografie und Fiktion.
AnebendieserGrenzebewegtsichdietra-
gende Frage des Romans, die die fünf
Jungregisseure umkreisen: „Wie kann
man (...) zum Genie werden?“ Gehört das
GenialezurVeranlagung,kannmaneser-
lernenoderentstehteserstdurcheinebe-
sonders schwierige Biografie? Georg
Heymhatteeine solche, stelltdie Erzähle-
rin fest: „Ihn verstand niemand. (...) Das
machte ihn fremd. Hinzu kam, dass er
nicht blieb, nirgends. Er wechselte von
Schule zu Schule zu Schule. Im Vergleich
zu mir stünde es für Heym 1:0.“
So naiv dieser Vergleich aus Kathari-
nas Mund, so stringent zieht sich Heyms
Geschichte als Ebene der Selbst- und
Fremdprojektion durch den Roman. Die
Lehrer weisen die angehenden Regisseu-
rean,dieeigenenDämonenkennenzuler-
nen, sie sollen „das Teuflische ergrün-
den“. Ein kitschiges Bild vom Künstler
wird an dieser Schule heraufbeschworen
und den Erstsemestern eingetrichtert:
DerBerufdes Regisseurs, erklärt der ver-
götterte Lehrer Brandner, ist „nicht ein-
fachirgendeine Arbeit“,sondern„eineBe-
rufung, die nur von wahrhaft Berufenen
ausgeführt werden kann“.

Mehr Pathos, mehr Geniekult geht
nicht. Und manchmal ist es beim Lesen
kaum erträglich, dass die Protagonistin
in ihrer Naivität dieses Narrativ nicht we-
nigstens einmal in Frage stellt. Stattdes-
sen tun sie und ihre Mitstudenten alles
dafür, sich vom Wahn des Genies ergrei-
fenzulassen:dereinemitDrogen,deran-
dere, indem er sich Satanisten an-
schließt,und Katharina, indem sie sich in
die Recherche nach der Bedeutung von
Heyms kryptischem Faust-Text stürzt.
Sie wollen Heym nah sein. Sich in sein
Werk versenken, um es zu verstehen.
Es scheint nur subtil auf, aber Neude-
ckers Roman kommentiert in dieser Ver-
klärung des Genialischen und der Identi-
fikation von Künstler und Werk auch ein
PhänomenunsererZeit:denübervorsich-
tigen Umgang mit Kunst, als sei diese
hochansteckend.NichtnuranUS-Univer-
sitäten rufen Studierende nach Trigger-
warnungen, die sie vor dem unmittelba-
ren Zugriff allzu expliziter Werke schüt-
zen sollen. Etwa vor OvidsMetamorpho-
sen. Die Tate Modern in London warnte
jüngst in einer Ausstellung über den Ex-
pressionismus der Weimarer Republik,
einige der Werke könnten Betrachter er-
schüttern. Als wäre dies ein Sonderfall.
„Der Gott der Stadt“ erzählt davon, was
es heißt, mit einem Werk verschmelzen
zu wollen. Und entlarvt diesen Wunsch
als ebenso naiv wie die Angst vor Anste-
ckung.Kunstverlangtbeides: dasVersen-
ken und das Begreifen. karin janker

Olympier und Titanen bei Hofe


Dieamerikanische Altphilologin Madeline Miller verleiht Kirke, der Tochter des Sonnengottes, eine eigene Subjektivität


Georg Heym


als Idol


Christine Neudeckers dritter


Roman „Der Gott der Stadt“


Christiane Neudecker:
Der Gottder Stadt.
Roman. Luchterhand
Verlag, München 2019.
667 Seiten, 24 Euro.

Die Quellen des Romans


stammen aus der „Odyssee“ und


Ovids „Metamorphosen“


Nur subtil wird auch der
übervorsichtige Umgang mit

Kunst kommentiert


Julia Giordano ist die Pressechefin des S. Fischer Verlages. Als solche
kennt sienicht nur die Bücher ihres Programms sehr genau, sie weiß
auch, welches Buch in welchem Medium vorkommen sollte, damit seine
idealen Leser davon erfahren. Außerdem begleitet sie Autoren auf
Lesungen und Veranstaltungen und ist – wie ihre Kolleginnen und
Kollegen in den Öffentlichkeitsabteilungen aller Verlage – eine große
Vermittlerin zwischen der Literatur und ihren Lesern. Auf dem Dach
des S. Fischer Verlags hat sie beim Lesen die Skyline im Blick.

10 V2 LITERATUR BELLETRISTIK SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH

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