Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
von jens bisky

J

eder kennt Sally Bowles aus dem
Film „Cabaret“. Liza Minelli hat die
kessegozentrische Schauspielerin,
die im Berlin der frühenDreißiger-
jahre ihren Weg durchs Leben
sucht, so berühmt gemacht, dass sie seit-
dem die anderen Figuren aus Christopher
Isherwoods „Leb wohl, Berlin“ verschat-
tet. Sie wieder ans Licht zu holen und die
Geschichten aus der freizügigen, verrück-
ten Stadt am Vorabend ihrer Selbstzerstö-
rung neu zu intonieren, Isherwoods Text
jenseits von „Cabaret“ zu seinem Recht zu
verhelfen, ist das Ziel eines Hörspiels des
Hessischen Rundfunks. Das Ergebnis ist
auf beglückende Art ernüchternd.
Der 1939 auf Englisch erschienene Ro-
man umfasst sechs lose miteinander ver-
knüpfte Teile: „Ein Berliner Tagebuch
(Herbst 1930)“, „Sally Bowles“, „Auf Rügen
(Sommer 1931)“, „Die Nowaks“, „Die Land-
auers“ und „Ein Berliner Tagebuch (Win-
ter 1932/33). Die beiden mittleren Kapitel
hat Heinz Sommer für die Hörspieladapti-
on gestrichen, dafür die Stadt Berlin und
ihre überforderten Benutzer ins Zentrum
gestellt.
Ein junger Schriftsteller,der sich Chris-
topher Isherwood nennt, kommt an die
Spree, um dort einen Roman zu vollenden.
Er mietet ein Zimmer in der Pension des
Fräulein Schröder, Schöneberg, Nollen-
dorfstraße,underhateinliterarischstren-

ges Programm: „Ich bin eine Kamera mit
offenem Verschluss“ heißt es in der Über-
setzung von Kathrin Passig und Gerhard
Henschel, „ganz passiv, ich nehme auf, ich
denke nicht. Ich nehme den Mann auf, der
sich gegenüberamFensterrasiert,und die
Frau im Kimono, die sich die Haare
wäscht. Eines Tages muss das alles entwi-
ckelt werden, sorgfältig abgezogen, fi-
xiert.“
Der Regisseur Leonhard Koppelmann
hat sich für einen doppelten Anfang ent-
scheiden. Eine Schreibmaschine klappert,
der Erzähler verkündet sein Programm in
Englisch und Deutsch, Musik erklingt, als
gelte es, davonzutanzen aus Raum und
Zeit. Dann hört man Silvestertrubel, Mu-
sikfetzen, Kinder spielen auf dem Hof, ru-
fen: „Mit dem kleinen Hackebeilchen

macht er Schabefleisch aus dir“, ein Frau
keift,siesolltenRuhegeben,eineZeitungs-
schlagzeile wird verlesen. Der Erzähler
charakterisiert das seltsame Viertel „mit
Häusern wie riesige schäbige Geldschrän-
ke,vollgestopftmitdenvergilbtenWertsa-
chen eines bankrotten Mittelstands und
seinen Möbeln aus zweiter Hand“. So ent-
steht Atmosphäre. Die Welt, in der die jun-
gen Leute ihren Aufbruch wagen, hat ei-

nen Bankrott hinter und einen Untergang
vor sich. Eine Hauptattraktion im Pensi-
onszimmer ist ein Fleck auf dem Teppich,
einAndenken,dasderVormieterhinterlas-
sen hat. Er musste „nach seiner Geburts-
tagsfeier brechen“. Und es gibt noch mehr
Flecken, über die Fräulein Schroeder in
nie enden wollendem Wortschwall zu be-
richten weiß.
Dass man beim Hören nicht gleich an
Mascara, „Willkommen, Bienvenue, Wel-
come“, Verruchtheit, nächtliche Eskapa-
den denkt, dass eine Stimmung, eine Le-
bensgefühl neu entsteht, ist vor allem den
Schauspielernzu verdanken.MathieuCar-
rière spricht den Erzähler mit Wärme,
klingtviel wissend, obwohl er doch nur re-
gistrieren will. Dem kontrastiert Christo-
pher Nell als junger Isherwood – naiv,
freundlich, bestimmt. Barbara Philipp als
Fräulein Schroeder spricht ihn auf sehr
verschiedene Weise als „Herrn Issiwu““
an. Daniela Kiefers Fräulein Mayer bringt
einen bayerischen Tonfall ins Spiel, man
glaubt ihre fleischigen Arme zu hören:
„WennDueinenBayernbeleidigst,derver-
gisst dir das nie“.
Und Sally? Sie ist, Verfilmung hin, Kli-
schee her, auch im Roman eine der aufre-
genden, einprägsamsten Figuren. Laura
Maire spielt gekonnt mit dem Schillern-
den im Charakter der Schauspielerin, die
eine Schwäche für Männerbekanntschaf-
ten hat, wenn nur die Männer „furchtbar
reich“ sind. Sie ist begeisternd und absto-

ßend, gierig und verrückt nach Glück. Ob
Bobby, Fritz, Natalia, Bernhard Landauer
oder Herr Landauer – alle Figuren sind so
klar profiliert, scharf gezeichnet, als stün-
denjeder und jedevon ihnen für eineeige-
ne, den anderen unzugängliche Welt. Die
Großstadt erscheint als Bühne, auf der
man sich begegnet, kennenlernt und trotz
allen Bemühens unverstanden auf Nim-
merwiedersehen wieder trennt.

Die besondere Situation, den histori-
schenAugenblickverdeutlichenNachrich-
ten, Schlagzeilen, Sequenzen aus Fritz
Langs „M- Eine Stadt sucht einen Mörder“
oder aus Georg Wilhelm Pabsts Verfil-
mungder„Dreigroschenoper“,Originaltö-
ne, Auszüge aus Reden, etwa des preußi-
schen Ministerpräsidenten Otto Braun
oder des Joseph Goebbels.
Eine weitere Bedeutungsebene stiftet
die Musik von Jörg Achim Kellers, die mal
illustriert, mal Assoziationen aufruft,
meist aber das Geschehen kommentiert.
Auf CD 4, die ganz der Musik vorbehalten
ist, kann man die Kompositionen und Ti-
tel, gespielt von der HR-Bigband, nachhö-
ren.EsbeginntmitderWochenschau-Fan-
fare und endet mit einem Drehorgel-Lied.
Als Hitler schon Reichskanzler ist, reist

der junge Schriftsteller ein letztes Mal
nach Berlin, um seine Sachen abzuholen.
Erfährt überPrag,woimLokalvonderJu-
denverfolgung und Konzentrationslagern
gesprochenwird.ZurückinBerlin,siehtIs-
herwood Straßenbahnen die Kleiststraße
hinauf und hinunter fahren, registriert,
dass Fräulein Schroeder viel vom „Füh-
rer“spricht.„All demeignet etwasseltsam
Vertrautes, es ähnelt frappierend einem
normalen, erfreulichen Anblick von einst
–wie eine sehr gute Fotografie. Nein. Auch
jetzt kann ich noch nicht glauben, dass
sich das alles wirklich zugetragen hat ...“.
Dem Hörspiel fehlt das Aufpeitschen-
de, packende, Wirbelnde von Musical und
Film. Dafür kommt es der Prosa Christo-
pherIsherwoodssehrnahe,dieinbehutsa-
men, keuschen Sätzen ihr Erschrecken
über die Menschen verbirgt. Schon den
Zeitgenossen war Ende der Zwanzigerjah-
re aufgefallen, dass ihr Berlin zum Stereo-
typ erstarrte, zum Einerlei aus Bar und
Hinterhof. Diese Produktion setzt dem die
Geschichten der Menschen entgegen.

Christopher Isherwood:Leb wohl, Berlin. Aus dem
Englischen von Kathrin Passig und Gerhard Hen-
schel. Bearbeitung:Heinz Sommer. Regie: Leon-
hard Koppelmann. Mit Mathieu Carrière, Christo-
pher Nell, Laura Maire, Barbara Philipp, Matthias
Bundschuh u.v.a. Komposition: Jörg Achim Keller.
Musik: HR-Bigband. Der Hörverlag, München 2019.
4 CDs, 4 Stunden , 47 Minuten. 24 Euro.

Im Sommer 1983 lief der Schriftsteller,


Regisseur und Hörspielautor Ronald Ste-


ckel drei Monate lang auf Westberliner


Seite ander Mauer entlangund zeichnete


auf,wasdortgeschriebenstand.DieMau-


er war Eigentum der DDR, aber sie ließ


sich vom Westen aus an vielen Stellen


leicht erreichen, wer sie besprühte, wur-


de von niemandem belangt. Steckel lief


vomBrandenburger Torbis zumMarian-


nenplatz und Schlesischen Tor in Kreuz-


berg, ging zur Liesenstraße in Gesund-


brunnen und zur Bernauer Straße, wo im


August 1961 Leute aus dem Fenster ge-


sprungen waren.


Steckel wählte nicht aus, er schrieb ab,

verhielt sich wie einAufzeichnungsappa-


rat.EswardieZeit,inder inWestberlinei-


ne nicht geringe Anzahl von Leuten mit


der Archäologie des Jüngstvergangenen


beschäftigtwaren,vielevonihnenKriegs-


kinder oder wie Steckel, Jahrgang 1945,


bei Kriegsende in die Welt gekommen.


Manche, wie Raffael Rheinsberg, im zer-


störten Kiel aufgewachsen, sammelten


in den Brachen am Potsdamer Platz, am


Gleisdreieck oder Anhalter Bahnhof den


Schrott der Geschichte, Schraubenmut-


tern und dergleichen, und arrangierten


sie in Ausstellungstableaus, andere


durchforsteten die Flohmärkte nach pri-


vaten Fotoalben. Ronald Steckel schrieb


ab,wasaufderMauerstand,undalserda-


mit fertig war, ging er zum Sender Freies


Berlin (SFB), um ein Hörspiel daraus zu


machen. In dessen Hörspielchef, Ulrich


Gerhardt, musste derGeist der Alltagsar-


chäologie gefahrensein,jedenfallsunter-


stütze er das Projekt.


Und dann fiel die Entscheidung gegen

einen Chor anonymer Berliner Stimmen


und für eine Einzelstimme, die von Wolf-


gangNeuss,Schauspieler(„WirKellerkin-


der“, 1960) und Kabarettist, Jahrgang


1923, in Breslau geboren, kein waschech-


ter Berliner, aber es waren ja viele wasch-


echte Berliner aus Breslau, zum Beispiel


Alfred Kerr. Neuss hatte die aufsteigende


Linie seiner Karriere der Fünfziger- und


Sechzigerjahre hinter sich, die Verurtei-


lung wegen Drogenbesitz im Juli 1984


noch vor sich, lebte mit wenigen Zähnen


und langen Haaren in einer Sozialwoh-


nung in Charlottenburg, die er in eine


Kleinstbühne für ein Publikum jüngerer


Bewunderer verwandelte.


Was Ronald Steckel in seine Hefte ge-

schrieben hatte, fauchte, rief, flüsterte


undtrompeteteWolfgangNeussindieMi-


krofonedesSFB.InseinerEinleitunglob-


teerdieGraffiti:„stattSchießen–Schrei-


ben, statt Küssen Kritzeln, statt Umar-


men – Einspruch“. Was er zu lesen hatte,


war ein Potpourri von Parolen („Ob Ost,


ob West, die gleiche Pest“, „Mauerbauer


Adenauer“), Pointen („weder rot noch


tot“ / „Lieber Rotwein als Totsein“), blö-


den und weniger blöden Sprüchen („Ich


kam ich sah ich sprühte“, „Erich, rück


den Schlüssel raus!“„Wer sagt denn dass


Beton nicht brennt?“), Banalitäten des


Typs „ich war da“ oder Liebeserklärun-


gen, wie sie auch bei Waldspaziergängen


in Baumrinden geritzt werden. Und im-


mer wieder das Spiel der Worte und Zita-


te mit dem Ort, an dem sie auftreten:


„Was isn hier hinter?“ „Im Westen nichts


Neues.“ „Jetzt ist die Dose leer.“


Neuss war zu sehr Rampensau, um

denFehlerzumachen,dasalsLitaneiher-


unterzubeten. Er trat mal aufs Gas seiner


bühnenerprobten berlinischen Kabaret-


tistenstimme, mal gab er den leicht ver-


wundertenAbleser („ostdeutscheNation,


westdeutscheNation,Resignation“),bau-


te Wiederholungen und Echoeffekte ein,


las „no dope no hope“ betont nüchtern,


akzentuierte das aktuelle Echo der Haus-


besetzerszene, der Wiederentdeckung


Preußens („Nur ein toter Preuße ist ein


guter Preuße“), der Diskussionen um die
Nachrüstung. Auch die „größte Wandzei-


tung der Welt“ erschließt sich am besten


beim Durchblättern, in kleinen Portio-


nen. Und vieles kann man auch überblät-


tern. Was man hört, ist der O-Ton der


Achtzigerjahre, aber nicht die anonyme


Stimme Berlins insgesamt. Die Extrover-


tierten, die „Szene“ istüberrepräsentiert.


Was Neuss zum besten gibt, ist schon

vor 1989 weitgehend verschwunden. Als


Ronald Steckel mit seinem Notizbuch die


Mauer abschritt, machten gerade die


„Neuen Wilden“ und die Galerie am Mo-


ritzplatz Furore, die Phase der Mauerbe-


schriftung ging zu Ende, der steile Auf-


stieg der Mauermalerei begann. Als das


Hörspiel im Herbst 1984 gesendet wurde,


hatte das Comeback des Wolfgang Neuss


seinen Zenit schon erreicht. Anfang De-


zember 1983 war er zum Stadtgespräch


geworden, als er im Café Kranzler die


Talkshow„Leute“kaperteunddenRegie-


renden Bürgermeister Richard von Weiz-


säcker und seine Ehefrau in den wohl


denkwürdigsten Auftritt seiner späten


Jahre einbaute. Den Fall der Mauer hat


Neuss nicht mehr erlebt, er starb Anfang


Mai 1989. Geblieben ist seine Rezitation


der Mauerbeschriftungen, als akusti-


sches Gegenüber der „East Side Gallery“


und anderer Relikte der Mauerbilder.


lothar müller


Die Mauer. Die größte Wandzeitung der Welt.Ge-


lesen von Wolfgang Neuss. Komposition: Ronald


Steckel. Der Audio Verlag, Berlin 2019. 1 CD mit


Booklet, 50 Minuten, 12,99 Euro.


Dumpfes Dröhnen, elektronisches Sirren.
Sirenen heulen, Gewehre knattern. Der
Komponist und Performer Jayrope hat für
das Hörspiel „Masse Mensch“ eine apoka-
lyptische Soundlandschaft entworfen, die
knappeineStundelangfür nahezuperma-
nenten Ausnahmezustand sorgt. Umso
wirkungsvoller der plötzliche Verzicht auf
jeglichen Klang. Für einige Sekunden
zählt nur das Wort: „Nein. Einhaltet
Kampfverstörte! Ich fall euch in den Arm.
Masse soll Liebe sein.“
Dann fängt das düstere Rumpeln wie-
der an. Aber diese drei Sätze ohne Hinter-
grundgeräusch, von Jana Schulz erst mit
Schärfe, dann samten, gleichwohl dring-
lich, in Richtung der gewaltbereiten Um-
stürzler unter Führung des „Namenlosen“
gesprochen, sie brennen sich ins Gedächt-
nis ein. Streik ja, Gewalt nein!
Die einnehmendeJanaSchulzistdiepa-
zifistische„DieFrau“inChristophKalkow-
skis für den NDR entwickelter Adaption
von Ernst Tollers Revolutionstragödie
„Masse – Mensch“. In ihr hat der Schrift-
steller seine Erfahrungen bei der von den
sogenannten Weißen Truppen blutig nie-
dergeschlagenen Münchner Räterepublik
verarbeitet. Er war nach der Ermordung
Kurt Eisners durch den Antisemiten An-
ton Graf von Arco auf Valley als neuer Vor-

sitzender der bayerischen USPD einer ih-
rer führenden Köpfe, zerrieben zwischen
dem Wunsch nach einem friedlichen Um-
sturz der Verhältnisse einerseits, der Ge-
waltbereitschaftaufkommunistischerSei-
te andererseits.
Hinter dem „Namenlosen“ ist un-
schwer der Anführer der Zweiten Rätere-
publik,EugenLeviné,auszumachen.Rüdi-
ger Klink spricht ihn als über Leichen ge-
henden Aufwiegler. Diese patzige Gefähr-
lichkeit überzeugt: „Ich rufe mehr als
Streik! Ich rufe Krieg!“
Wie sieht in so einer Situation Handeln,
das sein Ziel erreichen will, also aus? Es ist
dies eine Frage der Verantwortung, die
letztlich jede Protestbewegung für sich
aufs Neue beantworten muss; und die
dem Hörspiel Brisanz, auch seine Aktuali-
tät verleiht. „Träumer“ hat Volker Weider-
mann in seinem Buch zum 100. Jahrestag
der Revolution 1918/19 Toller und dessen
Weggefährten wie Gustav Landauer ge-
nannt. Der Regisseur Christoph Kalkow-
skiundderfürdieHörspielbearbeitungzu-
ständige Ben Neumann positionieren sich
im Booklet eindeutiger: „Eine konsequent
pazifistische Haltung im Persönlichen wie
im Politischen kann unsere Gesellschaft
verändern ...“. Gleichzeitig hat Toller mit
seinem Ideendrama, das er unmittelbar

nach der Verurteilung zu fünf Jahren Fes-
tungshaftindenVollzugsanstaltenStadel-
heim und Eichstätt zu schreiben begon-
nen und Anfang 1920 in der Festungshaft
in Niederschönenfeld fertiggestellt hatte,
„den gequälten und ermordeten Frauen
derRevolution,unter anderen dervonihm
verehrten Rosa Luxemburg, ein Denkmal
gesetzt“. Soweit der Germanist Wolfgang
Frühwald.Konkret verbirgtsichhinter der
Rolle „Die Frau“ aber nicht Rosa Luxem-
burg,sondernSonjaRabinowitz,verheira-
tete Lerch.

Die überzeugte Pazifistin engagierte
sich während des Münchner Munitionsar-
beiterstreiks im Januar 1918 neben Eisner
als Streikführerin und wurde daraufhin
wegen Landesverrats verhaftet. Sie kam
nach Stadelheim, wo sie sich am 30. März
1918 das Leben nahm. Toller hat die Ge-
schichte dieser außergewöhnlichen Frau
exemplarischzueinem„Stückausdersozi-
alenRevolutiondes20.Jahrhunderts“ver-
dichtet, wie der Untertitel lautet. Damit
war er nicht nur seiner Zeit voraus. Erst

vorkurzemhatmanbegonnen,dietragen-
de Rolle von Frauen im Umfeld der revolu-
tionären Ereignisse zu erforschen und zu
würdigen.
Das Booklet zeigt ein Foto von 1908, auf
dem die in Weiß gekleidete Sonja Rabino-
witz als einzige Frau unter zahllosen Stu-
denten herausleuchtet. Sie promovierte
1913 in Nationalökonomie, ein Jahr später
heiratete sie den Romanisten Eugen
Lerch.Aucherhat EingangindasStückge-
funden. Als „Der Mann“ ist er die Stimme
des staatstreuen Bürgers, er kann das En-
gagement seiner Frau nicht gutheißen.
Den Hörspielmachern hat das aber nicht
genügt. Sie haben den beiden einen Inter-
mezzo genannten Dialog in den Mund ge-
legt, der den Mann „von unserem kleinen
Glück“ jenseits der Politik säuseln lässt.
Das Hörspiel „nach dem gleichnamigen
Theaterstück“ nimmt sich Freiheiten. Viel
Textwurdegestrichen.DafürhatmanZwi-
schenspiele eingefügt und den sieben
(Traum)Bildern eigene, die Rezeption
stark lenkende Überschriften gegeben.
Christian Brückner trägt sie als Erzähler
vor: Von „Misstrauen“ über „Verzweif-
lung“ bis zu „Schuld“ und „Moral“.
In der Urfassung hat Toller den prä-
gnanten Titel noch „Masse Mensch“ ge-
schrieben. Ab der zweiten Fassung fügte

er allerdings einen Bindestrich ein, um zu
zeigen, dass es sich um einen Gegensatz
handelt: Der anonymen Masse steht der
einzelne Mensch gegenüber. Es geht also
nichtumdieMasseMensch,wiehäufigan-
genommen. Das Hörspiel hat auf den Bin-
destrichwieder verzichtet. Akustischist er
aber sehr wohl vorhanden: Im Vorspann
folgt auf ein chorisch gerufenes „Masse“
das von Brückner leise gesprochene
„Mensch“.
Das Drama hetzt unablässig vorwärts,
und die Umsetzung macht dies durch das
Sounddesign sowie die Kakophonie der
Stimmen hörbar. Zu ihr gehört wesentlich
auch der Chor der Masse, bestehend aus
Studentinnen der Berlin Hochschule für
Schauspielkunst „Ernst Busch“. Bei Toller
wird „Die Frau“ am Ende von der Staats-
machtandieWandgestellt. Siekönnteflie-
hen,dochsieopfertsichundwirdsozursä-
kularenErlöserfigur.DasHörspielverwei-
gertseinerHauptfigurdenSieg.Zweirotzi-
ge Girlies von heute haben das letzte Wort:
„Dumme Gans, wer lässt sich aus Prinzip
erschießen.“ fl orian welle

Ernst Toller:Masse Mensch. Mit Jana Schulz, Rüdi-
ger Klink u.a. 1 CD, ca. 51 Minuten. Der Audio Ver-
lag, Berlin2019, 12 Euro.

Die Häuser stehen herum


wie „riesige schäbige


Geldschränke“


„Es ähnelt frappierend


einem normalen, erfreulichen


Anblick von einst“


Sie könnte fliehen,


aber sie opfert sich und


wird so zur Erlöserfigur


Ich kam, ich


sah, ich sprühte


Ronald Steckel sammelt, Wolfgang


Neuss liest Mauersprüche


Wer lässt sich aus Prinzip erschießen?


Jana Schulz begeistert als „Die Frau“ in Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse Mensch“


Das „Hessische Literaturforum im Mousonturm“ trägt den Ort, an dem es residiert, im Namen.
Der Mousonturm ist der renovierte Überrest einer Fabrikanlage aus den Zwanzigerjahren. Wie in anderen Großstädten zog die Kultur
in ehemalige Industriearchitektur ein. Seit 2016 ist Björn Jager Programmleiter und Geschäftsführer des Literaturforums.

„Ostdeutsche Nation,


westdeutscheNation,


Resignation.“


Jut jesehen, Herr Issiwu


„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“


Ein Hörspiel nach Christopher Isherwoods Roman „Leb wohl, Berlin“


14 V2 LITERATUR HÖRBUCH SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH

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