Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
Deutschland hat seine Auseinanderset-
zungmitdereigenenGeschichtegutorga-
nisiert. Ein System von Gedenkstätten
und Gedenktagen hilft, die Altlasten zu
verwalten, sie präsent zu halten und
gleichzeitigzuneutralisieren.HierderHo-
locaust, hier die Gräuel der Kriege, hier
die DDR. Doch dieses Erinnerungswesen
isterstaunlichselektiv.VieledunkleEpiso-
den kommen kaum vor.
Mark Terkessidis geht es in seinem
Buch „Wessen Erinnerung zählt?“ nicht
darum, das eine gegen das andere aufzu-
rechnen. Er weist nur sehr eindrücklich
daraufhin, dass wir uns auch den als min-
der wichtig oder ungeeignet zur Seite ge-
legten Episoden widmen müssen, wenn
wir als Gesellschaft hartnäckig sich hal-
tende Probleme lösen wollen, das Pro-
blem des Rassismus beispielsweise.

BisvorkurzemgaltdiedeutscheKoloni-
alzeit als eines dieser vom Erinnern ver-
gessenen Kapitel der Geschichte. Erst seit
derDebatteumHumboldt-ForumundRe-
stitution steigt diese Ära wieder aus dem
Dämmer. Überrascht stellt man fest, wie
relevant sie für heutige Fragen wie Migra-
tion, Globalisierung und Klimakrise ist.
Doch kaum hat die Beschäftigung mit
dem Kolonialismus begonnen, beginnt
auch hier das Sortieren. Aus einem jahr-
hundertelangen Strang der Geschichte
wird ein kurzer Zopf, ein überschaubares
Narrativ. Terkessidis hält dagegen mit ei-
ner Geschichtsschreibung der Knoten
und losen Enden, der Verfilzung und Ver-
hedderung.
Für den Leser, der ihm vom Humboldt-
Forum über die „Ostmarken“ nach Litau-
en und über Griechenland und das Kreuz-
berg der „Gastarbeiter“ wieder in die eth-

nologischen Museen folgen muss, ist das
teils verwirrend. Doch die häufigen Spur-
wechsel machen die große Qualität seines
Buchs aus.
Terkessidis versteht sein Buch als
„Denkanstoß“, nicht als „historische Ab-
handlung“. Er schreibt zum einen eine so-
wohl räumlich als auch zeitlich stark er-
weiterteGeschichtedesdeutschenKoloni-
alismus. Und er schreibt, wie diese Ge-
schichte verwoben ist mit der Geschichte
des Rassismus, der produziert wurde, um
kolonialeoder„krypto-koloniale“Raubzü-
ge und Regime zu provozieren, zu legiti-
mieren und ins deutsche Weltbild einzu-
passen.DerdurchKolonialsystemebestä-
tigt und aktualisiert wurde. Und der bis
heute weiterlebt, nicht nur im Rassismus
der Neonazis, sondern auch im bürgerli-
chen Ressentiment – gegen die angeblich
schlampige polnische Putzfrau oder die
Griechen, denen in Geldfragen nicht zu
trauen sei.
Terkessidis Kolonialgeschichte be-
ginnt mit den Plünderungsexpeditionen
der Fugger und Welser im 15. Jahrhun-
dert, erst im heutigen Kenia und Tansa-
nia, dann im heutigen Venezuela und an-
derswo in Südamerika. Sie setzt sich fort
mit dem Sklavengeschäft, an dem Preu-
ßens Großer Kurfürst beteiligt war, des-
sen Kunstkammer die Macher des Hum-
boldt-Forums gerne als historischen Ur-
sprung ihres Projekts rühmen. Und auch
Alexander von Humboldt war, wie man
weiß, verstrickt in koloniale Ausbeutung.
Doch am wichtigsten ist Terkessidis
der Quasi-Kolonialismus im Osten: Es
war vor allem Friedrich der Große, der ab
1740 mit den Schlesischen Kriegen das
Territorium des aufstrebenden Preußen
erweiterte. Friedrich Wilhelm II. setzte
diesePolitikfort.UmdieJahrhundertwen-
de bestand mehr als die Hälfte des Staats-
gebiets aus ehemaligem polnischen Land,
von den acht Millionen Preußen sprachen
drei Millionen Polnisch. Für Terkessidis

hattedaspreußische RegimeimOstenko-
loniale Züge. Ähnlich wie später in den
Überseekolonien wurde auch hier die Be-
völkerung unterworfen, das Land ausge-
beutet, und auch hier erfand man sich ei-
nen elaborierten Überbau: Die „Über-
macht des deutschen Stammes gegen die
meistenslawischenStämme“seieine„na-
turhistorischeThatsache“, diebrutaleNie-
derwerfung der Einheimischen und die
„Peuplierung“ durch deutsche Siedler ein
Aktder„Kultivierung“–Entwicklungshil-
fe also. Dazu machte man die Ureinwoh-
ner des „wilden Ostens“ zu „Anderen“.

In den „Ostmarkenromanen“ des spä-
ten 19. Jahrhunderts, aber auch in Fonta-
nes„Effi Briest“,werdendiePolenalsewi-
ge Kinder, als dumpfe, nicht entwick-
lungsfähige Typen gezeichnet. Manche
Autoren beschrieben sie sogar als dunkel-
häutig und schwarzhaarig, als assoziier-
ten sie sie mit den Kolonisierten in Afrika.
Diese Entwicklung kulminierte dann
in der erneuten Annektierung Polens un-
ter Hitler. „Was für England Indien war,
wird für uns der Osten sein“, hatte er pro-
phezeit. Man müsse dort eine „koloniale,
imperiale Rechtsordnung aufbauen“, so
der Generalgouverneur Hans Frank, mit
dem Ziel „wirtschaftlicher Verwertung“.
„Kolonialiät“ ist in linken Diskursen
zumUniversalbegrifffür Unrecht aller Art
geworden: globales Macht- und Wohl-

standsgefälle, Diskriminierung, imperia-
listische Politik, Kapitalismus. Terkessi-
dis schlägt vor, die Sache umzudrehen: Er
versteht Rassismus als „eines der großen
Unrechtsverhältnisse der Moderne und
Kolonialismus als eine spezifische Perio-
de in diesem Verhältnis“.
Ganz anders sieht es aber in der deut-
schen Debatte aus. Statt das Koloniale als
Grundprinzip zu verstehen und nach sei-
nerhistorischenKontinuitätzu suchen,re-
duziertmanesaufjenevierzigJahre,inde-
nenDeutschlandtatsächlichKolonien mit
diesem Namen besaß. Man macht „eine
Art Sonderthema“ daraus, einen fatalen,
aber immerhin sehr kurzen Irrweg.
Damit widerspricht Terkessidis nicht
nurBeschönigernderdeutschenKolonial-
tradition wie dem Mitinitiator des Hum-
boldt-Forums, Horst Bredekamp. Er dis-
tanziert sich damit auch vorsichtig von
derPositionder schwarzen Communityin
Deutschland, die seit Jahrzehnten für ein
Eingeständnis deutscher Kolonialverbre-
chen kämpft. Die Greuel der Kolonialzeit
versteht sie als besonders schreckliche
Episodeineinerbis heuteanhaltendenGe-
schichtederDiskriminierungvonSchwar-
zendurchWeiße.Umgekehrt,soTerkessi-
dis, könnte es etwa in Polen als Schmach
empfundenwerden,nachträglichalsdeut-
sche Kolonie bezeichnet zu werden.
Im Koalitionsvertrag machen sich die
Regierungsparteien die „Aufarbeitung
des Kolonialismus“ zum Ziel, als sei Ge-
schichte eine Industriebrache, deren ver-
seuchten Boden man lediglich abtragen
müsse, bevor man dort Wohnungen bau-
en kann. Terkessidis zeigt klar wie keiner
vor ihm, wie gerade in Deutschland der
Rassismus als Grundprinzip des Kolonia-
lismus weiterlebt, viel weniger beachtet
und geächtet als in anderen Ländern.
Dass diese Bewusstwerdung aus vielen
Gründen schmerzhaft wird, auch für die
Opfer des Rassismus, liegt auf der Hand.
jör g häntzschel

von jens-christian rabe

1

958 erschien im C. Bertelsmann
Verlag ein kleines Büchlein mit
dem Titel „Fibel für Manager“. Das
Kapitel „Sport für den Manager?“
beginnt mit den Sätzen: „Nur sehr

zögernd nahe ich diesem Gebiet. Sport be-


deutet Wettkampf, wird also wiederum


leicht zum ,Stress. Es folgt ein Zitat eines


„mit dem Körper so überaus vertrauten


Massagearztes“ namens August Müller,


der, so die Autoren des Bandes, schon vor


zwanzig Jahren geschrieben hätte, dass es


ein „Denkfehler“ sei, den „geistig durch


Überarbeit, Sorgen oder Aufregungen Er-


schöpften“ neue körperliche Arbeit „au-


ßerhalb ihres Berufs zuzumuten“. Der


durchunzähligeDienstreisen„überbeweg-


te Manager“ habe zu ruhen, wenn er nicht


arbeiten müsse.


In der Stilbeilage zum Thema Body Po-

sitivity imSpiegelgab in der vergangenen


Woche Thomas Rabe, seit 2012 Chef des


mittlerweilezueinemdergrößtenMedien-


konzerne der Welt gewordenen Bertels-


mannVerlages,AuskunftüberseinenKör-


perzustand, mit der typisch beiläufigen


Prätention des modernen Top-Managers,


dessen größtes Talent es sein muss, Hoch-


leistung nicht als Ausnahmezustand, son-


dern als Selbstverständlichkeit erschei-


nenzu lassen.Vor15Jahrenhabeerbegon-


nen,sichumseineFitnesszukümmern,ei-


nen Personal-Trainer genommen, ein


Punktesystem entwickelt und sich dann


Schritt für Schritt gesteigert, Pulsuhr,


Halbmarathons, Besteigung der Großen


Zinne in den Dolomiten. Im vorigen Jahr


sei es ihm dann gelungen den New York


Marathonin3Stunden,57Minutenzu lau-


fen. Er jogge inzwischen 30 Kilometer mit


einem durchschnittlichen Puls von 135,


sein Ruhepuls liege bei 50. Auf Dienstrei-


sen„trifftmansichjetztumsechsUhrmor-


gens und läuft gemeinsam eine Runde, et-


wa durch den Central Park“. Er trinke kei-


nen Alkohol mehr und esse abends wenig.


Sein Ziel sei, einmal eine Etappe der „Tour


de France“ zu fahren. Thomas Rabe ist 54


Jahre alt.


Natürlich sei es „jedem selbst überlas-

sen“, was ihn glücklich mache und „wie er


mit seinem Körper“ umgehe, er mache da


niemandem Vorgaben, aber er habe in sei-


nerPositioneineVorbildfunktion.DenBer-


telsmann-Mitarbeiternwürden„regelmä-


ßigmedizinischeCheck-ups“und „vielfäl-


tige Sportprogramme“ angeboten.


Wer je gedacht haben sollte, es herrsch-

ten im liberalen Westen längst postideolo-


gische Zeiten, darf noch mal überlegen. Es


kommt halt darauf an, wo man bereit ist,


zu suchen. Eine sehr gute Hilfe ist dabei


aufjedenFalldasneueBuch„DasZeitalter


der Fitness“ von Jürgen Martschukat. So


kundigwiekurzweiligbeantwortetderEr-


furter Historiker darin auf knapp 240 Sei-


ten die Frage, wie es eigentlich so weit


kam, dass der Körper zum ultimativen


Symbol für Erfolg und Leistung wurde,


Top-Manager nicht mehr ruhen, sondern


lieberdenRuhepulseinenLeistungssport-


lers haben wollen, und allein in Deutsch-


land jährlich um die 50 Milliarden Euro


für Fitnessartikel ausgegeben werden.


BeginnenlässtMartschukat,selbstpas-
sionierter Radfahrer, das Zeitalter der Fit-
ness im Westen in den Siebzigerjahren des


  1. Jahrhunderts, wobei es erwartbar kein
    Zufall für ihn ist, dass damit das Zeitalter
    der Fitness mit dem Zeitalter des Neolibe-
    ralismus zusammenfällt.Martschukatver-
    wendetdenBegriffNeoliberalismusalsBe-
    zeichnung einer Epoche, „die sich am Mo-
    delldesMarktesausrichtet,jedeLebensla-
    ge als Wettbewerbssituation deutet und
    Menschendazuauffordert,ihreFreiheiter-
    folgreich zu nutzen“.
    Fitness, verstanden als körperliche Er-
    tüchtigung zur Steigerung der allgemei-
    nenLeistungsfähigkeit,istunterdieserBe-
    dingungkeinspielerischessportlichesVer-
    gnügen mehr, sondern die wesentliche
    Voraussetzung für Erfolg jeder Art. Aus
    Spaß wurde Ernst, und heute laufen nicht
    mehr–wienoch1970–126Männerundei-
    neFraubeimNewYorkMarathonmit,son-
    dern 50 000 Männer und Frauen.
    DieleitendeBeobachtungistallesande-
    re als überraschend, die konkreten Weg-
    marken, von denen das Buch erzählt, las-
    sen die Entwicklung allerdings auf fast
    monströse Art gelenkt erscheinen: die
    Trimm-Dich-Kampagnen des Deutschen
    Sportbundes („Ein Schlauer trimmt die
    Ausdauer“) und die Aktionen der Bundes-
    zentrale für gesundheitliche Aufklärung
    („EssenundTrimmen–beides mussstim-
    men“) der Siebziger, die Aerobic-Welle
    und die Workout-Fernsehsendungen der
    Achtziger, die Flut an Trainingsratgebern
    oder die Fachzeitschriften wie „Runner s
    World“, mit denen der Ausdauerläufer, so
    Martschukat,baldzum„Idealtypdesneoli-
    beralen Selbst“ wird:„Er istTeil einerKul-
    tur und Bewegung, fühlt sich dabei aber
    unabhängig und selbstbestimmt.“
    Die allgegenwärtigen Fitness-Trends
    der Gegenwart – von den EMS-Studios,
    die besonders effiziente elektrische Mus-
    kelstimulation anbieten, über das lücken-
    lose digitale Self-Tracking zur Trainings-
    optimierung, bis zu „Functional Trai-
    ning“, „Cross Fit“, Fitness-Studio-
    Schwemme und Viagra, dessen Geschich-
    te Martschukat ein eigenes Kapitel wid-
    met, sind so gesehen keine hypertrophen
    Ausnahmen, sondern das Ergebnis einer
    vollkommen folgerichtigen Eskalation.
    Vom 18. Jahrhundert bis weit ins 20.
    Jahrhundert, so Martschukat, stand „Fit-
    ness“ semantisch nicht für Individualität,
    FreiheitundGlück.Esbedeutete,sichinei-
    ne Ordnung einzufügen, man sprach von
    der „eternal fitness of things“, der ewigen
    Gegebenheit der Dinge. Die Ertüchtigung
    des Einzelnen wurde verteidigungspoli-
    tisch, mindestens aber kollektiv gedacht
    (als Befähigung einer Person für eine ge-
    sellschaftlich wichtige Position). Das Sol-
    datisch-imperativederGeschichtederFit-
    ness erscheint heute natürlich mehr denn
    je als Bedingung der Möglichkeit.
    In diesemSinnehatauchderamerikani-
    sche Essayist Mark Greif in seinem Auf-
    satz„AgainstExercise“(GegenFitnesstrai-
    ning) vor einigen Jahren auf den Umstand
    hingewiesen, dass das Zeitalter des Fit-
    nesstrainings nicht mehr, sondern weni-
    gerFreiheitgebrachthat.Vondenäußerli-
    chen Korsetts der Mode habe sich der


Mensch und insbesondere die Frau müh-
sambefreit,nurumsichdanachdasinner-
liche Korsett der körperlichen Fitness an-
zulegen, was zu noch mehr Unsicherheit
geführt habe: „Die Ära der Fitness hat uns
nicht weniger, sondern mehr Obsessivität
und Selbsthass gebracht.“
Das wichtige andere neue Buch zum
Thema ist die gerade auf Deutsch veröf-
fentliche „Geschichte meines Körpers“
von Roxane Gay („Hunger“, btb, 2019). Die
1974 geborene amerikanische Literatur-
wissenschaftlerin, Feministin, Essayistin
und Mitautorin des Marvel-Comics
„World of Wakanda“, der Vorlage zum als

Meilenstein der schwarzen Emanzipation
gefeiertenBlockbuster„BlackPanther“,er-
zählt darin die Geschichte ihres Körpers,
ihresLebens alsfetteFrau –undzwar aus-
drücklich nicht als Erfolgsstory: „Ich has-
se meine Körper. Ich hasse meine Schwä-
che, die in der Unfähigkeit besteht, mei-
nenKörperzukontrollieren.Ichhasse,wie
andere meinen Körper sehen. Ich hasse,
dassanderemeinen Körper anstarren, wie
siemeinenKörperbehandeln,wiesieKom-
mentareüber meinenKörperabgeben.Ich
hasse die Gleichsetzung meines Selbst-
werts mit dem Zustand meines Körpers
und dass es so schwer ist, diese Gleichset-
zung zu überwinden. Ich hasse, dass es so
schwer ist, meine menschlichen Schwä-
chen zu akzeptieren.“
„Hunger“ ist die Geschichte des (miso-
gynen) Psychoterrors, der entsteht, wenn
Gesellschaften sich darauf einigen, dass
„SelbstwertundGlückuntrennbarverbun-
den sind mit Dünnheit“. Wobei besonders
erstaunlich ist, dassdas Regime, das dabei
entsteht, am Ende eigentlich niemanden
mehr froh sein lässt. Gays erschütternde
Frage ist frappierend schlicht: „Fühlt sich
irgendjemand in seinem Körper wohl?“
Angesichts der Verwerfungen die in der
jüngsten Vergangenheit Populismus und
autoritärer Nationalradikalismus ge-
bracht haben, gibt es hier noch eine eher
bittersüße liberale Pointe der Fitness, die
einem so streng neoliberalismuskriti-
schen Buch wie dem Martschukats fehlen
muss: Peter Sloterdijk hat darauf hinge-
wiesen, dass die Moderne den „Verlierer“
erfunden habe, „diese Figur“, die einem
„auf halbem Weg begegnet zwischen den
Ausgebeuteten von gesternund den Über-
flüssigen von heute“.
Fitness als Ideologie ist aus dieser Per-
spektive ein Instrument der – wenigstens
ideellen – Selbstermächtigung angesichts
derständigenGefahr,vonunbeeinflussba-
ren Umständen zum Verlierer degradiert
zu werden. Mit anderen Worten: Da be-
kanntlich nichts so sehr eint, wie ein ge-
meinsamer Gegner, ist die Ideologie der
Fitness auch so etwas die einzige zivile
Form, um die Bürger in pluralistischen
Massenkollektiven auf einen gemeinsa-
menGegnereinzuschwören,derdannpoli-
tisch keine Probleme mehr macht: ihren je
eigenen Körper.

In Venedig angekommen, fährt das Paar


mit der Gondel zum Lido. „Hübscher


Blick auf das adriatische Meer; sonst ei-


gentlich langweilig“, notiert der Ehe-


mann. Die Gattin ergänzt in ihrem Reise-


tagebuch, was er von der Adria hält: „Da


macht das Meer bei Brighton doch einen


anderen Eindruck.“ Es steckt Novellen-


stoff in dem schlichten Titel „Fontane in


Italien“,zwischendemReisendenundsei-


nem Ziel herrschte eine gewisse Span-


nung. Theodor Fontane war anglophil,


seinen Ruf als Reiseschriftsteller ver-


dankte er Büchern über England und


Schottland.AlserimHerbst1874,immer-


hin 54 Jahre alt, mit seiner Frau Emilie zu


einer siebenwöchigen Italienreise auf-


brach, hatte ihn nicht die berühmte Itali-


ensehnsucht der Deutschen ergriffen. Es
war vielmehrderBequemlichkeitsgradei-


ner solchen Reise drastisch gestiegen.


Seit1863gabeseinedurchgehendeEisen-


bahnverbindung von Berlin bis an den


GolfvonNeapel.UndsonutzteerdieGele-


genheit, in Rom, Florenz, Neapel seinen


Bildungshorizont zu erweitern. Und


brach gleich im nächsten Jahr zu einer


Städtereise durch Oberitalien auf.


Ein Italienbuch hat Fontane nie ge-

schrieben, als Romanautor aber italieni-


scheKunstundHochzeitsreisennachIta-


lien(in„EffieBriest“wieim„Stechlin“)in-


szeniert. Dieter Richter ist ein idealer Ci-


cerone post festum. Er folgt dem Reisen-


den wie dem Autor, verbindet Müggelsee


und Lago Maggiore, Müritz und Capri,


porträtiert das Ehepaar Fontane als mo-


derne Touristen und entdeckt zwei (eher


trockene)NachlasstexteüberPisaund Bo-


logna. Der Cicerone weiß: Fontanes Zu-


kunftalsAutorlagnichtamGolfvonNea-


pel, sondern an Spree und Havel. lmue


Dieter Richter:Fontane in Italien. Mit zwei Städ-


tebildern aus Fontanes Nachlass. Verlag Klaus


Wagenbach, Berlin 2019. 144 S., 18 Euro.


Jürgen Martschukat:Das Zeitalter
der Fitness. Wie der Körper zum Zeichen
von Erfolg und Leistung wurde.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2019.
352 Seiten, 25 Euro.

Das verdrängte Unrecht


MarkTerkessidis zeigt, wie Kolonialgeschichte und gegenwärtiger Rassismus zusammenhängen


GegenEndeeiner internationalenPresse-
konferenz verlas Günter Schabowski am
9.November 1989neueReiseregelungen,
die der Ministerrat der DDR beschlossen
hatte.SeineAntwortaufdieJournalisten-
frage, wann das in Kraft trete, ist sprich-
wörtlich geworden: „Sofort, unverzüg-
lich!“ Gegen 23.30 Uhr hieß es an der
Grenzübergangsstelle Bornholmer Stra-
ße: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles
auf!“ Sechs Stunden nach Ende der Pres-
sekonferenz standen die Grenzübergän-
ge zwischen West- und Ost-Berlin offen.
Die Welt war eine andere geworden.
Wie es dazu kam, was sich zwischen
dem9. unddem12.November1989ereig-
nete, hat Hans-Hermann Hertle rekons-
truiert. Seine „Chronik des Mauerfalls“,
erstmals 1996 erschienen, ist eines der
besten deutschen Bücher zur Zeitge-
schichte.HertlehatAkten,Berichte,Erin-
nerungen ausgewertet, mit Zeitzeugen
undBeteiligtengesprochenundkannda-
her die dramatische Nacht, ihre Vor- wie
ihre Nachgeschichte aus der Perspektive
verschiedener Akteure darstellen.
Mit einem neuen Titel ist die inzwi-
schen klassische Chronik jetzt in einer
nocheinmal erweiterten und aktualisier-
ten Neuauflage erschienen. Die Mauer
fiel,soHertlesFazit,dankdesZusammen-
treffens „von unkoordinierten Entschei-
dungen der SED-Spitze, falschen Situati-
onsbestimmungen der West-Medien,
spontanen Entschlüssen von Fernsehzu-
schauern und Radiohörern sowie Ad-hoc
Entscheidungen der Grenzsicherungsor-
gane“. Das welthistorische Ereignis war
im TV vorauseilend verkündet worden –
und die Furchtlosigkeit der DDR-Bürger
übertraf die Medienfiktion. jby

Hans-Hermann Hertle:Sofort, unverzüglich. Die
Chronik des Mauerfalls. Überarbeitete, aktuali-
sierteund erweiterte Neuausgabe. Christoph
Links Verlag, Berlin 2019. 368 Seiten, 20 Euro.

Und wenn nun nur die Hälfte stimmen
würde? Dann reichte es immer noch, um
vom Glauben abzufallen. Das ist das Pro-
blemderkatholischenKirche:dassihrim-
mer weniger Menschen vertrauen. Sie
stecktineinergigantischenGlaubwürdig-
keitskrise. Und dann kommt auch noch
dieser französische Soziologeundlässtei-
nen neapolitanischen Callboy berichten,
wie liebesbedürftig seine Kunden, die
Priester, sind. „Sie sind sehr gefühlsbe-
tont, auf Liebkosungen aus, wollen dich
die ganze Zeit küssen.“ Arme Teufel. Ob
das noch gut gehen kann mit der Kirche?
Frédéric Martel hat im Februar ein Ent-
hüllungsbuch veröffentlicht, das erst jetzt
unter dem Titel „Sodom. Macht, Homose-
xualität undDoppelmoral im Vatikan“auf
Deutsch erschienen ist. Es ist dem Autor
vorgeworfen worden, seine Quellenlage
seizudünnundseineBelegeseienzudürf-
tig. Martels Feststellung zum Beispiel,
achtzig Prozent der Priester im Vatikan
sei homosexuell, stütze sich auf nur einen
Zeugen. All das ist nicht von der Hand zu
weisen. Martel könnte hier und dort kon-
kreter werden, mitunter weniger andeu-
ten oder unterstellen oder Kolportiertes
kolportieren und dafür mehr benennen
und auch strukturierter erzählen.
Aber: Widerlegt hat seine Einschätzun-
genbislangnochniemand.Esisteinwich-
tiges Buch geworden. Seine Kritiker müs-
sen Frédéric Martel zugestehen, dass er
nicht zuletzt auch mit Indizien arbeitet,
die mal stichhaltiger sind und mal gewag-
ter. Wer seine Ausführungen über den ul-
trareaktionären US-Kardinal Burke, des-
sen Gehabe und Garderobe liest und Felli-
nis „Roma“ gesehen hat, wird seine Freu-
de haben mit Martels Vergleichen.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen
müssten für jeden reichen, der allen zeit-
geistlichen Anfechtungen zum Trotz das
Credo an die „heilige katholische Kirche“
nochausÜberzeugungmitgebetethat,zu-
mindestüberdieseStelledesGlaubensbe-
kenntnisses diskret hinwegzulächeln.
Und zu schweigen. Einen kleinen Trost
könnten diese Leute immerhin herausle-
sen: Nicht alle Priester lieben Männer.
Und manche leben wirklich zölibatär.
Stünde ein Gerichtsverfahren Vati-
kanvs. Martel auf Unterlassung an, könn-
te Martel mit einem Päckchen USB-Sticks
anrücken,aufdenenerseine1500Gesprä-
che mit Kardinälen, Prälaten, ehemaligen
Priestern, Gendarmen, Sozialarbeitern,
Escortmännern und vielen anderen Ge-
sprächspartnern aufgezeichnet hat. Darf
er aufgrund seiner Recherchen den Vati-
kan mit Sodom vergleichen?

Richter messen in solchen Fällen den
Grad des Belastungseifers. Sein Fleiß
beim Sammeln von Statements und Ant-
worten auf die Frage nach homosexuellen
Netzwerken in der Kirche basiert aber of-
fenbar weniger auf einem Wunsch, die In-
stitutionzudemontieren, alsaufdemZiel,
der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
Martel betont, er wolle nicht Schwule in
Soutanekompromittieren.Eristselbstho-
mosexuell und durchaus als Vorkämpfer

für die Rechte Homosexueller in Erschei-
nung getreten. Ihm gehe es, das betont er
mehrmals, vielmehr um das Bloßstellen
einesKlerus,derHomosexualität alssünd-
hafte Perversion abkanzelt – und doch
selbst großteils schwul ist. So investigativ,
dass er in Schlafkammern hochrangiger
Kleriker Kameras versteckt, ist Martel
dann auch wieder nicht. Er kennt seine
Grenzen, die juristischen wie die morali-
schen. Womöglich hätte er provozieren
können, dass ihm ein Würdenträger an
die Wäsche geht. Er reizte es nicht aus.
Um die Frage zu beantworten: Ja, Mar-
tel darf den Vatikan mit Sodom verglei-
chen.SchließlichhandeltessichumeinZi-
tat.EsschließtdasKapitel überdieProsti-
tution ab und stammt aus einem Inter-
view, das Martel mit einem besonderen
Zeugen führte: mit dem Beichtvater des
Petersdomes. „Willkommen in Sodom“,
habe ihm dieser Geistliche ins Ohr ge-
raunt. Sodom ist im Alten Testament die
Stadt, die der Herr wegen ihrer Sündhaf-
tigkeit auslöschte.

Indizien für das, was die Kleriker selbst
als Sünde bezeichnen, hat es schon vor
Martels „Sodom“ und nicht erst seit Felli-
ni oder Pasolini gegeben. Martel zählt so-
gar Päpste auf. Kirchenoberhäupter, die
sich Innozenz nannten, stehen bei ihm
schonwegenderNamenswahlunterGene-
ralverdacht. Pauschalverdächtigungen
wiediesemachenesKritikernleicht,Mar-
tel grundsätzlich anzuzweifeln.
Mag sein, dass der Priestermangel auch
damit zu tun hat, dass sich homosexuelle
Männer gerade in westlichen Ländern
nicht mehr verstecken müssen. Für sie
war die Kirche ein idealer Arbeitgeber,
mankonnteseineNeigunghinterdemZö-
libat verbergen. Es gab Bistümer, in de-
nen die Rektoren von Priesterseminaren
solchen Kandidaten von einer geistlichen
Laufbahn abrieten. In anderen Diözesen
oder auch in manchen Klöstern waren sie
umso willkommener. Sie bildeten Netz-
werke. Das beschreibt Frédéric Martel
ebenso wie einer seiner Gesprächspart-
nern, der neapolitanische Escortmann
Francecso Mangiacapra. Dieser Homose-
xuelle hat im vergangenen Jahr ein mehr
als 1200 Seiten umfassendes Dossier über
seine Kunden beim Vatikan abgeliefert.
Auch er wollte die Heuchelei bloßstellen.
Martel macht das dezenter und nimmt
darüberhinausFinanzskandaleundpoliti-
sche Entscheidungen ins Visier, die von
solchen Netzwerken ausgehen.
Ja, die Homosexualität vieler und gera-
de hochrangiger katholischer Kleriker ist
ein offenes Geheimnis. Aber solange sie
nicht öffentlich knutschen oder dabei er-
wischtwerden,bleibtesgenaudasweiter-
hin: ein Geheimnis. rudolf neumaier

Mark Terkessidis:Wessen
Erinnerung zählt.
Koloniale Vergangenheit
und Rassismus heute.
Hoffmann und Campe
Verlag, Hamburg 2019.
224 Seiten, 22 Euro.

Frédéric Martel:Sodom.
Macht, Homosexualität
und Doppelmoral im Vati-
kan. Aus dem Französi-
schen von Katja Hald,
Elsbeth Ranke, Eva Scha-
renberg, Anne Thomas.
Verlag S. Fischer.
672 Seiten, 26 Euro.

Heuchler


in Soutane


Frédéric Martel über Homosexualität im Vatikan


Reichen die Belege,


um den Vatikan als
Sodom zu bezeichnen?

Das preußische Regime im
Osten hatte, was gern vergessen

wird, koloniale Züge


„Fühlt sich irgendjemand in


seinem Körper wohl?“, fragt


Roxane Gay in „Hunger“


Südskepsis


Dieter Richterbegleitet Theodor


und Emilie Fontane nach Italien


Wahnsinn!


Die „Chronik des Mauerfalls“


in einer neuen Ausgabe


16 V2 LITERATUR SACHBUCH SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH


Selbsthass macht fit


Der Körper des Ausdauerläufers: Der Historiker Jürgen Martschukat


begleitet das neoliberale Selbst beim New-York-Marathon

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