Am 20. Juli 1870 – tags zuvor war in Berlin
diefranzösische Kriegserklärung einge-
gangen – wurden in Köln bereits die Bäu-
me vor den äußeren Forts gefällt. Im Falle
einer Belagerung sollten die Verteidiger
freies Schussfeld haben. Das preußische
Militär rechnete mit einem raschen An-
griff des Gegners, und so dachte man fast
überall. Frankreich war die erste Macht
desKontinents.SeineArmeenhattensieg-
reich auf der Krim und in Norditalien ge-
kämpft; Preußen wurde etwas herablas-
senddas„Piemont desNordens“genannt,
seine Erfolge im Dänischen und Deut-
schen Krieg nicht für voll genommen.
Doch wie bekannt entwickelten sich
die Dinge für Frankreich zu einem Desas-
ter; die deutsche Seite dagegen musste
nicht eine einzige ernste Niederlage hin-
nehmen.DasWortBenjaminDisraelis,da-
malsOppositionsführerimbritischenUn-
terhaus,dieser Krieg sei ein„größeres po-
litischesEreignis“als dieFranzösischeRe-
volution, zielte nicht allein auf die Tiefe
der Veränderung, sondern auch auf die
maßlose Überraschung,diesie für alle be-
deutete. Und doch fanden diese erstaunli-
chen Dinge viele Jahre wenig Beachtung.
ImFrühjahrdiesesJahresallerdingsveröf-
fentlichte Tobias Arand eine „Geschichte
des Deutsch-Französischen Krieges, er-
zählt in Einzelschicksalen“, und jetzt im
Herbst ist von Klaus-Jürgen Bremm
„70/71. Preußens Triumph über Frank-
reich und die Folgen“ erschienen, knapp,
flink und äußerst meinungsstark im Ein-
zelnen.
Hat Bismarck die Entwicklung zum
Krieg gelenkt? Bremm ist sich nicht si-
cher, scheint dieser Sicht aber zuzunei-
gen. Aber wenn Bismarck der französi-
schenRegierungeineFallestellte,sostürz-
te diese sich mit Begier hinein. Nachdem
Wilhelm I. die spanische Thronkandida-
tureinesPrinzenausderkatholischenSei-
tenliniedesHauses Hohenzollern zurück-
gezogen und damit dem verständlichen
französischen Druck nachgegeben hatte,
wollte Paris aus einem großen Erfolg den
totalen Triumph machen. Außenminister
Gramont verlangte den Verzicht für alle
Zeiten und eine Entschuldigung Wil-
helms bei Napoleon III. Damit überzog er
das Konto seines Staates, was seinem ent-
setzten Regierungschef Ollivier auch so-
fort klarwar.Auf dieEmser Depesche,mit
der das Ansinnen zurückgewiesen wurde,
folgte die Kriegserklärung.
Frankreich begann den Krieg ohne di-
plomatische Deckung. Europa sah Preu-
ßenundseinenalsfriedenswilligbeurteil-
tenKönigimRecht.Und wennParisaufös-
terreichischen Beistand hoffte, so gegen
besseres Wissen. Österreich konnte sich
unmöglich gegen Preußen stellen, wenn
das mit dem Zugriff Frankreichs auf die
linksrheinischen Gebiete einherging, und
hatte das auch früh durchblicken lassen.
Allenfalls auf Wunsch der süddeutschen
Staaten hätte sich ein Engagement den-
ken lassen, aber von einem solchen
Wunsch konnte keine Rede sein, Bayern
hatte mit der Pfalz ja selbst linksrheini-
sche Interessen. Dazu kam die nationale
Aufwallung auch in Süddeutschland.
Wohl war die Begeisterung eine Sache vor
allem der höheren Stände und größeren
Städte, aber das ist in solchen Fällen das
Übliche.
WarFrankreichindenKriegohnediplo-
matische Vorbereitung getreten, so er-
wies es sich auch militärisch als über-
rascht. Im Kabinett erklärte Kriegsminis-
ter Lebœuf seine Armee für „erzbereit“
(archi-prêt), doch das war sie nicht. Esgab
keine Aufmarschpläne, für den Eisen-
bahntransport waren keine Vorkehrun-
gen getroffen. Anders in Berlin. Der preu-
ßisch-deutscheAufmarschvollzogsichru-
hig,fastlangsam (die Zügeverkehrtenmit
einer Durchschnittsgeschwindigkeit von
25 Stundenkilometern), aber planmäßig.
So wurde der Krieg mit den ersten Tagen
schon auf französisches Gebiet getragen.
Namentlich der reibungslose Auf-
marsch hat zu dem verbreiteten Glauben
beigetragen, die späteren deutschen Sie-
ge seien Ergebnis überlegener Planung,
gründlicher geistiger Arbeit gewesen, ein
Eindruck, den viele Franzosen teilten.
Das ist nicht ganz falsch, aber verkennt
ein wesentliches Moment der Kriegsfüh-
rung vor allem der ersten Wochen: den
selbstständigen und oft unbeherrschten
Offensivgeist, der unterhalb der Ebene
des Großen Generalstabs herrschte.
Bei Spichern zum Beispiel hatten sich
die Franzosen auf einer Anhöhe ver-
schanzt,ihreStellung warkaumeinzuneh-
men, zumal der Aufstieg sehr steil war.
Dennoch wurde der Angriff gewagt, ge-
langzuletztauch,dochnurunterschreck-
lichen Verlusten. Die psychische Wirkung
war groß. Aber ein Beispiel glänzender
Führung wurde hier nicht gegeben,
Bremm nennt sie „stümperhaft“.
ZusolchenUrteilen gabesvielGelegen-
heit. Wilhelm I. und sein Sohn, der Kron-
prinz, waren immer wieder entsetzt von
den schweren Verlusten. Ende August
sprachWilhelmineinemBefehlan dieAr-
meeseineErwartungaus,es werdederIn-
telligenz seiner Offiziere wohl gelingen,
durch„gründlichereVorbereitungdesAn-
griffs“ künftig dieselben Erfolge mit ge-
ringeren Opfern zu erreichen. Bismarck
sahes ähnlich,machte die „Gier nachdem
EisernenKreuz“verantwortlichund resü-
mierte: „Nur Faust, kein Kopf und doch
siegen wir.“ Immerhin muss man den auf
Bravour gestellten Offizieren zugestehen,
dass sie die Gefahren der Truppen teilten;
ihre Verluste waren enorm hoch.
Mit der Kapitulation bei Sedan war das
Ende des französischen Kaiserreichs ge-
kommen, aber die Republik setzte den
Kampf fort. Das ist besonders interes-
sant, weil nun das „Volk“ gegen den Ein-
dringling mobilisiert wurde, hier hätte
man sich eine ausführlichere politische
Darstellung gewünscht und auf manche
Details der Kampfhandlungen auch ver-
zichten können. Marx hielt die Kritik an
der französischen Kriegsführung ein-
schließlich des Einsatzes von Freischär-
lern für lächerlich, das sei eine „echt ho-
henzollernsche Idee“. Aber von heute aus
wird man vielleicht eher Moltke zustim-
men, der in der Mobilisierung des Volkes
jenseits der regulären Armeen eine Ent-
hemmungsah,einen„Rückschritt zurBar-
barei“.
Dabeimag Moltke auchdieStandesego-
ismen des militärischen Expertentums
verteidigt haben, aber damit war er nicht
unbedingt im Unrecht. Die Frage, worin
der deutsche Erfolg begründet lag, beant-
wortet Bremm jedenfalls zu seinen Guns-
ten. In Tapferkeit und taktischer Führung
seidiedeutscheSeitedenFranzosen nicht
überlegen gewesen, wohl aber in der Fä-
higkeit, Dispositionen im großen Maß-
stab zu treffen, in dem, was man Strategie
nennt.
Dabei liegt in militärischer Fachmann-
schaft nicht unbedingt eine Mäßigung.
DiepreußischeArtilleriewarderfranzösi-
schen technisch stark überlegen. Deut-
schen Offizieren gab das Anlass, von einer
„wahrhaft grauenhaften Sicherheit“ zu
sprechen, mit der das Gelände „vom Fein-
de gesäubert“ wurde. Das ist es, was den
Krieg von 1870/71 historisch interessant
macht,seine Positionauf demWeg zumin-
dustrialisierten Krieg. Es gibt bereits die
modernen Elemente in Waffen-, Ver-
kehrs- und Nachrichtentechnik. Aber es
gibtauchnoch eingrenzüberschreitendes
Gefühl der Offiziere und Monarchen, ei-
nergemeinsamen europäischenKastean-
zugehören. Das aber ist von nationalen
Empfindungen schon angekratzt.
stephan speicher
von fritz göttler
V
erzögert wirkt die Schrift,
manchmal scheint sie den Ge-
dankengang zu bremsen. Die
Worte wollen sich nicht zu ei-
nem Schreibfluss formen, die
Buchstaben kommen als einzelne daher,
in den Notizen, die der Filmemacher Kon-
rad Wolf sich für eine Stellungnahme
machte zur Ausbürgerung von Wolf Bier-
mann aus der DDR, im Jahr 1976. Konrad
Wolfs Stimme war wichtig, er war damals
Präsident der Akademie der Künste, und
einer der wichtigsten Filmemacher der
DDR, auch international beachtet und er-
folgreich, auf diversen Festivals vertreten,
wo er es oft leichter hatte als in der DDR.
(Sein letzter Film, „Solo Sunny“ gewann
auf der Berlinale 1980 den Silbernen Bä-
ren und lief dann lange in den Kinos, auch
im Westen.)
Ein Misstrauen der Schrift gegenüber
scheint in diesen Worten auf, wie es in den
Fünfzigern und Sechzigern die moderne
Sprachphilosophie entwickelte, gegen die
Schrift, die die Dinge abschließen will, de-
finitiv. Der Bildermacher Konrad Wolf
scheint zu zögern, als er „Verwechslung
von Individualität“ und „Egozentrismus“
auf seinem der Zettel notiert – sie nicht
durch einundoder einvsverbindet, son-
dern mit einen Pfeil, der den Egozentris-
mus aufzuspießen scheint.
Die Protesterklärung einiger Autoren
zur Ausbürgerung vom 17. November 1976
hattederAkademiepräsident nichtmitun-
terschrieben. Er äußerte sich mehrere Ta-
ge nicht, und die Erklärung, die er dann
veröffentlichte, ist merkwürdig gewun-
den, der Argumentation der Partei und
der Kulturbürokraten folgend. Kritik an
der Entscheidung, im Nachhinein, war
nicht intendiert. Seine Aufgabe sah Wolf
darin, zu vermitteln. Viele, auch Freunde,
haben ihm danach Versöhnlertum vorge-
worfen. Konrad Wolf, von den Akademie-
mitgliedern durchweg geachtet, sah sich
in der Isolation.
2005hateseineumfangreicheKonrad-
Wolf-Biografiegegeben, von Wolfgang Ja-
cobsen undRolf Aurich, zwei Mitarbeitern
des Deutschen Filmmuseums in Berlin.
Das neue Buch von Antje Vollmer und
Hans-Eckardt Wenzel istihm verpflichtet,
aber erzählt von der anderen Seite her, es
verringert die historische wissenschaftli-
che Distanz, hat wenig Scheu vor Pathos
und kommt Wolf so ziemlich nahe –
manchmal zu nahe. Die Grüne Antje Voll-
mer, 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des
Bundestags, und Hans-Eckardt Wenzel,
ein populärer Liedermacher und Autor
der DDR – gemeinsam haben sie bereits
ein Buch über die Figuren von Fassbin-
dersBundesrepublikverfasst – versuchen
den Filmemacher und den politischen
MenschenKonradWolfnichtgegeneinan-
der auszuspielen. Sie lassen Freunde und
Mitarbeiter zu Wort kommen, Wolfgang
KohlhaaseundAngelWagenstein,dasEhe-
paar Christa und Gerhard Wolf, um in den
Widersprüchen des sozialistischen Sys-
temsdieEntwicklungseinerEntscheidun-
gen und seiner Kreativität aufzuspüren,
die individuelle Zerrissenheit und die ge-
sellschaftlichen Spannungen.
Die Geschichte von Konrad Wolf fängt
früh an, der erste Teil des Buches ist, wie
auch das von Jacobsen/Aurich, dem Vater
gewidmet, Friedrich Wolf, einer der kraft-
vollen Figuren in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts – Arzt, Kommunist, Vertre-
ter eines natürlichen, vitalen Lebensstils,
was auch die Liebe und den Sex ein-
schloss, Autor erfolgreicher engagierter
Stücke – eins davon hat der Sohn Konrad
1961 verfilmt, „Professor Mamlock“. Un-
ter den Nazis floh Friedrich Wolf mit der
Familie ins Exil. Die Kinder wuchsen in
Moskauauf,KonradundseinBruderMar-
kus, der in der DDR dann Generaloberst
derStasiwurde.Mit17kommtKonrad,ge-
boren 1925, in eine Propaganda-Einheit
der Roten Armee, die Erfahrungen an der
Front sind in einem detaillierten Tage-
buch festgehalten. In „Ich war neunzehn“
hatersiefilmischverarbeitet.Mit zwanzig
ist er für kurze Zeit Stadtkommandant
von Bernau, dann studiert er an der Film-
hochschule in Moskau, mit dreißig kriegt
er einen Vertrag bei der Defa, 1965 wird er,
nach dem internationalen Erfolg von „Der
geteilte Himmel“, zum Präsidenten der
Akademie der Künste gewählt.
Das Buch von Vollmer und Wenzel
greift weitüber denLebenslaufdes Filme-
machers hinaus, es ist die Biografie einer
Epoche, des „Jahrhunderts der Extreme“
–weshalbderBand durchaus indie„Ande-
reBibliothek“ passt,dieauchaufindividu-
elles Schaffen stets historische Akzente
setzt. Daher die prägnanten Exkurse zu
denStrömungendesJahrhunderts,dieJu-
gendbewegung vor dem Krieg, danach
dann die ideologischen und kulturellen
Aufbau- und Normalisierungsbemühun-
gen des Kalten Kriegs, vom Kongress für
kulturelle Freiheit bis zu einem von Chru-
schtschow eingeleiteten Tauwetter.
ZehnJahre vorder Biermann-Krisehat-
te es das ominöse 11. Plenum des ZK der
SED im Dezember 1965 gegeben, mit den
Vorwürfen von Formalismus und Ästheti-
zismus, die schon zur Stalinzeit kursier-
ten. Fast eine gesamte Jahreskinoproduk-
tion wurde verboten – Filme wie „Das Ka-
ninchen bin ich“ von Kurt Maetzig, bei
dem Wolf als Assistent gearbeitet hatte,
oder „Spur der Steine“ von Frank Beyer.
Der junge Akademiepräsident ist frus-
triert, aber er wird dann doch auf der Seite
der Partei stehen, offiziell. Für sich notiert
er ein Jahr später: „Wir stehen vor der
größten Katastrophe unseres Filmschaf-
fens ... wenn alle Gegenwartsfilme fehler-
haft sind, dann muss mit der Ideologie et-
was nicht stimmen – zwingende Logik.“
Auch Konrad Wolf hat bei einigen Fil-
men Probleme mit den Defa-Leuten und
ihren Vorstellungen eines sozialistischen
Realismus gehabt. Im Jahr 1957 dreht er
„Sonnensucher“, im Erzgebirge, über ein
Dorf, das vom Uranabbau der Wismut
lebt. Der Film wird in den Kinos nicht ge-
startet, ist erst 1972 zu sehen. Abstrakter
Humanismus wird ihm beim nächsten
Film vorgeworfen, „Sterne“, in dem ein
deutscher Soldat sich während des Welt-
kriegs in Bulgarien in ein jüdisches Mäd-
chen verliebt. Der Vorwurf des Formalis-
mus ist Wolf nicht neu – in der Tat hat er
im Film „Der geteilte Himmel“ nach dem
Buch von Christa Wolf ganz bewusst die
Stadt Halle so manieristisch gefilmt wie
Antonioni Turin oder Ravenna.
Die Diskrepanz von Humanismus und
Formalismus,dieUnvereinbarkeitvon So-
zialismusundDemokratiehatWolfspoliti-
schesHandelnbestimmt.„Sofrisst“,resü-
mieren Vollmer/Wenzel, „die Angst vorm
Scheitern des Sozialismus auch die Seele
sensibler und durchaus mutiger Sozialis-
ten auf. Konrad Wolf muss geahnt haben,
dass das ganze Konstrukt DDR brüchig
wurdegeradeindieserZeit,alseresmital-
lerpersönlichenRedlichkeitnochzustabi-
lisieren versuchte.“
Konrad Wolf hat lange gebraucht, bis er
sich als Deutscher verstehen konnte, und
er hat sich immer wieder gefragt, wo seine
Heimat wirklich sein mochte. Seine Ju-
gend verbrachte er in Moskau, besonders
glücklich schien sie in den Sommern in
der Intellektuellen-Kolonie Peredelkino
zu sein, hier „war Russland mehr Russ-
land als anderswo“. Es war eine Mütter-
welt,derVaterwarunterwegs,ganzimGe-
gensatz zur DDR-Gesellschaft später, die
von alten Männern und Ideologen be-
stimmt wurde. In der Gemeinschaft des
Filmemachens hat Konrad Wolf die verlo-
rene Heimat, die vermisste Jugend wieder
findenkönnen.EsisteineEinheitvonDen-
ken und Handeln, die Konrad Wolf in die-
ser Arbeit erfährt, wie sein Vater sie noch
ganzselbstverständlicherlebendurfte,be-
vor die faschistischen und sozialistischen
Ideologien Europa zerrissen.
In einem TV-Film von 1977 gibt es einen
geselligenAbend bei Konrad Wolf, da wird
auch das Volkslied „Schwarzer Rabe“ ge-
sungen,dasimFilm„Tschapajew“vonSer-
gej und Georgi Wassiljew erklingt. Wolf
hat ihn oft gesehen, von Jugend an, er lief
im Kino um die Ecke, es ist womöglich der
Film, der ihn zum Kino brachte. Ein Film
aus dem Bürgerkrieg, alles ist ganz klar,
die Roten gegen die Weißen. In der Nacht
vordemKampfsingtderHeldTschapajew
dasLied,dasistwieindenWesternvonHo-
ward Hawks. Nun singt Konrad Wolf das
Lied, die Augen geschlossen. „Als ob das
Lied schon etwas wüsste, dasdem Singen-
den nur als blasse Ahnung innewohnt ...“
Dieses Lied könnte die wirkliche Heimat
des Konrad Wolf sein.
Antje Vollmer, Hans-Eckardt Wenzel:Konrad
Wolf. Chronist im Jahrhundert der Extreme. Die An-
dereBibliothek, Berlin 2019. 467 Seiten, 42 Euro.
Klaus-Jürgen Bremm:
70/71.
Preußens Triumph über Frankreich
und die Folgen.
Wbg/Theiss, Darmstadt 2019.
336 Seiten, 25 Euro.
Schwarzer Rabe
Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel porträtieren den
Filmemacher Konrad Wolf und sein Jahrhundert der Extreme
Mit dem Geld eines Kapitalisten wurde
1924 in Frankfurt am Main das kapitalis-
muskritische Institut für Sozialforschung
gegründet. Als „Frankfurter Schule“ wur-
de die dort entwickelte kritische Theorie
weltberühmt,auchweilsiezehnJahrespä-
ter von den Nationalsozialisten ins ameri-
kanische Exil getrieben wurde. Um sie auf
eine Formel zu bringen, obwohl die unter-
schiedlichen Denker der kritischen Theo-
rie formelhaftes Marketing hassten: Das
Institut für Sozialforschung verband eine
zwischen Pessimismus und Utopie chan-
gierende, jedenfalls nicht-revolutionäre
Lektüre von KarlMarx mit einer von
SigmundFreudinspiriertenSozialpsycho-
logie der modernen Gesellschaft.
Heute finanzieren Internetkonzerne
Ethikinstitute. Und heute gibt es drei Pro-
blembereiche, in denen wieder neu an die
Schriften der Frankfurter Schule ange-
knüpft wird. Erstens die Frage nach dem
„autoritären Charakter“: Warum wollen
inhalbwegs freien, marktwirtschaftlichen
Gesellschaften wieder mehr Bürger von
intoleranten Rechtspopulisten beherrscht
werden?
Zweitens scheinen die düsteren Be-
schreibungen einer „Kulturindustrie“, die
Theodor W. Adorno und andere in der
Mitte des 20. Jahrhunderts entwarfen,
erst in den Apparaturen des kaliforni-
schenNetz-Kapitalismussorichtigzugrei-
fen: die Verzahnung von ständiger Selbst-
darstellung und gezielter Weckung von
Konsumbedürfnissen; die digitale Indivi-
dualität, die zur Konformität wird.
Und drittens, damit zusammenhän-
gend,istdieschwierige Verständigungdar-
über im Gang, welchen „Strukturwandel
der Öffentlichkeit“ die digitale Kommuni-
kation eigentlich mit sich bringt – so hieß
die 1962 erschienene Habilitationsschrift
von Jürgen Habermas. Gibt es überhaupt
einendemokratischen Debattenraum,der
nicht vollkommen fragmentiert oder, wie
Habermas damals schrieb, „vermachtet“
ist?Wasverändertsich,wenndie„One-to-
many“-KommunikationderMassenmedi-
enindie„Many-to-many“-Kommunikati-
on im Internet übergeht?
ZualldiesenFragenderAktualisierbar-
keit äußert sich der linke britische Publi-
zist Stuart Jeffries in seiner Geschichte
derFrankfurter Schule.Es sindaberleider
die schwächeren Passagen seines Buches,
weil sie das kulturkritische Klagen ein-
fach in die Gegenwart perpetuieren, und
weil weder die historischen Differenzen
noch andere soziologische Perspektiven
zurSprachekommen.„Mankannwohl sa-
gen“, schreibt Jeffries, „dass wir noch im-
merineinerWeltleben,diederjenigenäh-
nelt, die von den Frankfurter Theoreti-
kern so harsch kritisiert wurde – auch
wenn wir mehr Wahlfreiheiten haben als
je zuvor.“ Ja, das kann man wohl sagen,
aber lieber wüsste man es etwas genauer.
Starkhingegenistdergesamteerzähle-
rische Zugriff des Buches. Es heißt „Grand
Hotel Abgrund“, weil einst der marxisti-
sche Literaturtheoretiker und Philosoph
Georg Lukácsden Frankfurtern mitdieser
Benennung vorwarf, sie hätten sich zu fol-
genlos und feinsinnig in der dialektischen
Negativitätihrer Gesellschaftskritikeinge-
richtet. Das ist das Dilemma, das Adorno
selbstindenimExilgeschriebenen„Mini-
ma Moralia“ als Problem der kritischen
Theoretiker formuliert hat: „Indem sie
überhaupt noch das Denken gegenüber
der nackten Reproduktion des Daseins
sich gestatten, verhalten sie sich als Privi-
legierte; indem sie es beim Denken belas-
sen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres
Privilegs.“ Max Horkheimer, sein Kompa-
gnonundKo-Autorder„DialektikderAuf-
klärung“, schrieb ebenfalls im Exil 1937,
mit nicht sehr viel mehr Hoffnung, es sei
„die Aufgabe des kritischen Theoretikers,
die Spannung zwischen seiner Einsicht
und der unterdrückten Menschheit, für
die er denkt, zu verringern“.
In genau dieser Spannung nun erzählt
Stuart Jeffries seine Geschichte als eine
„Gruppenbiographie“. Er führt wirklich
sehr lebendig und kundig, und trotz gro-
ßer Verehrung auch gar nicht unkritisch,
durch die Theorie- und Zeitgeschichte:
Walter Benjamin in Neapel und Marseille,
dasVerhältnisvonÄsthetik undZeitkritik,
Denk- und Schreib-Stile, das kaliforni-
sche Exil zwischen Hollywood und Doktor
Faustus,dieZerwürfnisseimZugedesKal-
ten Kriegs und der Studentenbewegung
nebst einer kleinen Ehrenrettung für den
etwas kitschigen Erich Fromm.
Fachleute werden da vieles zu rasant
und pauschal finden und die ideenge-
schichtlichen Werke von Martin Jay, Rolf
Wiggershaus und anderen sowie die ein-
schlägigen Biografien bevorzugen, die
Stuart Jeffries dankbar auswertet. Dafür
dürfte dies die unterhaltsamste, am leich-
testenzu lesendeEinführungindieFrank-
furter Schule sein, die zugleich genug zu
denken gibt. Und mindestens eine gute
Einstimmung für zwei weitere Bücher, die
im November erscheinen werden: Eine
neue Biografie über die „graue Eminenz“
Friedrich Pollocksowie JürgenHabermas
monumentalesAlterswerküberdieGenea-
logie von Glauben und Wissen.
johan schlo emann
„Nur Faust, kein Kopf“
Klaus-Jürgen Bremm erzählt die Geschichte des Krieges von 1870/71
„... wenn alle Gegenwartsfilme
fehlerhaft sind,
dann muss mit der
Ideologie etwas nicht stimmen
- zwingende Logik“
Stuart Jeffries:
GrandHotel Abgrund.
Die Frankfurter Schule
und ihre Zeit. Aus dem
Englischen übersetzt
von Susanne Held.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2019.
509 Seiten, 28 Euro.
Denken für die Menschheit
„Grand Hotel Abgrund“: Stuart Jeffries führt durch die Frankfurter Schule
Moltke sah in der Mobilisierung
des Volkes einen
„Rückschritt zur Barbarei“
18 V2 LITERATUR SACHBUCH SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH