Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
von gust av seibt

A

m 17. Mai 1948 machte Dolf
Sternberger seiner alten Studi-
enfreundin Hannah Arendt –
manwarsichamEndederZwan-
ziger Jahre im Seminar von Karl

Jaspers begegnet – einen hochtönenden


Vorschlag.Siesolltenbeweisen,„dassOze-


ane Pfützen sind“ und ihre Plätze tau-


schen. Sternberger wünschte sehnlich,


endlich in die USA zu kommen, das Land,


indemArendtnachihrerFluchtvordenNa-


zis eine zweite Heimat gefunden hatte.


Nun winkte ein Stipendium, aber wer

sollte dannDie Wandlungleiten, die Zeit-


schrift, mit der Sternberger seit November
1945 das intellektuelle Leben im besetzten
Deutschland maßgeblich prägte und für
dieerHannahArendtalsauffallendeAuto-
rin gewonnen hatte? Könnte nicht die „lie-
be“, aber damals noch gesiezte Hannah ihn
in der Heidelberger Redaktionsstube ver-
treten? „Sie könnten“, so Sternberger, „ei-
nen Pfiff ertönen lassen, dass die Men-
schen, die ,möglichen’Menschen in allen
Kontinenten die Ohren spitzen.“
So grandios die Aussicht, der Brief en-
det mit einer weiteren Bitte um Tee, der
vier Wochen vor der Währungsreform
noch immer Mangelware war. Hannah
Arendt antwortet auf den Vorschlag erst

zwei Monate später mit einem großen
Brief, der bares Entsetzen bekundet. „Was
mir ganz unmöglich scheint, ist erstens,
dasseinJudedieWandlungleitetundzwei-
tens dass ein Jude sich damit einverstan-
den erklärt.“ „Muss ich Ihnen erzählen,
dass Deutschland noch nie so antisemi-
tisch war wie gerade jetzt?“ Auch spreche
ihre, Hannahs, Konzessionslosigkeitdage-
gen. Der Grund der Absage ist Angst: „Ich
habe einfach Angst vor Deutschland und
ich habe nicht – was mich diese Angst viel-
leicht überwinden ließe – Heimweh. (...)
DieallermeistenMenschen,dieichvonfrü-
her her kenne, möchte ich in meinem gan-
zen Leben nie wieder sehen.“
Den Empfänger Sternberger und des-
sen jüdische Frau Ilse nimmt Arendt aus-
drücklich aus, außerdem den gemeinsa-
men Lehrer Jaspers, dem sie bis zum Ende
des Lebens die Treue hielt. Was Sentimen-
talität angehe, habe sie, so zusammenfas-
send,„dieSeeleeinesbesserenSchlächter-
hunds“. So blieb das Experiment einer
parallelzurGründungderBundesrepublik
von Hannah Arendt redigierten Zeitschrift
ungewagt. Doch kann man die entsetzte
Abwehr begreifen. Die erste Abhandlung,
die Arendt 1946 zurWandlungbeigesteu-
ert hatte, handelte von „organisierter
Schuld“.DortwehrtesiezwardieKollektiv-
schuldthese von den Deutschen ab, be-
schriebaber zugleicheinen neuartigenTä-

tertypus, der nicht die bizarren Züge des
NS-Führungspersonals trug, sondern ein
Spießer war, „mit allem Anschein der Re-
spectabilität, mit allen Gewohnheiten ei-
nes guten Familienvaters, der seine Frau
nicht betrügtund fürseine Kindereine an-
ständige Zukunft sichern will“.
In der Welt dieser weiterlebenden un-
auffälligen Verbrecher wollte Arendt um
keinen Preis zurück. Das hätte Sternber-
ger, der ihren Essay mit gebührender Be-
wunderungempfangenhatte,vielleichtso-
gar voraussehen können. Auch er, dessen
Frau in einem Versteck überlebt hatte und
zeitlebens traumatisiert blieb, fühlte sich
nur ein Jahr nach dem ozeanischen Vor-
schlag in Deutschland so unwohl, dass er
an Auswanderung dachte. Soeben war ein
erster Prozess gegen Veit Harlan, den Re-
gisseur des antisemitischen Hetzfilms
„Jud Süß“ eingestellt worden, und Stern-
berger resümierte verbittert: „Im Grunde
ist beinahe alles gescheitert, was ich wollte


  • ich meine in der Sache, in der Substanz,
    bei gleichzeitigen persönlichen Erfolgen
    an Publizität und Renommé.“
    Das schrieb er vier Wochen vor der Ver-
    kündungdesGrundgesetzes,dasderspäte-
    re Erfinder des „Verfassungspatriotis-
    mus“ als „schwächliches Bonner Mach-
    werk“beurteilte,dasimFalleeinerWieder-
    vereinigungden„bolschewistischenRouti-
    niers nicht gewachsen“ sein werde. Nun,
    wenigstens das ist anders gekommen, al-
    lerdings hat Sternberger, der im Sommer
    1989 starb, das nicht mehr erlebt.
    Sehr lebhaft, schön, geistvoll ist dieser
    Briefwechselzweiereigenwilliger,hochbe-
    gabter Charaktere, die bei allen Differen-
    zen in Temperament und Ansichten wuss-
    ten, was sie aneinander hatten. Sternber-
    ger ist der Treuere der beiden, der Dienen-
    dere, auch wenn er gelegentlich Anerken-
    nungstribute für nach Amerika geschickte
    Schriften von der hochfahrenden und et-
    was chaotisch-säumigen Briefpartnerin
    einfordert. Die drei Jahrzehnte des Aus-
    tauschs, der bald von regelmäßigen Besu-
    chen in den Ländern des jeweils anderen
    belebt wurde – seit 1948 duzte man sich,
    und setzte Dolf keinen „Gruss“ ohne einen
    „Kuss“ ans Briefende –, zeigen beide stau-
    nenswert produktiv.
    HannahArendtsRuhmsteigt immerhö-
    her, befestigt mit allen Mitteln, die von ei-
    ner kritischen Werkausgabe bis zu einem
    Film und der Graphic Novel reichen und
    mit vielverkauften Einzelschriften auch
    das breite Publikum erreichen. Von Stern-
    bergeristfastnurnochdieIdeedes„Verfas-
    sungspatriotismus“ im Umlauf, meist in
    der Umformulierung durch Jürgen Haber-
    mas, welche Staatsbürgerlichkeit, Liebe
    zur eigenen Republik, ohne ethnisch-kul-
    turalistisch-nationalistische Verengung
    entwirft. Dass Sternberger als akademi-
    scher Lehrer und glanzvoller Schriftsteller
    die neue Wissenschaft von der Politik in
    Deutschland mitbegründete, wissen nur
    noch Fachleute. Dabei gibt es bei ihm eine
    beträchtliche Schnittmenge mit Arendts
    auf Aristoteles zurückgehendes Verständ-
    nisvon Politik:als Raummenschlicher Be-
    währung unter Ebenbürtigen.
    Sternberger hat Arendts „Vita activa“ in
    einer gescheiten Rezension in derFAZge-
    würdigt und nach ihrem Tod eine wunder-
    volle Zusammenfassung ihres politischen
    DenkensfüreinSonderheftdesMerkurge-
    liefert, „Die versunkene Stadt“. Die von
    Udo Bermbach, der beide persönlich ken-
    nengelernt hat, eingeleitete Ausgabe ent-
    hält zwei Essays von Arendt, die sie für
    SternbergersWandlungschrieb: den über
    die „organisierte Schuld“, der in vielen Zü-
    gen das Buch über „Eichmann in Jerusa-
    lem“ vorwegnimmt, und einen über „Kon-
    zentrationsläger“(so!),denSternbergerzu-


recht bewunderte. Hier wird zum ersten
MaldasMaßderEntmenschlichunginden
Lagern der Nazis und der Sowjetunion auf
Begriffe gebracht,die aufdasspätereTota-
litarismus-Buch vorausweisen.
Warum aber ist Sternberger, der heute
weniger Bekannte, in der Ausgabe nur mit
einerbelanglosenGeburtstagsredevertre-
ten?HättemandieRezensionzur„Vitaacti-
va“unddie„VersunkeneStadt“aufgenom-
men, wäre das Bild rund geworden. Auch
hätte sich eine kleine, im Kommentar
nicht erläuterte Kontroverse geklärt. Als
Dank für die schöne Besprechung offeriert
Arendt, für Sternberger ein gutes Essen zu
kochen, auch damit der Freund erkenne,
dass ihr Begriff von „Arbeit“ als eher
stumpfer Reproduktion eigentlich aus der
KücheundnichtvomAckerkomme.Stern-
berger nämlich hatte moniert, dass Arendt
den Ackerbau unterschätze, der nicht nur
„Arbeit“, sondern durch Züchtung auch
„Erfindung“ sei. In der Küche, so Arendt,
werde Sternberger schon sehen, dass ein
Omelett „kaum fertig, auch schon wieder
verschwunden“ sei. Sternberger repliziert,
es komme aber nicht auf das konkrete
Omelett, sondern aufs Rezept an, weshalb
eine Eissorte auch zurecht nach Fürst Pü-
ckler benannt sei.
Der Kommentar schweigt zu der klei-
nen Kontroverse. Überhaupt muss hier
nüchtern festgehalten werden, dass die
Nichtigkeit dieses Kommentars und die
Schlampigkeit der Edition sensationell
sind. Erläutert werden überwiegend be-
kanntePersonennamen,dieineininforma-
tives Register gehörten und die fast durch-
weg bei Wikipedia zu finden sind. Wobei
dann allerdings Wichtiges vergessen wird,
wenn etwa bei Joachim Fest dessen eigene
Beziehung zu Hannah Arendt unerwähnt
bleibt. Der kurioseste Aussetzer ist, dass
ein Brief Sternbergers vom 13. September
1949unter demDatum des 13.Septembers
1959 noch einmal abgedruckt wird.
Dabei handelt es sich um ein kaum zu
vergessendes Schreiben, das zum größten
StreitindiesemBriefwechselgehört.Stern-
berger und Arendt sind sich höchst unei-
nig über Martin Heidegger, ein Dissens,
der auf die Vorkriegszeit zurückging, als
Sternberger Heideggers Todesverständnis
sprachkritisch anging. Dies wiederholte er
nun beim „Brief über den Humanismus“,
und daraus entspinnt sich eine mehrjähri-
ge Kontroverse. Arendt, von deren Liebes-
beziehung zu Heidegger Sternberger
nichts ahnte, verteidigt den Philosophen
flammend und mit persönlicher Schärfe.
Wie sie überhaupt zu einer gewissen Her-
ablassung neigt, nicht nur in einem Brief
an Jaspers, den Sternberger noch lesen
musste und der ihm „Außergewöhnlich-
keit“ abspricht, sondern auch im Lob: „Es
ist immer erstaunlich, wie gut und gleich-
sam leicht Du Dinge weisst, die man in
Deutschland schlechterdings nicht weiss,
noch nicht einmal ahnt.“
Dabei stimmt das, nur dass Sternber-
gers Leichtigkeit als Schriftsteller die
Gründlichkeit seines Forschens und Den-
kens elegant untertreibt. Wer diesen wun-
dervollen,bisindieliteraturpolitischenDe-
tails interessanten Briefwechsel aus der
Hand legt, könnte also nicht nur bei
Arendt, sondern auch bei Sternberger wei-
terlesen. Neben den in die Geschichte der
Bundesrepublik eingegangenen Leitarti-
kelnfürdieFAZ,sindhieraktuellsteEntde-
ckungen zu machen, etwa eine Theorie der
Repräsentation gegen den Populismus
undeingegenCarlSchmittgewendeterBe-
griff des Politischen, der nicht auf das
Freund-Feind-Verhältnis baut, sondern
festhält: „Der Friede ist daseinzige Ziel der
Politik, aber die Politik ist auch der einzige
Weg zum Frieden.“

Angst vor


Deutschland


Politikunter Ebenbürtigen: Hannah Arendt


im Briefwechsel mit Dolf Sternberger


Hannah Arendt,
Dolf Sternberger:
„Ich bin Dir halt ein bisschen
zu revolutionär“.
Briefwechsel 1946 bis 1975.
Hrsg. von Udo Bermbach.
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2019.
480 Seiten, 38 Euro.

Das Puppentheater und die Chroniken
vonPrag, wo sie 1946 geboren wurde, ha-


ben es der Romanautorin und Essayistin


Daniela Hodrová angetan. Aber die „alte


Chronik“ gibt es nicht bei ihr, alles, was je


inPraggeschehenist,hataufihrerProsa-


bühne gleichzeitig seinen Auftritt. Und


sienimmtsich selbst nichtaus demSpiel,


wennsieaufdemWenzelsplatzdie hinge-


richteten Hussiten de Jahres 1621 auf die


Demonstranten im Herbst 1989 treffen


lässt oder in der Alchemistengasse der


Wahrsagerin begegnet, die den Nazis ihr


Endeprophezeiteund1944vonderGesta-


po ermordet wurde.


Zu Recht steht das Ich der Autorin an

erster StelledesTitels,aberes erhebt sich


nichtüberdieStadt,esistderPunktstrah-


ler, der die Schauplätze in das Licht einer


Lebenserfahrung taucht, die das Defilee


der Pioniere vor der kommunistischen


Staatsführung, die Revolution von 1968


und vor allem den Umbruch der Jahre


1989/90umfasst.AufTschechischistdie-


ses Prag-Buch 1992 erschienen, es ist mit


der Erfahrung des Umbruchs imprä-


gniert. Nun ist es auch auf Deutsch da –


und zum Zeitzeugen geworden. lmue


Daniela Hodrová:Ich sehe die Stadt .... Aus dem


Tschechischen und herausgegeben von Eduard


Schreiber. Mit einem Nachwort von Radonitzer.


Arco Verlag, Wuppertal und Wien 2019. 136 Sei-


ten, 16 Euro.


Epochenpanoramen stehen hoch im Kurs.
EinGrunddafürmagdieextremeUnüber-
sichtlichkeit der Epoche sein, in der wir le-
ben. Auch dürfte eine Rolle spielen, dass
Recherche und Materialsammlung, sei es
zu einem bestimmten Jahr, einem Jahr-
hundert oder einer kulturgeschichtlichen
Periode, dank digitaler Werkzeuge so viel
einfacher geworden sind.
Das Panorama schließt seiner Natur
nachdenBlickindieTiefe aus,undZeitrei-
sen der panoramischen Art sind immer
Pauschalreisen, bei denen man zwar einen
kompetentenFührermitbucht,dieaberei-
gene Erkundungen und Erfahrungen
nicht ersetzen. Sie können allerdings Stoff
und Anregungen bieten, um sich von dem
jeweiligen Zeitalter selbst ein Bild zu ma-
chenoder,im Idealfall,ein Gefühl dafürzu
entwickeln.
Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer
betreibt seit einigen Jahren ein erfolgrei-
ches Reiseunternehmen in diesem Sinne.
Zunächst begab er sich in die Goethezeit
(„Als Deutschland nochnicht Deutschland
war,“ 2015), dann ging es in die Epoche
MartinLuthers(„Als unserDeutsch erfun-
den wurde“, 2016), und nun, nach einem
persönlich geprägten, dem technisch-me-
dialen Fortschritt gewidmeten Ausflug in
diejüngereVergangenheit(„DieVerwand-
lung der Dinge“, 2018), entführt er uns in
die Ära Johann Sebastian Bachs.
Etwas unglücklich gewählt ist dafür der
Titel „Als die Musik in Deutschland spiel-

te“: Erstens spielte sie damals selbstver-
ständlich genauso vernehmbar in Italien,
Frankreich und England, und zweitens
war das aus Fürstentümern bestehende
„Deutschland“ auch schon vorher, zu Zei-
tenvonHeinrichSchütz,DietrichBuxtehu-
de und den Bach-Vorfahren, eine klingen-
deLandschaftundeinNährbodenmusika-
lischer Kreativität.
Im Vorwort erfährt man, dass der Autor
die Formulierung mit „nationaler Selbst-
ironie“ verstandenwissenwill,dochimTi-
tel suggeriert sie ein Bild, das zu dem re-
genAustausch, derim 17. und 18. Jahrhun-
dert unter den europäischen Musikern
herrschte, so gar nicht passt.
Es geht aber in diesem Buch nicht ei-
gentlich um Musik, sondern vielmehr um
diepolitischen,ökonomischenundlebens-
weltlichen Bedingungen, unter denen zu
Lebzeiten des bekanntesten Mitglieds der
Bach-Familie(dessenRuhmjaerst vielspä-
ter in überirdische Höhen wuchs) in deut-

schen Landen komponiert und musiziert
wurde. WieschonimFalleGoethesundLu-
thers, so hat Bruno Preisendörfer sich
auch hier eine prägende Gestalt der von
ihm besichtigten Epoche zum Schutzpa-
tron erkoren, ohne sich jedoch auf dessen
Werk und Wirken intensiv einzulassen
oder gar Kennerschaft vorzuspiegeln. Er
nenntBachzwarseinen„Lieblingskompo-
nisten“, verhehlt aber nicht, dass er mit
der Musik des Thomaskantors eher ober-
flächlich vertraut ist. Sonst würde er auch
kaum das längst widerlegte Klischee auf-
wärmen, dass die zu Bachs Zeiten einge-
setzten Orchester uns Heutigen „enttäu-
schend dünn besetzt“ vorkämen, „ebenso
die Chöre mit nicht einmal zwei Dutzend
Sängern“.
Wenn Bruno Preisendörfer seine per-
sönlichen Ansichten und Vorlieben mit-
teilt, ist das manchmal, wie bei jedem Rei-
seführer, mit einem Körnchen Salz zu ge-
nießen. Unschlagbar sind jedoch der Fleiß
unddieFindigkeit,mitdenenerden lesen-
den Epochentouristen Zutritt verschafft
zuverborgenen Eckenund Winkeln, ihnen
Räume aufschließt, von deren Existenz sie
nichtsahnten,und ihnendieRückseitenje-
ner Fassaden zeigt, die sie bis dahin für
das Ganze halten mochten. Herrschafts-
verhältnisseundTrinkgewohnheiten, Klei-
derordnungundPerückenpflege,Hofzere-
moniell und Volksbildung, Kochrezepte
undKriegshandwerk,FolterundGerichts-
barkeit, Ehe und Prostitution, Porzellan-

herstellung und Gartenbau, Medizin und
Bestattungswesen: Zu gefühlt jedwedem
Segment des historischen Alltags schüttet
Preisendörfer ein Füllhorn anzeitgenössi-
schen Quellen und Zitaten aus.
Und hier natürlich zu den Themen, die
speziell den Musikerberuf betreffen, wie
Bewerbungs-Odysseen und Zahlungs-
Usancen, Gottesdienstpraxis und Noten-
schreiberei. Im Fokus stehen die drei Gro-
ßen: Bach, oft mit Obrigkeiten im Clinch
und von Familiensorgen geplagt, Händel,
zur Völlerei neigend und bald nach Eng-
land abgängig, und Telemann, Blumen-
liebhaber und immer etwas unterschätzt.

Aber auch kleinere Meister wie Quantz
unddieGraun-Brüderwerdenkurzbelich-
tet.EsgibtExkurseüberGalanterieundPi-
etismus, über Leibniz als Urahn des Com-
puters und Albrecht Haller als Leichense-
zierer, über den Theaterstreit zwischen
Gottsched und der Neuberin, und es gibt
gleich zu Beginn den Versuch einer Be-
griffserklärung für das „Barock“, zwi-
schendessenvielfältigenErscheinungsfor-
mender Autor,wieer bekennt, keine rech-
te Verbindung findet. Und so stellt er denn
auch zwischen den zahllosen Facetten sei-
nesEpochenporträtszwarjedeMengeVer-

knüpfungen her, aber keinen Zusammen-
hang. Alles hat den gleichen Stellenwert,
die Abschnitte sind kurz, es wird vor- und
zurückgesurft, gehupft und gesprungen,
wie es der netzgewohnten Wahrnehmung
entspricht.
Das hat den Vorteil, dass man portions-
weise immer nur das lesen kann, was ei-
nen gerade interessiert. Dass Preisendör-
fer kein Freund von Aristokratie und Kle-
rus ist und den Blick häufig auf soziale
Missstände richtet, gehört zu seinem Pro-
fil;dass erTexte zu Bachs geistlichen Kan-
taten unter dem Niveau eines Kulturwis-
senschaftlers verspottet („Leidenskitsch“,
„schmalzige Ergebenheit“), sei ihm nach-
gesehen.
Was man aber in seinem Buch vermisst
hat, wird am Ende deutlich, wenn er über
das Altus-Rezitativ „Der Glocken beben-
des Getön“ in der Kantate BWV 198, der
Trauerode auf den Tod der Kurfürstin von
Sachsen, schreibt: „In Bachs Vertonung ...
simulieren an dieser Stelle für fünfzig Se-
kunden die Streicher, Flöten, Oboen und
Lauten das Totengeläut, dass es einem
beim Hören noch heute tatsächlich durch
‚Mark und Adern‘geht.“ Hier öffnet sich,
durch die Schilderung von wenigen Tak-
ten Musik, ganz kurz ein Fenster, das
mehr über Bach und seine Zeit verrät, als
es die detailreichste Darstellung von Le-
bensumständen vermag. Und der Hinweis
auf„dieseStelle“istschondieganzeLektü-
re wert. kristin a maidt- zink e

Nachdem sie aus der Frankfurter Verlagsanstalt herausgedrängt worden waren,
gründete Ida Schöffling gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Schöffling 1993
den literarischen Verlag „Schöffling & Co.“, der in diesem Jahr mit dem Deutschen
Verlagspreis und dem Hessischen Verlagspreis ausgezeichnet wurde und zwei Jahre
zuvor bereits den Kurt-Wolff-Preis erhalten hatte. Das Haus ist eine erste Adresse
für Gegenwartsliteratur und obendrein berühmt für seinen literarischen Katzenkalender.

Der Glocken bebendes Getön


Kundigund detailverliebt führt Bruno Preisendörfer durch die Welt Johann Sebastian Bachs


Bruno Preisendörfer:Als
die Musikin Deutschland
spielte. Reise in die Bach-
zeit. Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2019.
480 Seiten, 25 Euro.

Der Autor ist kein Freund von
Aristokratie und Klerus, er

prangert soziale Missstände an


Die Burg brennt


Daniela Hodorová erkundet


ihre Heimatstadt Prag


DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 – SZ SPEZIAL LITERATUR SACHBUCH V2 19

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