Anke Hilbrenner, Charlotte Jahnz:
Am 9. November.
Innenansichten eines Jahrhunderts.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019,
224 Seiten, 22 Euro.
Wolfgang Brenner:
Das deutsche Datum.
Der neunte November.
Herder, Freiburg 2019.
320 Seiten, 26 Euro.
Der Bundestagspräsident hat sich für ein
Experiment entschieden. Das Experi-
ment geht gründlich schief. Philipp Jen-
ninger (CDU) nimmt den 50. Jahrestag der
Pogromnacht zum Anlass, sich in die Ge-
dankenwelt der Mehrheit der Deutschen
von damals hineinzuversetzen. Und so
klingt es für viele, was er da monoton zi-
tiert, als hätte er selbst Sympathien für
die NS-Ideologie: „Und was die Juden an-
ging: Hatten sie sich nicht in der Vergan-
genheit doch eine Rolle angemaßt – so
hieß es damals –, die ihnen nicht zukam?
Mußten sie nicht endlich einmal Ein-
schränkungen in Kauf nehmen? Hatten
sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ih-
re Schranken gewiesen zu werden? (...)
Und wenn es gar zu schlimm wurde, wie
im November 1938, so konnte man sich
mit den Worten eines Zeitgenossen ja im-
mer noch sagen: ‚Was geht es uns an? Seht
weg, wenn euch graust. Es ist nicht unser
Schicksal.“ Einen Tag später muss der
Bundestagspräsident zurücktreten.
Auch der Jenninger-Skandal gehört
zum 9. November, der die deutsche Ge-
schichte im 20. Jahrhundert geprägt hat
wie kein anderes Datum. Die dazugehöri-
gen Jahre und Ereignisse sind bekannt,
ebenso deren Ambivalenz – und doch ge-
lingteszweiBüchernpünktlichzumMau-
erfalljubiläum, wenig bekannte Aspekte
des 9. November herauszuarbeiten.
Der Publizist Wolfgang Brenner („Das
deutsche Datum“) hat sich vorgenom-
men, ein „deutsches Muster“ und „unter-
gründige Verbindungen“ in diversen No-
vember-Wegmarken zu suchen. Die sind
natürlichfür1918,1923 und1938 leichtzu
finden. Der Hitlerputsch war die Reaktion
auf die Novemberrevolution von 1918,
und die Pogrome gegen Juden 1938 wur-
den von NS-Machthabern am Jahrestag
des Hitlerputsches organisiert. Auch das
missglückte Attentat des Georg Elser am
- November 1939 gehört zwangsläufig in
diese Reihe, denn der Einzelgänger plante
die Ermordung Hitlers bei dessen Auftritt
imBürgerbräukeller,demOrt,andemdie-
ser16 Jahrezuvorseinen„MarschaufBer-
lin“ inszeniert hatte. Schwieriger wird es
mit der Verbindung zum 9. November
1989 – doch das biegt sich Brenner mit
dem Hinweis, 1989 habe sich die Hoff-
nung auf eine demokratische Republik
aus dem Jahr 1918 endlich einlösen las-
sen, ein wenig zurecht.
Brenner zeichnet die jeweiligen Ereig-
nisse mit buntem, breitem, manchmal
ausschweifendem Strich nach, das meiste
istgutundauchspannenderzählt.Manch-
mal ergeht er sich in eher wenig hilfrei-
chen Spekulationen, was gewesen wäre,
wenn ... Bemerkenswert ist hingegen, wie
starkdieBedeutungder„Dolchstoßlegen-
de“ auf viele Novemberereignisse unmit-
telbaren Einfluss hatte. Die Lüge, in die
Welt gesetzt von der Obersten Heereslei-
tung, wonach Sozialisten, Demokraten
und Juden für die Niederlage im Ersten
Weltkrieg alleinverantwortlichseien,ent-
falteteWirkmachtweitüberHitlersRache-
tag für die „Novemberverbrechen“ 1923
hinaus. Von der Schuld der Juden an allen
Übeln, unter denen Deutschland zu leiden
hatte, waren die NS-Führer „besessen“, so
Brenner. Und so kam es 1938 zum ersten
großenTerroraktgegen diedeutschenJu-
den, das „alljährliche Ritual“ in Erinne-
rungan1923reichtenichtmehr,eine „kol-
lektive Tat“ war nötig, um das Volk zu
einen. Dass dann jahrzehntelang der be-
schämendenMordtatendieserlangesoge-
nannten „Reichskristallnacht“ kaum ge-
dacht wurde und, als es dann doch dazu
kam, es mit Jenninger endete, zählt zu
den eindrücklichsten Kapiteln.
Die Historikerinnen Anke Hilbrenner
und Charlotte Jahnz („Am 9. November“)
erzählen auch von den Ereignissen, aller-
dings knapper, nüchterner und meist nur
anhand von zwei Protagonisten. Das fo-
kussiert viele Ereignisse natürlich auf die
Sichtweise der jeweiligen Betrachter. Die
Autorinnen vermeiden es klugerweise
auch,zustarkaufVerbindungenhinzuwei-
sen, wo es keine gibt. Interessant ist, dass
hierdienichtdetonierteBombebeiderGe-
denkveranstaltung zur Pogromnacht im
Jüdischen Gemeindehaus am 9. Novem-
ber1969undauchderHungertoddesRAF-
Terroristen Holger Meins am 9. Novem-
ber 1974 jeweils ein eigenes Kapitel
bekommenhaben(andersübrigensalsGe-
org Elser). So rücken die 68er-Bewegung
und ihre radikalen, zum Teil offen antise-
mitischen Parolen und propalästinensi-
schen Haltungen stärker in den Blick.
Hilbrenner und Jahnz lassen die Ereig-
nisse für sich sprechen, betonen den „Fa-
cettenreichtum der vielen unterschiedli-
chenVergangenheiten“. Als Klammerma-
chen sie in ihrem – leider recht kurzen –
Schlusswort die Verbindungen der Ereig-
nisse in andere europäische Länder aus,
ebenso die Bedeutung von Gewalt bei je-
dem 9. November – und sei es nur ihre
„vermeintliche Abwesenheit“. Für Wolf-
gang Brenner ist die gemeinsame Klam-
mer, dass sich die Protagonisten an jedem
- November selbst unter Zugzwang ge-
setzt hätten. Beide Aspekte bedürfen der
Vertiefung. Der 9. November ist noch
nicht auserzählt. ro bert probst
Johannes Nichelmann:
Nachwendekinder.
Die DDR, unsere Eltern und
das große Schweigen.
Ullstein-Buchverlage, Berlin 2019.
272 Seiten, 20 Euro.
Jana Hensel:
Wie alles anders bleibt.
Geschichten aus Ostdeutschland.
Aufbau-Verlag, Berlin 2019.
317 Seiten, 16 Euro.
Daniela Dahn:
Der Schnee von gestern ist
die Sintflut von heute.
Die Einheit – eine Abrechnung.
Rowohlt, Berlin 2019.
288 Seiten, 14 Euro.
Mehr als
ein Tag im Kalender
Zwei Bücher beleuchten den 9. November
von dietmar süß
W
ie sehr sich die Stimmung
im Lande doch verändert
hat: 30JahreWiederverei-
nigung – und vom Zauber
des Anfangs scheint nicht
mehr viel geblieben zu sein. Überall sor-
genvolle Rückblicke und bittere Bilanzen.
Natürlich:Nichtwenige,vorallemimWes-
ten,habenlange dieAugenvorden lebens-
geschichtlichenBrüchenverschlossen,die
mit der Transformation der einstigen DDR
verbundenwaren:dengroßenArbeitsplatz-
verlusten, den harten, oft auch unfairen
Wettbewerbsbedingungen marktwirt-
schaftlicher Gesellschaften, den schwieri-
gen Kämpfen um Anerkennung und Wür-
de der ostdeutschen Lebensleistung. Diese
Jahre des Vereinigungsschocks sind nicht
spurlos an den Menschenvorübergezogen,
und sie sind noch lange nicht genügender-
zählt – in ihren traurigen, aber auch in ih-
ren hoffnungsfrohen Varianten. Dass sich
nun die zutiefst westdeutsch geprägte AfD
als Kreuzritter des Wiedervereinigungs-
erbes aufspielt und sich ihre bräunlichen
Kader an der Spitze der „Freiheitsbewe-
gung“wähnen,istdereigentlicheTreppen-
witz des Gedenkjahres 2019.
Die Kritik an der Wiedervereinigung
lag bisher vor allem in der Hand der politi-
schen Linken, die mit manch guten Grün-
den Tempo und scheinbare Alternativlo-
sigkeit des ökonomischen Umbruchs ge-
rügt und dafür geworben hatte, die Ge-
schichte von 1989/1990 nicht alleine den
Kohl-Jüngern zu überlassen. Und doch ist
es besorgniserregend, wenn der Tonfall
der Kritik ähnlich wie in Daniela Dahns
neuem Buch als wutschnaubende Abrech-
nung daherkommt. Verstörend daran ist
nicht nur der schrille Ton einer sonst so
klugen und scharfsichtigen Publizistin,
dieselbstTeilderDDR-Oppositionwar;be-
fremdlich sind die einfachen Antworten.
Alles wird mit allem zusammengemischt.
Klar, für die ostdeutsche Misere sei alleine
der westdeutsche „Raubmensch-Kapita-
lismus“ verantwortlich, der mit all seiner
Gewalt über den Osten hergefallen sei. Die
EinheitalskolonialeEroberungsgeschich-
te,dieTreuhandalsdasultimativBöse,die
Wahlgewinne derAfDalsunmittelbareFol-
ge all der Wiedervereinigungsfehler –
wenn Geschichte nur so einfach wäre!
Dahns Darstellung ist prall gefüllt mit
Ressentiments, wilden Gedankensprün-
gen und manch verschwörungstheoreti-
scher Volte. Es ist tatsächlich kein gutes
Zeichen für den Stand der Debatte, wenn
sichselbstsowichtigeStimmenwieDanie-
laDahnsowenigZeit fürdieZwischentöne
und Widersprüchlichkeiten des Vereini-
gungsprozesses nehmen. Parteien, demo-
kratische Institutionen, auch die Systeme
sozialer Sicherheit – sie erscheinen in ih-
rer Streitschriftbeinahe ausschließlich als
Überwältigungsmaschinen. Warum sie
nocheinmaldasalte„antifaschistischeEr-
be“ der DDR hochhalten muss, bleibt ge-
nauso rätselhaft wie ihre These, dass die
„politische Klasse im Westen“ (wer auch
immerdasseinsoll)die„Hauptverantwor-
tung“ für das „Erstarken des Rechtsextre-
mismus im Osten“ trage. Man ertappt sich
beim Lesen auf einmal dabei, den „Wes-
ten“ gegen dieeigene innere Überzeugung
verteidigen zu wollen, weil das Buch so
überzogenundmaßlosargumentiert.Ras-
sistisch geprägt waren jedenfalls beide
deutsche Staaten, und beide hatten aufih-
re ganz eigene Weise große Schwierigkei-
ten,dieVerbrechendesDritten Reiches als
ihre „eigenen“ zu verstehen.
Immer wieder funkeln in knappen Pas-
sagen auch Gedanken, bei denen man sich
wünschte, hier würde die Autorin länger
verweilen, genauer nachdenken, weil sie
eben auch wichtige Punkte markiert:
Denn es ist absolut zutreffend, dass die
Zeitgeschichte die jüngste Vergangenheit
viel zu lange als allzu glatte Erfolgsge-
schichteinterpretiertunddieSchattensei-
ten außen vor gelassen hat. Gegen dieses
hegemoniale Geschichtsbild anzuschrei-
ben ist sehr sinnvoll.
Doch in den erinnerungskulturellen
SchlachtenderGegenwartgibtesauchan-
dere Stimmen; solche, die leiser klingen
unddochlängernachhallen. Fürsein Buch
„Nachwendekinder“hatdermehrfachaus-
gezeichnete Journalist Johannes Nichel-
mann, selbst Jahrgang 1989, Gespräche
mitjungenostdeutschenFrauenundMän-
nern geführt, die alle in den Jahren um
1989 geboren wurden und die DDR zwar
kaummehrauseigenerAnschauungkann-
ten, für die aber das Ende der Diktatur
weitreichende familiäre Folgen hatte; Fol-
gen,überdievielemitihrenElternbisheu-
te kaum gesprochen haben. Was war sie
nun, diese DDR: „Unrechtsstaat“, eine sor-
gendeDiktatur,einostdeutschesIdyll,ein-
fachnur Heimat?Warumnursetztebiswei-
len dieser Verteidigungsmodus ein, wenn
es um die Geschichte der DDR ging? Wie
waren die eigenen Erfahrungen, wenn
man von arroganten Wessis in der Arbeit
oder Schule kurzerhand zum „Ossi“ ge-
macht wurde? Nichelmann erzählt in ein-
fühlsamenPorträtsvondenwidersprüchli-
chenErfahrungen,seineneigenen,undde-
nen seiner Gesprächspartner.
Sein Buch ist auch deshalb so sympa-
thisch, weil er daraus keine große Genera-
tionengeschichte macht, sondern sich auf
die Kraft seiner Beobachtung verlässt, zu-
hört und offen bleibt für all die möglichen
WidersprüchedereigenenundderBiogra-
fienseinerInterviewpartner.Franziskaet-
wagehörtdazu,eine angehendeBiochemi-
kerin, deren Vater erst anlässlich ihrer Ju-
gendweihe das Familiengeheimnis um ih-
ren Opa lüftete. Niemand hatte ihr bisher
erzählt,dasserbeiderStaatssicherheitge-
arbeitetundsichmitseinerDienstwaffeer-
schossen hatte. Ihre Eltern gaben ihr die
Akten,ausdenensieerfuhr,dassihrGroß-
vater vor seinen Tod 1985 sogar die Stasi
hatte verlassen wollen. Aber anders als
manmeinenkönnte,gingdas innerfamili-
äre Gespräch nach der Aktenlektüre nicht
etwa los. Im Gegenteil. Die junge Frau, so
erzählt sie, habe gespürt, dass ihr Vater ei-
gentlich keine Fragen mehr beantworten
wollte.Undsieselbstwolltedannauchkei-
ne mehr stellen: „Ich will keine Wunden
aufreißen und ihm nicht wehtun.“
Nicht alle Geschichten in Nichelmanns
Reportage sind gleichermaßen aufwüh-
lend, und doch kreisen sie alle um das
schwierige Thema „DDR-Aufarbeitung“
aus einer sehr persönlichen, innerfamiliä-
ren Geschichte, die eben keine einfachen
Opfer-Täter-Kategorien kennt. Diese
„Nachwendekinder“ sind auch auf der Su-
che nach so etwas wie „Identität“, und sie
brauchen dafür auch ihre Eltern, mit de-
nen Nichelmann ebenfalls gesprochen
hat. Das macht sein Buch so eindringlich,
weil es eben die Geschichte eines ostdeut-
schen Generationendialoges ist, für den es
bisher kaum einen Resonanzraum und im
Westen kaum ein Gehör gibt.
Es ist dieses wohltuend Suchende, das
Nichelmanns Buch lesenswert macht, ein
Sound, der sich auch in den gesammelten
Reportagen von Jana Hensel findet. Hen-
sel, eine erfahrende und genaue Beobach-
terin ihrer Gegenwart, hat in ihrem Buch
zahlreiche,vielfachschonananderenStel-
len publizierte Geschichten und Inter-
viewsveröffentlichtund aufdieseWeiseei-
nekleineBilanzderVereinigungsgeschich-
te zusammengetragen. Die Leipzigerin,
die vor allem für dieZeitschreibt, versam-
meltStückeausmehralszehnJahrenjour-
nalistischer Arbeit, die sich immer wieder
mit dem Osten Deutschlands beschäfti-
gen. Geschichtspolitische Analysen zur
deutsch-deutschen Erinnerungskultur
sind darunter genauso wie funkelnde Re-
portagen über die Chemnitzer Familie
Kummer unddieBandKraftclub. Nichtal-
le Stücke leuchten gleichermaßen, und
manches Thema wiederholt sich etwas zu
oft. Anregend und unterhaltsam sind ihre
Stückedort,wosie überdie widersprüchli-
chen ostdeutschen Erfahrungen nach-
denkt,überihreHerkunft,diesiemalstolz
mache, ihr auch mal peinlich sei, sie aber
eben immer begleite. „Mein komisches
zweigeteiltes Leben bringt mich zum La-
chen und macht mich traurig, weil es mich
heute oft zu einer Fremden macht und au-
ßerdem nichts mehr von dem, was mich
als Kind selbstverständlich umgab, noch
existiert.“ Womöglich geht es nicht nur ihr
so, und vielleicht würde inzwischen auch
mancher aus dem Westen Ähnliches über
sich schreiben, wenn er an seine Kindheit
im Pott denkt. „Wir stehen ganz am An-
fang“ – so endet Johannes Nichelmann,
undsohättenauchJanaHenselsGeschich-
ten enden können.
Nicht euphorisch, kritisch auch gegen-
über der glatten Sprache der Gegenwart.
Aber nicht bitter, und neugierig auf das,
was kommt. Davon bräuchten wir mehr.
Die haben keine Chance. Die sind ganz
schnell wieder weg. So wie alle anderen
Parteien dieser Art vor ihnen in Deutsch-
land nach dem Zweiten Weltkrieg. In den
Bundestag kommen sie auf keinen Fall.
Wenn doch, werden sie sich schnell zerle-
gen. Einfache Sache.
Von solch falschen Hoffnungen wurde
der beispiellose Aufstieg der AfD in den
sechs Jahren seit ihrer Gründung beglei-
tet, vielleicht sogar befördert. Man fühlte
sich sicher, machte es sich leicht. Bisher
war doch jeder Versuch gescheitert, in
Deutschland eine Partei rechts von CDU
und CSU zu etablieren. Nun sitzt die AfD
seit zwei Jahren mit einer stabilen Frakti-
on im Bundestag und ist in allen Landta-
gen vertreten. Und wenn ein Erfolg allen
Erwartungenwiderspricht,solltemansei-
ne Annahmen überprüfen. So sprechen
die Autoren des Buchs „Smarte Spalter“
zu Recht von einem Rätsel, das sie mit ei-
nem genauen Blick auf Köpfe, Inhalt und
Strukturen der Partei und die Haltung ih-
rer Wähler auflösen wollen. Tatsächlich
leistet dies der von Wolfgang Schroeder
und Bernhard Weßels, beide Professoren
am Berliner Wissenschaftszentrum, her-
ausgegebene Band über die AfD auf ange-
nehm unaufgeregte Art.
Die Autoren haben sich mit der Partei
ausder Nähe beschäftigt, Programme und
umfangreichesozialwissenschaftlicheDa-
ten analysiert. Weil sie das Phänomen als
Politikwissenschaftler kundig einordnen,
stehen am Ende kluge Thesen und offene
Fragen. Eine Stärke des Buchs liegt darin,
wiesiediefürderenErfolgrelevanteAmbi-
valenz der AfD erfassen. Diese Ambiva-
lenz besteht auch darin, dass durch die
AfD bestimmte Themen aufdie Tagesord-
nung kommen, die bisher gemieden wur-
den, die Partei aber „zugleich die Axt an
die Wurzeln der Demokratie legt“. Die Au-
toren sind in ihrer Haltung eindeutig.
Auch ist etwa Wolfgang Schroeder, einer
der Herausgeber, als Sozialdemokrat klar
einzuordnen. Er war mal Staatssekretär in
Brandenburg, ist Mitglied der Grundwer-
tekommission der SPD. Jedoch steht nicht
dieHaltungimVordergrund,sondernEm-
pirie und ein differenzierter Blick auf die
AfD, die auch nach all ihren Metamorpho-
sen hin zum rechten Rand vielschichtiger
ist, als es oft wahrgenommen wird.
EsentstehteinklaresBildderPartei,oh-
ne ihre gegensätzlichen Strömungen zu
ignorieren. Sie entspricht eben nicht dem
Klischeeeinervoneinemcharismatischen
Führer geprägten rechten Organisation.
Es gibt solche Figuren, etwa Björn Höcke,
entscheidend für den Erfolg der AfD sind
sie nicht. Treffend bemerken die Autoren,
dass der Einstieg ins parlamentarische
System nicht gelungen wäre, wenn zu Be-
ginn „rechtsextreme Lautsprecher“ im
Zentrum gestanden hätten. Der Erfolg
war möglich, weil die AfD den Umweg des
Euro-Skeptizismus nahm, angeführt von
konservativen Bürgern, die wie der einsti-
ge Sprecher Bernd Lucke zumeist die Par-
tei längst verlassen haben.
Die Autoren zeigen auf, dass die Partei
heute eine andere ist als 2013. Sie ist zu ei-
ner Heimat für Modernisierungsverlierer
geworden. Es geht dabei nicht um die per-
sönliche Unzufriedenheit von Bürgern,
sondern das Gefühl, als Person Teil einer
Gesellschaftsgruppe zu sein, die an Ein-
fluss und Bedeutung zu verlieren scheint.
Sorgfältig wird herausgearbeitet, dass
die AfD Wähler anzieht, die sich von ande-
ren Parteien nicht mehr vertreten sehen –
etwa Menschen, die Migration ablehnen,
oder meinen, dass Sorgen wegen des Kli-
mawandels unnötig sind. Klar wird damit,
dass die AfD keine schnell vorübergehen-
deErscheinungsein dürfte.Sieschließtei-
ne Repräsentationslücke.
Ein wichtiges Kapitel wertet die für den
AfD-Erfolg bedeutenden Auftritts in den
sozialen Medien wie Facebook oder Twit-
teraus,wodieParteistarkaufEmotionali-
sierungenübernegativbesetzte,polarisie-
rende Begriffe setzte. Die drei in ihren
Tweets am häufigsten verwendeten Wör-
ter lauten: Flüchtlinge, Terror, Gewalt. Es
könnte sich für weitere Forschungen loh-
nen,wennnochintensiveruntersuchtwür-
de, was das Smarte an den „smarten Spal-
tern“ ausmacht.
EinewichtigeErkenntnis bietetdieAna-
lyse des Wählerpotenzials: So dürfte es für
anderen Parteien schwer sein, Wähler zu-
rück zu gewinnen. Zugleich kommen die
Autoren zu dem Schluss, dass die AfD ihr
Potenzial nahezu ausgeschöpft haben
dürfte. Das würde bedeuten, dass die in
der Partei gehegte Hoffnung auf enorme
weitereZuwächse sich nichterfüllen dürf-
te. Was aber würde es für die inneren Ge-
gensätze der AfD bedeuten, wenn sie sta-
gnieren oder Rückschläge erleiden sollte?
BisherkonntendiepragmatischenKräf-
te, die auf baldige Koalitionen hoffen, und
die fundamentalistischen äußerst Rech-
ten leidlich nebeneinander bestehen. Es
gab ständig Streit, aber mehr als genug
Posten zu vergeben. Die Partei profitiert
vom Nebeneinander der Strömungen,
weil sie für unterschiedliche Gruppen
wählbar blieb.
Aber das Gefüge ist fragil. Und es lasse
sich noch nicht sagen, ob die AfD vor einer
ImplosionodereinerneuenMetamorpho-
se stehen könnte. Es zeichnet die Autoren
aus,viele Rätselaufzulösen undjene offen
zu lassen, die offen bleiben müssen.
jens schnei der
Wolfgang Schroeder,
BernhardWeßels(Hg.):
Smarte Spalter.
Die AfD zwischen
Bewegung und Parlament.
Verlag J.H.W.
Dietz Nachf., Bonn 2019.
296Seiten, 22Euro.
„Dies ist nicht das Buch von einem, der es
richtig macht, sondern nur von einem, der
sich nichts mehr vormachen will“,
schreibt Bernd Ulrich, stellvertretender
Chefredakteur derZeit, im Vorwort zu sei-
nem Buch „Alles wird anders – das Zeital-
ter der Ökologie“. Tatsächlich ist das Werk
eingroßesDesillusionierungs-Projekt,zu-
weilen schwer zu ertragen in seiner Scho-
nungslosigkeit. Es ist ein buchgeworde-
nes „Das kann ja wohl alles nicht wahr
sein“, das dem Leser da um die Ohren ge-
hauen wird.
Stimmt, es ist wirklich unfassbar, wie
wirdieNaturvernichten,dasKlimaaufhei-
zen, unsere Lebensgrundlagen zerstören
und uns dabei auch noch kollektiv einre-
den, das sei schon alles irgendwie in Ord-
nung so. Es ist aber doch wahr, leider. Also
stellt sich die Frage: Wie konnte es nur so
weit kommen?
Bernd Ulrich ist nicht der erste, der die-
ser schmerzlichen Frage nachgeht. „War-
umhabenwirunsdasangetan?“,fragteet-
wa der US-Journalist Nathaniel Rich im
vergangenen Jahr in seinem brillanten
und monumentalen Text „Losing Earth“
imNew York TimesMagazine,indemerbe-
schrieb, wie nah die Welt schon in den
Achtzigerjahren einem verbindlichen Kli-
maabkommen kam – und versagte. Richs
Antwort war schlicht: die Natur des Men-
schen;dieAngstderPolitikervordramati-
schen Veränderungen; die Unfähigkeit,
die Zukunft auch nur annähernd so ernst
zu nehmen wie die Gegenwart.
Rich kam zu diesem simplen Schluss
nacheinerobsessivenDetailarbeit,fürsei-
ne Reportage hatte er 18 Monate lang re-
cherchiert unddieEreignisse minutiös re-
konstruiert. Bernd Ulrich geht die Sache
nun sehr anders an: eher von den großen
Linien her als vom Kleinkram. Zum Teil
führtihndieserFlugstartaufderMetaebe-
ne zu interessanten Gedanken. Ein Pro-
blem sieht er etwa in der fatalen gedankli-
chenVerhaftung in der Logik des 20. Jahr-
hunderts. Oder in der fast zwanghaften
Mitte-Orientierung derPolitik,mitderdie
Gesellschaft genau so lange gut gefahren
ist, so lange kein Problem wie der Klima-
wandel sich zeigte, dem man langfristig
nur mit radikalem Wandel begegnen
kann. Was die Mitte-Position, so Ulrichs
Argumentation, quasi zum Extremismus
macht. Hinzu kommt die schwierige „mo-
ralische Struktur der Klimakrise“: Wenn
so harmlose Dinge wie Autofahren so
schreckliche Folgen haben, ergibt sich ei-
ne Art Schuld-Vakuum, das die einen mit
Verdrängung füllen, die anderen mit Vor-
haltungen, und nichts ist gewonnen.
Diese Überlegungen, denen man teils
mehr und teils weniger zustimmen mag,
die aber stets originell sind, sind eine gro-
ßeStärkedesBuches.Esistehergehobene
Kaffeehausdiskussion als Seminararbeit,
eher eine Anregung zur Gesellschafts-
und Selbstreflexion als eine Sammlung
konkreter Erkenntnisse. Als Zugabe gibt
eskräftigePolitik-und Medienkritik –wo-
bei nicht ganz klar wird, ob der Autor sich
bei letzterer auch selber meint.
Der Schwung hat allerdings auch eine
Kehrseite: Mit den Fakten der Klimafor-
schung nimmt es Ulrich nicht übermäßig
genau. Studien tauchen kaum auf, statt-
dessen immer wieder: Peter Sloterdijk.
Oft werden Bücher und Werke anderer
Journalisten erwähnt, allerdings von sehr
unterschiedlicher Qualität. Die fantasti-
sche Recherche von Nathaniel Rich wird
gefühlt in einen Topf geworfen mit David
Wallace-Wells emotionalemText„Dieun-
bewohnbare Erde“. Dabei hat Wallace-
Wells viel Kritik von Klimaforschern ge-
erntet, weil er teils unrealistische Schre-
ckensszenarien als gesicherte Tatsachen
darstellt.
Vielleicht ist auch dieser lockere Um-
gang mit Quellen der Grund, dass viel
Missverständliches oder Übertriebenes
insBuchgelangtist,wasdenStandderFor-
schung angeht. Mal ganz abgesehen von
diversen kleineren und größeren Fehlern
und Ungenauigkeiten; Biomasse wird mit
Kohlenstoffgehalt verwechselt, aus einem
KipppunktderWestantarktiswirdeindro-
hendes Abschmelzen der Polkappen, und
so weiter. Alles kein Drama, aber störend;
und wer sich wirklich für Klimazusam-
menhängeinteressiert,solltevielleichtlie-
ber ein anderes Buch lesen.
Etwas gewöhnungsbedürftig ist auch
der Umgang mit dem Thema Fleischkon-
sum, natürlich ein zentraler Punkt für ei-
nen erklärten Veganer. Dabei gäbe es
schon auch Argumente für einen – dras-
tisch reduzierten – Fleischkonsum; etwa,
weil Menschen anders als Rinder kein
Gras verwerten können. Und wer das Tö-
ten (und Essen) von Tieren generell ab-
lehnt, sollte vielleicht mal mit einem Förs-
ter reden, ohne Jagd ginge es dem Wald
nämlich schlecht. Statt solcher pragmati-
scherAnsätzeabersiehtUlrichimFleisch-
konsum den Versuch, „sein eigenes Leben
in einem spirituellen Sinne mit fremdem
Lebenanzureichern“,eine„flatterhafteMi-
schung aus Schamanismus und Mecha-
nik“. Ist das ernst gemeint, oder ist da je-
mand der Lust am Formulieren erlegen?
Aber es ist das Buch von einem, der
„nicht besser sein will als andere, sondern
der es besser machen will als bisher“, wie
Ulrich schreibt, und das nimmt man ihm
ab.EsisteinsehrpersönlicherAufruf,hin-
terderIllusionvonVernunftundNormali-
tät endlich den alltäglichen Wahnsinn un-
seresLebensundWirtschaftenszubegrei-
fen, und entsprechend zu handeln. Und
dasistganzoffensichtlichnötigeralsjezu-
vor. marl ene weiss
1918, 1923, 1938, 1939, 1989 –
diese Reihe ist bekannt. Aber es
gibt noch andere 9. November
Bernd Ulrich:
Alles wird anders.
Das Zeitalter der Ökologie.
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2019.
224 Seiten, 14,99 Euro.
Mal wieder ist der westdeutsche
„Raubmensch-Kapitalismus“
an allem schuld
Die Partei, gegründet erst
2013, schließt eine
Repräsentationslücke
Ambivalenz für Deutschland
Ein Sammelbandergründet die Erfolge der AfD – faktenreich und klug
Ende der Illusionen
Bernd Ulrichs schwungvolle und schonungslose Klimakrisen-Reflexion
Der notwendige ostdeutsche
Dialog der Generationen fand
im Westen bisher kaum Gehör
Die Suchenden
30 Jahre nach dem Mauerfall dominieren bittere Bilanzen und schräge Tonlagen.
Drei Bücher zeigen exemplarisch, wie man DDR-Geschichte aufarbeiten kann – und wie nicht
20 V2 LITERATUR DAS POLITISCHE BUCH SZ SPEZIAL– Dienstag, 15. Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH