Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1

Es ist schon irgendwie beängstigend: Wir


lebenin einer Welt, die wir uns gar nicht


richtig vorstellen können. Hat der Raum


über uns eine Grenze? Wann istdas All auf


die Welt gekommen? Wie wird alles en-


den?SolcheFragenbeschäftigendieMen-


schenseitvielenJahrtausenden.JedeKul-


turhatversucht,darauforiginelleAntwor-


ten zu finden. In seinem Buch „Wie laut


war eigentlich der Urknall? “ bietet Guil-


laume Duprat auf nur 48 Seiten einen


spannenden und sehr ansprechend illus-


trierten Streifzug durch die Ideenge-


schichte der Kosmologie.


DieReise beginnt bei dem griechischen

Naturphilosophen Anaximander von Mi-


let,derimsechstenJahrhundertvorChris-


tusdieErdeinmitteneinesgewaltigenRa-


des aus Luft und Feuer wähnte und Sonne


und Gestirne gleichsam als Löcher in die-


sem Rad ansah. Der chinesische Astro-


nom Zhang Heng wiederum verglich das


All mit einem Ei. Allen diesen Kosmolo-


gien war gemeinsam, dass unser Planet


im Zentrum stand – eine Annahme, die


sich bis weit in die Renaissance hielt.


Dann trat Nikolaus Kopernikus auf den

Plan. Er verbannte die Erde aus der Mitte


des Universums, in die er stattdessen die


Sonne platzierte. Dieser Heliozentrismus


wurde durchdieBeobachtungen undEnt-


deckungen von Galileo Galilei, Johannes


Kepler und Isaac Newton gefestigt. Guil-


laume Duprat skizziert die Entwicklung


anhand eingängiger Zeichnungen und


knappem, aber verständlichen Texten.


Auf diese Weise erklärt er auch die Welt-
modelle von Albert Einstein, Alexander
Friedmann und Georges Lemaître sowie
dieUrknalltheorie. Der Autorbemühtsich
in diesem Kapitel erfolgreich um Ver-
ständlichkeit. Im folgenden Abschnitt
„DasUniversumheute“wirdderjungeLe-
ser dann nicht nur an die Grenzen des
Weltalls geführt, sondern auch an die der
eigenen Vorstellungskraft. Es geht darin
um die großen Strukturen wie das kosmi-
scheNetz,dasSimulationeninSupercom-
puternzeigen:Danach sind dieGalaxien –
also Systeme wie unsere Milchstraße mit
Milliarden von Sternen – in ein Gespinst
aus (dunkler) Materie eingewoben.
AmSchlussdesBuchsstehenSpekulati-
onenüberdasEndedesAlls,überWurmlö-
cher und Multiversen. Da ist von zehn Di-
mensionendieRede,vonLoopsoderCala-
bi-Yau-Räumen nach der M-Theorie.
Übersolchefantastischenundvonder mo-
dernen Wissenschaft ernsthaft diskutier-
ten Phänomene lässt sich trefflich reden,
am besten mit den Eltern, die das Buch
ebenfalls mit Gewinn lesen können. Wie
laut war denn nun der Urknall? Die Auflö-
sung steht versteckt unter einem der Bil-
der zum Aufklappen. (ab 8 Jahre)
helmut hornun g

Guillaume Duprat: Wie laut war eigentlich der Ur-
knall? Aus dem Französischen von Susanne
Schmidt-Wussow. Knesebeck Verlag, München


  1. 48 Seiten, 20 Euro.


kla us hübner

V

on jedem Buch bleibt dir zum
Glück / etwas in deinem Kopf
zurück“, schreibt Friedbert
Stohner, der Lisa Wheelers Ge-
dicht „Geschöpfe auf Papier“

ins Deutsche übertragen hat. „Geschöpfe,


klar, nur auf Papier ... / Dass sie leben,


liegt an DIR!“ Die Verse finden sich in ei-


nerwunderschönaufgemachtenAntholo-


gie von „Gedichten zur guten Nacht“, die


2016unterdemTitel„OneMinutetillBed-


time“ in den USA erschienen ist und nun


von sage und schreibe 115 meist recht be-


kannten Schriftstellern „übersetzt, über-


tragen oder ins Deutsche gebracht“ wur-


de, wie Michael Krüger im Vorwort


schreibt. Er selbst ist einer davon. Fried-


rich Ani ist dabei, Fatma Aydemir,Rotraut


SusanneBerner,NoraBossong,UlrikeDra-


esner, Franzobel, Durs Grünbein, Chris-


toph Hein, Franz Hohler, Daniel Kehl-


mann, Navid Kermani, Michael Köhlmei-


er, Annette Pehnt, Monika Rinck, Raoul


Schrott, Peter Stamm, Nico Bleutge und


Juli Zeh sind es ebenfalls. Und noch viele


andere, darunter auch der Hanser-Verle-


ger Jo Lendle. Und doch wäre die Freude


an den Gute-Nacht-Gedichten wesentlich


geringer, wären da nicht die famose grafi-


scheGestaltungunddiekongenialenIllus-


trationenvonChristoph Niemann.Sieerst


machen diese Anthologie zu einer runden


geglückten Sache.


Ja, es sind Gedichte für Kinder. Aber

nicht nur. „Gute-Nacht-Gedichte für die


ganze Familie“, wie der Verlag sagt, trifft
es genauer. Wer den lieben Kleinen an der
Bettkante„Fünf kleineVögel“vonCharles
Waters vorliest, kriegt die nur scheinbar
simplen vier Gedichtzeilen selber kaum
noch aus dem Kopf. In der Übersetzung
von Ludwig Steinherr: „Fünf kleine Vögel
in Frankfurt am Main. / Fünf kleine Vögel
flattern und schrein. / Fünf kleine Vögel
schlafen jetzt ein. / Fünf kleine Vögel in
FrankfurtamMain.“ EinOhrwurm! Davon
gibt es einige in diesem Band, ebenso wie
sogenannte Unsinnsgedichte, die leidge-
prüftenVäternabsolutrealistischvorkom-
men müssen – etwa Scott Seegerts
„Abendessen“, das sich auf Deutsch so an-
hört: „Meinem Papa wird s zu dumm: /
‚Spiel nicht mit dem Essen rum! / Blöd für
ihn,dassichnichtshöre./Ichhabinjedem
OhrneMöhre.“ Mankönnteendloszitie-
ren. Entscheidend aber ist, dass hier auf
höchstemliterarischenNiveauetwasange-
stoßen wird, was für die Entwicklung und
LebenstüchtigkeitvonKindernunabding-
bar ist: Sensibilität für Sprache, für ange-
messene, variantenreiche und, ja, schöne
Sprache. Dafür, dass Sprache immer und
grundsätzlich mehr ist als pure Informati-
onsvermittlung. Freude am Klang und am
Rhythmus, Freude am Wort und am Wort-
spiel. Freude an einem Leben, das nicht
nureineWirklichkeitkennt.Mitdenpoeti-
schen Anregungen, die diese Anthologie
schenkt, kann man bestens einschlafen.
Obwohl – immer klappt das dann doch
nicht. Siehe die letzte Strophe des Ge-
dichts von Santino.

Ken Nesbit (Hrsg.): Jetzt noch ein Gedicht, und
dann aus das Licht! Mit Illustrationen von Chris-
tophNiemann. Hanser Verlag, München 2019. 176
Seiten, 22 Euro.

„Manche Menschen überfallen einen wie
ein heftiger Sturm.“ Schon der Prolog im
Roman des österreichischen Autors Han-
nes Wirlinger deutet auf ein ganz beson-
deresLeseerlebnishin. Eins,dasaufwun-
dersame Weise die Bilder der Geschichte
mit Bildern aus der eigenen Erinnerung
verknüpft.„AndereMenschen“,soWirlin-
ger in seinem Jugendromandebüt „Der
Vogelschorsch“ weiter, „wehen sanft wie
eineWolkeineinLeben.“Undschließlich:
„DiebesonderenunterdenMenschensu-
chen einen wie ein warmer Mairegen
Tropfen für Tropfen heim. Sie graben
sichwiekunstvolleGravurenunauslösch-
lich in unser Gedächtnis.“ Was für ein Be-
ginn! Welch sinnliche Sprache, die sich in
den Gedankenkosmos der Leser
schleicht. Wie auch die zahlreichen
Schwarzweißillustrationen von Ulrike
Möltgen, die sich, wie von einem magi-
schenSchleierüberzogen,SzenenderGe-
schichte nähern, als wollten sie sagen:
„Ganz wirst du das Gesehene nie begrei-
fen.Duwirstnurglauben,dassesgesche-
hen sein könnte.“

Die Erzählerin Lena erinnert sich nach
Jahrzehnten an ihre Zeit als Vierzehnjäh-
rige in einem oberösterreichischen Dorf.
Dabeiwechseltsievon ReflexionenalsEr-
wachsene zum realen Erleben als Teen-
ager.EsistvorallemdasLebeneinesJun-
gen namens Georg, das sich in ihr Ge-
dächtnis eingegraben hat. Sie nannte ihn
damals „Vogelschorsch“, weil ihm die Vo-
gelwelt auf besondere Weise zugeneigt
schien. Lena erzählt voller Bilder und Ge-
dankenverknüpfungen von ihren Begeg-
nungen mit dem sonderbaren Jungen.
Von der Ursache seiner Besonderheit er-
fährt man nichts. Nur, dass das Familien-
leben Geheimnisse birgt und er immer
gleich gekleidet ist, eingepackt in einen
dicken Lodenmantel. „Ein Engel mit
Schweißrändern unter den Achseln und
Hosenträgern.“ Vögel sind ihm näher als
Menschen. Als seine Mutter starb, er-
kanntederVogelschorschsieineinerklei-
nen Kohlmeise wieder. Ein unschätzba-
rer Trost für ihn.
Im Lauf der sich langsam entwickeln-
den Erzählung stellt sich heraus, dass es
inderGeschichtenichtnurumLenasEm-
pathie für den Jungen geht, dessen Ver-
halten den sozialen Konventionen des
Dorflebens zuwiderläuft. Lenas Weg zwi-
schen Anpassung und Grenzüberschrei-
tung, zwischen Angst und Mut ist so et-
was wie eine Spurensuche zu sich selbst.
Hin-undhergerissenvondenStreitigkei-
ten der Eltern, und durcheinandergewir-
belt vom Chaos der ersten Liebeserfah-
rungen. Tragik und Komik dieser Erzäh-
lung liegen nahe beieinander. Dafür sor-
gen schon Lenas erregte Kommentare zu
ihren Freunden, dem Mühltaler Max und
dem Lederer Lukas, und zur gleichaltri-
gen Lieblingsfeindin, der Feichtinger Si-
mone. Aber wenn sich Lena an die stillen
Augenblicke auf der Gartenmauer erin-
nert oder wenn sie dem Vogelschorsch zu
einem geheimnisvollen Ort folgt, dann
öffnensichin einemReigenwunderbarer
Bilder Gedanken, die weit über den ober-
österreichischen Dorfrand hinausrei-
chen. siggi seuß

Hannes Wirlinger: Der Vogelschorsch. Illustratio-
nen von Ulrike Möltgen. Jacoby & Stuart, Berlin
2019,304 Seiten, 18 Euro.

Das All als Ei


Ein Streifzug durch die Kosmologie


Fünf kleine


Vögel


Englische Gute-Nacht-Gedichte –


übertragen von deutschen Autoren


Hannes Wirlinger:
Der Vogelschorsch.
Mit Illustrationen von
Ulrike Möltgen.
Jacoby & Stuart,
Berlin 2019.
304 Seiten, 18 Euro.

Engel mit


Schweißrändern


Kindheit in einem


österreichischen Dorf


Freude am Klang und


am Rhythmus,


Freude am Wortspiel


Nadya Hartmann ist Lektorin der Frankfurter Verlagsanstalt, für
deren Programm sie immer wieder nach interessanten Debüts sucht


  • wie etwa den in diesem Jahr erschienen Roman „Ich bin die, vor
    der mich meine Mutter gewarnt hat“ von Demian Lienhard.
    Ein Debüt, sagte sie, sei immer ein Abenteuer, im Verlag müssten
    „viele Zahnräder ineinandergreifen“, damit es gelingen.
    Erfolge lassen sich gut an „Gudes Trinkhalle“ feiern.


DEFGH Nr. 238, Dienstag, 15. Oktober 2019 – SZ SPEZIAL LITERATUR KINDER- UND JUGENDLITERATUR V2 23


ab12 Jahren,Hardcover, 96Seiten
€11,00(D),ISBN978-3-7348- 5044 -8
http://www.magellanverlag.de

Dabokas Zuhause istderRegenwald. Ihr kleiner indigener Stamm


lebt in Harmonie mit der Natur–bis einesTages Männer mit großen


Maschinenkommen und denWald durch einstinkendes schwarzes


Band in zweiTeilezerschneiden. Dabokas Stamm wirdvon ihnen


überfallen,nursie und ihreSchwester Loca überleben das Massaker.


Die beidenwerden in ein Dorfgebracht, geimpftund angezogen.


Während die kleine Loca sich mit der Zeit an das neue Leben ge-


wöhnt, will Dabokanureins: zurück in den Bauch ihresWaldes.


Emotionaler Aufschrei gegen dasVölkermorden


und Abholzen desRegenwaldes


Inspiriertvon einer wahren Begebenheit


MarionAchard

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