Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
Das erste Mal kommt die Panik Ende Au-
gust. Sonntagsvielleicht, wenn man drin-
gend mal die Post sortieren sollte, dann
aber doch spontan an den See aufbricht,
weil: „Das ist ja jetzt das letzte schöne Wo-
chenende des Jahres.“ Der Satz ist im Au-
gust genauso falsch wie jetzt, Mitte Okto-
ber, wo er sein Jahreshoch erreicht und ei-
nem überall entgegenschallt. Kein Mensch
weiß, ob es in 14 Tagen nicht doch noch
mal T-Shirt-Wetter gibt. Objektiv betrach-
tetkannmansichdenSatzalsosparen.Ge-
rade deshalb aber ist er interessant.
Das letzte schöne Wochenende löst im
Menschen einen Fluchtreflex aus: raus aus
dem Bett, der Wohnung, der Stadt, rein in
die Sonne, den Park, die Berge. Noch mal
genießen, bevor es vorbei ist. Die letzte
Biergarten-Mass. Das letzte Mal die nack-
ten Füße im See. Den letzten Kaiser-
schmarrn, bevor die Almhütten schließen.
Der Fluchtreflex schaltet den Verstand aus
und damit die Fähigkeit, den Reflex zu be-
greifen und ihm zu widerstehen.
Der Grund für dieses seltsame Verhal-
ten ist die Angst des Menschen, etwas zu
verpassen, das Gefühl also, das seit dem
SiegeszugdersozialenNetzwerkeauchmit
dem Akronym Fomo (Fear of missing out)
bezeichnet wird.
Zu Hause bleiben, während der Rest das
Traumwetter genießt und das auf Insta-
gram gut dokumentiert? Niemals! Viel-
leicht wäre es Zeit für einen entspannteren
UmgangmitdemDruckdesHochdruckge-
biets. Und den Gedanken: dass nach dem
schönen zwar schlechtes Wetter kommt,
dann aber auch wieder schönes. Am
besten, man versähe jeden Wetterbericht
mit der Überschrift, die in Douglas Adams
Science-Fiction-Roman „Per Anhalter
durch die Galaxis“ auf dem Umschlag des
gleichnamigen Reiseführers steht: „Keine
Panik“. christian hel ten

Udo Kier, 75, Schauspieler, wünscht sich


einen spektakulären Abgang. „Wenn ich


mein Ende selbst inszenieren könnte,


dann würde ich mit meinem 190er SL


Mercedes in Santa Monica über die Klip-


pen ins Meer fahren“, sagte er derBild-


Zeitung. „Das wäre ein schöner Tod.“


Andy Serkis, 55, britischer Schauspie-


ler, hat einem, wie er sagt, „Arschloch“


seine Stimme geliehen. In einem ani-


mierten Video der Umweltorganisation


„City to sea“ synchronisiert er einen


sprechenden Anus, der die Briten dazu


auffordert, sich den Hintern nicht mit


Feuchttüchern abzuwischen und diese


schon gar nicht im Klo runterzuspülen.


„Ich hätte nie gedacht, dass ich so lei-


denschaftlich gerne ein Arschloch spie-


len würde“, sagte
Serkis, der in der
Herr-der-Ringe-Tri-
logie den „Gollum“
mimt, demGuardi-
an. Ziel der Kampa-
gne ist es, die Ver-
stopfung der Kanali-
sationen mit riesi-
gen Klumpen aus
Feuchttüchern und
Fett zu verhindern.
FOTO: AP

Yashoda, 40, Elefantin, hat zu ihrem


Geburtstag eine mit 40 Möhren garnier-


te Torte aus Brot, Obst, Gemüse und


Sahne serviert bekommen. „Yashoda ist


ein wichtiger Bestandteil der Gruppe,


weil sie sozial sehr engagiert ist und


überall ihren Rüssel im Spiel hat“, sagte


Elefantenpfleger Daniel Wenzel von


Hamburger Tierpark Hagenbeck. Yasho-


da, die im indischen Dschungel geboren


wurde und 1990 als trächtige Elefanten-


kuh nach Hamburg kam, frisst jeden


Tag 150 Kilogramm; die 30-Kilo-Torte


war also nur eine Zwischenmahlzeit.


Mette-Marit, 46, norwegische Kron-


prinzessin, reist oft mit schwerem Ge-


päck. Grund ist ihre Vorliebe für ge-


druckte Bücher. Sie
habe auch E-Books
ausprobiert, sich
aber nicht damit
anfreunden können.
Derzeit reist Mette-
Marit mit Kronprinz
Haakon, 46, durch
Deutschland und
wirbt für Norwegen
als Gastland der
Frankfurter Buch-
messe.FOTO: GETTY

Jan Frodeno, 38, Triathlet, verteilt


nach seinem Sieg beim Ironman auf


Hawaii Geschenke. „Jeder aus dem


Team darf sich etwas Schönes aussu-


chen. Einige bekommen eine Uhr, mein


Trainer möchte einen Laptop, mein


Physiotherapeut eine Traumreise. Und


meine Frau steht eher auf Schuhe“,


sagte Frodeno derBild. Der Kölner hat-


te für seinen Triumph ein Preisgeld in


Höhe von 120000 Dollar kassiert.


„Pilz des Jahres 2020“ ist die Stinkmor-
chel. Gekürt hat ihn die Deutsche Gesell-
schaft für Mykologie (DGfM), die zum
Preisträgermitteilte,dass„nebendemAas-
geruch insbesondere die einem männli-
chen Begattungsorgan ähnlichen Frucht-
körper auffällig“ seien. Ein Gespräch mit
Stefan Fischer, Schriftführer der DGfM.

SZ: Herr Fischer, der Pilz, den Ihre Gesell-
schaft gekürt hat, sieht aus wie ein Penis
und verbreitet einen sehr üblen Geruch.
Wofür ist er denn nun geehrt worden?
Stefan Fischer: Der Pilz heißt im Lateini-
schen Phallus impudicus, frei übersetzt:
„anrüchiges Penisorgan“. Aber deswegen
ist er natürlich nicht gekürt worden.

Sondern?
In Zeiten des Insektensterbens wollten wir
einZeichensetzenundeinenPilzhervorhe-
ben, der wichtig für die Insekten ist.

So wie die Stinkmorchel.
IhrAasgeruch ziehtInsekten an.Man riecht
die Stinkmorchel, bevor man sie sieht. Bei
Beobachtungen wurden bis zu 150 Zwei-
flügler festgestellt, hauptsächlich Fliegen.
Sie tragen die Sporen des Pilzes weiter.

Wie machen sie das?
Stinkmorcheln haben eine Fruchtschicht,
die schleimig ist. Fliegen fliegen diesen

Schleim an und nehmen ihn dann mit ih-
rem Saugrüssel auf. Und damit natürlich
auch die Sporenmasse des Pilzes. Im
Schleim ist eine Art Abführmittel, damit
die Sporen in der Fliege keinen zu langen
Aufenthalt haben. Also jedenfalls ist er für
die Insektenwelt ein sehr nützlicher Pilz,
deswegen wurde er gekürt.

Ist die Stinkmorcheleigentlich ein bedroh-
ter Pilz?
Nein. Die findet sich wirklich überall, im
Wald, in Parkanlagen, auf Friedhöfen. Sie
ist ein Universalist. Mit der Speisemorchel
hat die Stinkmorchel übrigens gar nichts
zutun.DieSpeisemorchelisteinSchlauch-
pilz,dieStinkmorcheldagegeneinStänder-
pilz, sie basiert also auf einem Ständer.

Ganz offenkundig.
DieStänder,umdieesgeht,diesindnurim
mikroskopischen Bereich erkennbar.

Ärgert es Sie, dass jetzt Witze gemacht
werden über Ihre Stinkmorchel?
Nein. Der Pilz kann doch nichts dafür. Es
ist schön, wenn man einen Pilz zum Pilz
des Jahres gekürt hat, über den man
spricht. Egal in welcher Art und Weise.

Bei den Pilzen des Jahres 2018 und 2019,
dem Wiesenchampignon und dem grünen
Knollenblätterpilz, war das anders?
Beim Knollenblätterpilz hieß es schon:
Wie kann man denn einen Pilz ehren, der
verheerende Folgen haben kann?

Im Gegensatz zur Stinkmorchel.
Ja. Die wabenartige Konstruktion des
StielsundseineFähigkeit,sichschnellstre-
cken zu können, sind sehr faszinierend.
Das wurde auch ingenieursmäßig schon

untersucht, dass da enorme Kräfte wirken.
Eine Stinkmorchel hätte die Kraft, eine
Steinplatte zu heben.

Stimmt eigentlich die Geschichte, dass die
Tochter von Charles Darwin, Henrietta
Darwin, die Stinkmorchel vernichten woll-
te und jede entfernte, die sie sah?
Wenn man der Literatur glaubt: ja. Sie war
verwitwet und kinderlos und fürchtete um
die Unbescholtenheit der unschuldigen
Waldspazierenden. Angeblich hat sie die
Pilze im Kamin ihres Salons verbrannt.

Der Preis als Pilz des Jahres ist also auch ei-
ne Art Ehrenrettung für diesen unter-
schätzten Pilz.
Ich finde schon. Man sollte diesen lieben
Stinker mit Freude betrachten.

inter view: mareen linn artz

Ein amerikanischer Tourist soll einmal
sehr verzweifelt gewesen sein, als er in
Österreich den Ort Stanton nicht fand.
Zumindest bis ein Einheimischer dem
Mann erklärte, dass dieser gerade auf
derSuchenachSt.Antonwar.DieAnein-
anderreihung von Buchstaben, das zeigt
diese kleine Episode, ist und bleibt ein
Minenfeld. Ebenso wie die Suche nach
dem rechten Weg.
FürPapstFranziskusdürftekeinZwei-
fel darin bestanden haben, dass er mit
#Saints in seiner Twitter-Botschaft ge-
nau jene fünf Christen meinte, die er ge-
rade heiliggesprochen hatte.Dahertwit-
terte das katholische Oberhaupt: „Heute
danken wir dem Herrn für die neuen
#Saints.“ Aber, natürlich, #Saints steht
auchfürdasUS-Football-Team„NewOr-
leans Saints“, weshalb von Twitter dem
PapstgleicheinentsprechendesVereins-
logo in den Tweet miteingebaut wurde.
Das ist ungefähr so, wie wenn man
„When the Saints Go Marching In“ mit
der Melodie des Schalke-Krachers „Blau
und weiß, wie lieb’ich dich“ unterlegt.

In dergutdurchkapitalisierten Sport-
weltjedenfallsherrschtesofortBegeiste-
rungüberdaskleineMissgeschick.Herr-
lich, wenn man nicht nur auf den heili-
gen Rasen der NFL, sondern auch mal in
den transzendenten Hallen des Vatikan
wahrgenommen wird. Hat der Papst
nicht gerade den US-Football gesegnet?
Für viele irdische Existenzen ist Sport ja
ebenso sinnstiftend wie für andere die
Religion. Da liegen Stanton und St. An-
ton nicht weit voneinander entfernt.
Und natürlich konkurriertman: um Mit-
glieder, um Aufmerksamkeit, um Wo-
chenendtermine, um Hashtags, um Mu-
sik. Sehen Sportfreunde in der
„Saints“-Liedzeile „Oh Lord I want to be
in that number“ etwa einen klaren Hin-
weis auf ihre Trikotnummer, so geht es
für andere um nichts anderes als: Aufer-
stehung.
Die New Orleans Saints, auch das darf
an dieser Stelle als Brückenschlag die-
nen, heißen deshalb „Saints“, weil ihre
MannschaftanAllerheiligen („AllSaint s
Day“)gegründetwurde.DemPapstistes
freilich auch klar, dass seine Netze nicht
nur am See Genezareth, sondern auch
#da und #dort am Spielfeldrand ausge-
worfenwerdenmüssen,fallsFangeinge-
fahren werden soll. Von Franziskus hei-
lig gesprochen wurden letztlich die
Schneiderin Marguerite Bays, die Or-
densschwesternDulceLopesPontes,Ma-
ria Teresa Chiramel Mankidiyan und
Giuseppina Vannini sowie der britische
KardinalJohnHenryNewman. Und Mis-
ter Newman lebte in der Gemeinde Edg-
baston im Vereinigten Königreich. Falls
Sie sich dort einmal verlaufen sollten:
Edgbaston liegt nur 53 Kilometer ent-
fernt von Stanton. martin zips

8 HMG (^) PANORAMA Dienstag, 15.Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH
Münster/Osnabrück– AmFlughafen
Münster Osnabrück sind am Montag-
abend in einem Parkhaus zwischen 40
und 50 Autos in Brand geraten. Verletz-
te gebe es bislang keine, sagte ein Spre-
cher der Feuerwehr am Montagabend.
Die Löscharbeiten dauerten vermutlich
die ganze Nacht. Die Brandursache sei
unklar. Die Feuerwehr war mit rund
260 Einsatzkräften vor Ort. Es gebe
eine starke Rauchentwicklung. Der
Flugbetrieb sei durch den Brand nicht
beeinträchtigt, sagte Andrés Heine-
mann, Sprecher des Flughafens. dpa
Stefan Fischer, Stinkmorchel-Fan
Tokio –Am Tag nach dem tödlichen
Taifun in Japan haben die Rettungs-
und Bergungskräfte unter schwierigen
Bedingungen in den Überschwem-
mungsgebieten weiter nach Vermissten
gesucht. Es ist ein Kampf gegen die
Zeit. Die Zahl der Todesopfer stieg nach
Angaben des japanischen Fernsehsen-
ders NHK vom Montag auf mindestens



  1. Weitere 15 Menschen werden dem-


nach noch vermisst. Der außergewöhn-


lich heftige WirbelsturmHagibis(Philip-


pinisch für „schnell“) war am Wochen-


ende über weite Teile Japans hinwegge-


fegt und hinterließ eine Spur der Ver-


wüstung. Mehr als 200 Menschen wur-


den NHK zufolge verletzt. Mehr als


110000 Einsatzkräfte von Polizei, Feuer-


wehr, Küstenwache und Militär waren


an den Rettungs- und Bergungseinsät-


zen beteiligt. dpa


Düsseldorf– Die Polizei hat in der Düs-


seldorfer Innenstadt bei einer Kontrolle,


bei der die sogenannte Autoposer-Szene


im Fokus stand, am Sonntag einen mit


Goldfolie überzogenen Geländewagen


sichergestellt. Die Begründung: Der


Wagen „blendete bei entsprechendem


Sonnenlicht deutlich“ und könne für


andere Verkehrsteilnehmer gefährlich


sein. Der 30-jährige Fahrer erhielt eine


Anzeige. Ob die Folie tatsächlich im


Widerspruch zur Straßenverkehrsord-


nung steht, muss nun ein Gutachter


prüfen. Bei dem in Düsseldorf kontrol-


lierten SUV beanstandete die Polizei


auch dunkel lasierte Rückleuchten und


eine manipulierte Abgasanlage. dpa


Stefan Fischer, 62,ist
Bibliothekar an der Uni
Leipzig und Hobby-Myko-
loge, also Pilzforscher.
Als Schriftführer der
Deutschen Gesellschaft
für Mykologie verkündete
er am Wochenende den
Pilz des Jahres 2020, die
Stinkmorchel.FOTO: OH

von jür gen schmieder

E


ine wichtige Nachricht vorneweg:
Pepe ist wohlauf, er genießt ein
Schlammbad in seinem vorüberge-
henden Zuhause. Pepe ist ein 275-Kilo-
Schwein,ermusstewegen derLauffeuer in
Kalifornien am Wochenende in Sicherheit
gebracht werden.
Es brennt, mal wieder. Rauch legt sich
wie eine Decke über den US-Bundesstaat
an der Westküste, es gibt Bilder von Men-
schen, wie sie ihre Häuser verlassen müs-
sen, und Videos, wie Tiere fortgebracht
werden. Mal wieder. „Wir haben 33 Stun-
den gearbeitet, ohne Pause und ohne
Schlaf“, sagt Saskia Chiesa, Gründerin des
Tierheims LA Guinea Pig Rescue, aus dem
Meerschweinchen, Pferde und eben das
SchweinPepeansichereOrtegebrachtwor-
den sind: „Er hat geschrien wie am Spieß,
aber wir haben ihn zu siebt in den Lastwa-
gen geschafft.“
Mal wieder, das sind die entscheiden-
den Worte bei dem, was da gerade in Kali-
fornien passiert. Es brennt, wie schon in
den Jahren davor, die berüchtigten Santa-
Ana-Winde führen dazu, dass sich die vie-
len Feuer rasend schnell ausbreiten und
kaum zu kontrollieren sind. Mehr als
100000 Menschen mussten ihre Häuser
und Wohnungen verlassen, außerdem hat
der Stromversorger Pacific Gas and Elec-
tric (PG&E) mehr als zwei Millionen Kali-
forniern mehrere Tage lang den Strom ab-
geschaltet, von Mittwoch bis Samstag. Ei-
ne erst einmal gerechtfertigte Maßnahme:
EinederÜberlandleitungensollimvergan-
genen November für das schlimmste Feu-
er in der Geschichte des Bundesstaates
verantwortlich gewesen sein. Mehr als
80 Menschen kamen damals ums Leben,

dieStadtParadisewurdezerstört, derSach-
schaden liegt bei mehr als 16 Milliarden
Dollar.
Dass der Strom abgedreht wird, bedeu-
tet aber nicht, dass die Leute gemütlich im
Wohnzimmer sitzen und bei Kerzenschein
Bücherlesen.„Mankannsichnichtvorstel-
len, was passiert, wenn man es nicht selbst
erlebt“, sagt die 72 Jahre alte Tara Drolma
aus Clearlake im Norden von Kalifornien.
Über Notfallbatterien hatte sie ihren Herz-
schrittmacher, das Mobiltelefon und den
elektrischen Rollstuhl geladen, am Don-
nerstag ging auch diese Energieversor-
gung zur Neige. „Mir blieb nichts anderes
übrig, als abzuwarten.“
Der Computer funktionierte nicht, das
TelefonwardieeinzigeVerbindungzurAu-
ßenwelt, doch die Webseite von PG&E war
stundenlang nicht erreichbar. Also erfuhr
Tara Drolma auch nicht, dass der Konzern
in einem Seniorenheim Ladestationen er-
richtet hatte. Die 72-Jährige ernährte sich
von Brot und Dosenfisch und überlegte,
welches elektrische Gerät für sie nicht zu
ersetzen sein würde. Sie hatte jedoch
Glück,inihremHauswurde amFreitagder
Strom wieder angestellt – bevor die Batte-
rien leer waren.
DieLos Angeles Timeshatnochmehrsol-
che Geschichten gesammelt. Sie zeigen,
wie verheerend die Stromabschaltung ge-
radefürältereundkrankeMenschen gewe-
sen ist: Patienten, die zur Dialyse in weit
entfernte Krankenhäuser fahren mussten.
Leute, die in der Dunkelheit ihre Medika-
mente nicht finden konnten. Eine ältere
Frau, deren Atemgerät nicht funktionierte
und die deshalb ihre Tochter bat, die kom-
plette Nacht über Wache zu halten. In Pol-
lock Pines, etwa 60 Kilometer östlich von
Sacramento, starb ein 67 Jahre alter Mann

zwölf Minuten nach dem Abstellen des
Stroms, auch sein Atemgerät hatte nicht
mehr funktioniert. Die Obduktion ergab
zwar, dass der Stromausfall nicht direkt
fürdenTodverantwortlich sei,seine Toch-
ter aber sagte derTimes: „Es hat auf jeden
Fall nicht geholfen – wir hatten noch nicht
einmal Zeit, den Generator zu holen.“
Die Kleinstadt Morgan Hill südlich von
San José verhängte eine Ausgangssperre,
weil die Polizei Unfälle und Plünderungen
inderDunkelheitbefürchtete.NachderAn-
kündigung von PG&E am Montag vor ei-
nerWoche,zweiTagespäterdenStromab-
zustellen, hatte es zunächst Tumulte in
den Supermärkten gegeben, die Beamten
in der Stadt befürchteten, dass komplettes
Chaos ausbrechen könnte, wenn die Ein-
wohnerbemerken,dassNahrungsmittel in
den Kühlschränken verrotten oder sie in
Öfen und Mikrowellen kein Essen zuberei-
ten können.

Ist Kalifornien nicht jener Staat, in dem
die Zukunft des Menschen erfunden wird?
In dem jene Tüftler sitzen, die die Men-
schen so vernetzt haben wie nie zuvor? Sie
bestellen mitihren Smartphones einenfri-
schen Avocado-Thunfisch-Salat, und in
weniger als zehn Minuten wird er an die
Haustür geliefert. Sie bauen elektrisch be-
triebene Flugtaxis und schicken sich an,
den Mars zu besiedeln. Und ausgerechnet
die bekommen es nicht hin, ein bekanntes
Problem so zu lösen, dass es nicht aussieht
wie in einem Kriegsgebiet? Ist Kalifornien
abseits der Metropolen Los Angeles, San

Francisco und San Diego womöglich eine
Art Neandertal?
„Es ist inakzeptabel, was passiert ist“,
sagt Gouverneur Gavin Newsom, der am
Freitag,malwieder,denNotstandausgeru-
fenhat:„Dasistpassiert,weilEntscheidun-
gen verzögert, verschoben oder nicht ge-
troffen worden sind, von einem der größ-
ten Stromversorger in diesem Land.“ Das
isteindirekter Angriff aufPG&E. DemUn-
ternehmen wird außerdem vorgeworfen,
es habe mit dem Abschalten des Stroms
nicht unbedingt die Einwohner, sondern
vor allem sich selbst schützen wollen.
Das Unternehmen hatteimJanuarGläu-
bigerschutzbeantragtund sichkürzlichau-
ßergerichtlichmitVersicherungenaufZah-
lungen in Höhe von elf Milliarden Dollar
wegen der Feuer in den vergangenen zwei
Jahrengeeinigt.DerVorwurfnun: DerKon-
zern habe weniger in die Verbesserung von
Infrastruktur und Sicherheit als vielmehr
in Marketing und Lobbyarbeit investiert,
und er verkaufe die Maßnahmen als drin-
gend notwendig, dabei wolle er sich nur
vor weiteren möglichen Klagen schützen.
„Das stimmt nicht“, sagt Bill Johnson, seit
MaiGeschäftsführervonPG&E:„Wirmüs-
sen uns bei unseren Kunden entschuldi-
gen, wir müssen besser kommunizieren
undbesseraufsolcheSituationen vorberei-
tet sein.“
Sie haben den Strom am Wochenende
wieder angeschaltet, das ist die gute Nach-
richt für zwei Millionen Kalifornier. Die
schlechte NachrichtfürMenschenundTie-
re wie das Schwein Pepe: Es brennt noch
immer an vielen Orten, und es besteht der
Verdacht, dass zumindest beim Feuer in
Südkalifornien ein Strommast oder eine
Überlandleitung der Auslöser gewesen
sein könnte. Mal wieder.

#Teufelszeug


Twitter, Football und der Papst


Sport ist doch sowieso
eine Art Religion, nicht wahr?

In den USA tragen Waldbrände Namen. Hier ist das sogenannte „Saddleridge fire“ zu sehen, in Sylmar, dem nördlichsten Viertel von Los Angeles, standen fast
3200 Hektar Land in Flammen – das entspricht knapp 4500 Fußballfeldern. FOTO: GENE BLEVINS / REUTERS

FOTO: HILDENBRAND/DPA

Sieht nicht nur so aus, heißt auch so:
Stinkmorchel, lateinisch „Phallus impu-
dicus“, anrüchiger Penis. FOTO:DPA

STILKRITIK


Sommerschlusspanik


DutzendeAutos brennen


LEUTE


EIN ANRUF BEI ...


Mindestens 56 Tote


Goldenes SUVabgeschleppt


KURZ GEMELDET


Totalausfall


DasStromnetz in Kalifornien ist so marode, dass immer wieder Wälder durch Funkenflug in Brand geraten.


Der Energieversorger PG&E greift zu drastischen Maßnahmen: Er hat zwei Millionen Menschen den Saft abgedreht


Ausgerechnet in Kalifornien,


wo die Tüftler Flugtaxis bauen
und den Mars besiedeln wollen
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