Handelsblatt - 15.10.2019

(やまだぃちぅ) #1

Votum


Aled Wyn Griffiths
ist Chefredakteur beim
Juve Verlag.

Radikale


Veränderung


L


aut den neuesten Um-
satzzahlen erfreut sich
die Anwaltsbranche aus-
gezeichneter Gesundheit. Ne-
ben dem immer noch starken
Transaktionsgeschäft hat vor al-
lem der Litigationsboom als
Folge des Dieselskandals die
Kassen mittelständischer Kanz-
leien gefüllt. Viele Kanzleien ha-
ben es allerdings lediglich als
Zufallsgewinn behandelt: Die
Anwälte leisteten einfach Über-
stunden, und die Flut von Fäl-
len wurde fast vollständig in rei-
nen Gewinn umgesetzt. Ande-
re, eher größere Kanzleien ha-
ben die Gelegenheit genutzt,
ihr Geschäftsmodell grundsätz-
lich zu überdenken. Langfristig
dürften sie damit stärker profi-
tieren. Das gilt besonders dann,
wenn ein Abschwung bevor-
steht und die Mandanten wie-
der einmal anfangen werden,
die Rechnungen ihrer Anwälte
genauer zu prüfen.
Denn die große Menge an Do-
kumentationen, die bei solchen
Großprojekten anfällt, übernah-
men früher die Associates. Zu
Beginn der Nullerjahre war dies
einer der wichtigsten Treiber
für die Gewinne. Aber die Man-
danten sind heute längst nicht
mehr bereit, dafür zu bezahlen,
andere Lösungen müssen her.
Legaltech könnte eine Lö-
sung sein. Bislang entpuppten
sich einzelne Legaltech-Tools
aber bei genauerem Hinsehen
als Hype. Erste vorsichtige
Schritte sind eher beim Einsatz
von Technologien zur Straffung
interner Prozesse sichtbar. Be-
deutsamer war die Bereitschaft
einiger großer Kanzleien, sich
entschieden vom klassischen
Partner-Associate-Modell zu lö-
sen: Sie stellten eine große An-
zahl von Projektanwälten und
Paralegals ein. Einzelne ver-
pflichteten in den vergangenen
zwei Jahren zusätzlich 150 bis
200 Anwälte.
Das wiederum bedeutet, dass
Kanzleien eine ganz andere Ge-
stalt annehmen: In Wirklichkeit
sind sie eher einem Konzern als
einer Partnerschaft ähnlich.
Das Ergebnis sind vielfältige
Karrieremöglichkeiten für ver-
schiedene Juristenklassen in
den oberen Rängen des Wirt-
schaftsanwaltsmarktes. Die Die-
selaffäre wird im Rückblick das
Ereignis sein, das den deut-
schen Kanzleimarkt radikal ver-
ändert hat.

An dieser Stelle kommentieren
Rechtsexperten jeden Dienstag
wichtige Justiztrends.

Juve Verlag

Steuerthema der Woche


Sparen bei Handwerkerrechnungen


F


ür Handwerkerleistungen ge-
währt das Einkommensteuer-
gesetz auf Antrag eine Steuer-
ermäßigung von 20 Prozent der ent-
sprechenden Aufwendungen: maxi-
mal 1 200 Euro pro Jahr. Welche
Handwerkerleistungen konkret un-
ter die Steuerermäßigung fallen, ist
genau festgelegt. Das Finanzgericht
Baden-Württemberg (FG) hat hie-
runter nun auch Aufwendungen für
eine statische Berechnung gefasst,
die zur Durchführung der Hand-
werkerleistungen erforderlich ist
(Az. 1 K 1384/19).

Im Streitfall ersetzten die Kläger
schadhafte Holzstützen an ihrem ei-
gengenutzten Haus durch Stahlstüt-
zen. Hierzu beauftragten sie einen
Handwerker, der eine vorherige stati-
sche Berechnung für erforderlich
hielt. In ihrer Einkommensteuerer-
klärung machten die Kläger unter an-
derem für die statische Berechnung
die Steuerermäßigung für Handwer -
kerleistungen geltend. Das Finanzamt
erkannte dies nicht an, da es sich bei
der statischen Berechnung um eine
steuerlich nicht begünstigte Gutach-
terleistung handele.

Das FG wertete den Fall anders:
Zwar umfasst die betreffende Rege-
lung nach Wortlaut, Zweck und Ent-
stehungsgeschichte „alle handwerkli-
chen Tätigkeiten“, nicht jedoch gut-
achterliche Tätigkeiten, wie etwa die
Wertermittlung eines Grundstücks
oder das Erstellen eines Energieaus-
weises. Im Streitfall bestand aber ei-
ne enge sachliche Verzahnung zwi-
schen den statischen Berechnungen
und den Handwerkerleistungen, so-
dass ein „unmittelbarer räumlicher
Zusammenhang zu einem Haushalt“
bestand.

Micha Knodt Berlin


D

atenschutz sei was für
Gesunde, lässt Bundes-
gesundheitsminister
Jens Spahn (CDU) ger-
ne verlauten. Kranke
dagegen profitierten, wenn ihre Da-
ten für Forschungszwecke genutzt
würden. Tatsächlich könnte Künstli-
che Intelligenz (KI) den Arbeitsalltag
von Ärzten und Pflegern erleichtern,
etwa wenn Algorithmen Röntgenauf-
nahmen scannen und dann die Diag-
nose unterstützen. Doch die rechtli-
chen Hürden sind hoch. Die Anbieter
solcher digitalen Anwendungen sind
auf Patientendaten angewiesen, die
datenschutzrechtlich besonders stark
geschützt sind.
„Der Fortschritt ist viel langsamer,
als er gemessen an den technischen
Möglichkeiten sein könnte“, findet
Horst Hahn vom Fraunhofer Institut
für Digitale Medizin (Mevis). Er zitiert
einen Satz, den er auf einem Gesund-
heitskongress gehört hat: „Star Wars
technology in a Flintstones health -
care system.“
Die Digitalisierung und maschinel-
les Lernen spielen im Gesundheits-
wesen zwar eine immer größere Rol-
le. Vor allem im Bereich Diagnostik
ist heute schon vieles möglich. Für
die Weiterentwicklung der Algorith-
men braucht es allerdings Patienten-
daten. „Die Systeme werden nur bes-
ser, wenn ihnen möglichst hochquali-
tative Daten aus vielen Kliniken
zugrunde liegen. Momentan scheitert
das häufig am Datenschutz“, erklärt
Experte Hahn. Es gebe aber erste Er-
folge: „Einige Kliniken konnten große
Teile ihrer neu erfassten Patientenda-
ten in eine hausinterne Forschungs-
datenbank überführen.“
Das Bundesgesundheitsministeri-
um teilte auf Anfrage mit, es setze
sich dafür ein, dass Daten „unter
Wahrung des Datenschutzes und
ethischer Grundwerte“ zum Beispiel
als Trainingsdatensätze für Bereiche
des Gemeinwohls zur Verfügung ge-
stellt werden können.
Schwieriger ist es vor allem für Un-
ternehmen, die an Software und Al-
gorithmen für den Gesundheitsbe-
reich arbeiten. Sie betreiben zwar
auch Forschung und Entwicklung.
Gleichzeitig wollen sie mit ihrem Pro-
dukt aber auch kommerziell erfolg-

reich sein. Eine Lösung könnte sein,
die datenschutzrechtliche Einwilli-
gung zur Weitergabe von Patienten-
daten zu erweitern. Wer eine solche
Einwilligung unterzeichnet, könnte
künftig auch gefragt werden, ob er
seine Daten für die kommerzielle
Forschung und Entwicklung freigibt.
Sollte diese Hürde einmal genom-
men sein, zeichnen sich aber weitere
Probleme ab. Wer haftet in der digita-
len Gesundheitswelt etwa für Fehler?
„Wir müssen zwischen Software un-
terscheiden, die weiterlernt, und
Software, die nur auf den Datensät-
zen beruht, die der Hersteller einge-
speist hat“, erklärt Roland Wiring,
Experte für E-Health bei der Kanzlei
CMS. Bei Letzteren sei die rechtliche
Lage relativ eindeutig: Hat der Her-
steller beim Einspeichern der Daten
oder bei der Programmierung zu de-
ren Nutzung Fehler gemacht, kann er
dafür auch belangt werden.
Komplizierter wird es, wenn die KI
im Betrieb durch neue Daten, die bei-
spielsweise vom Arzt eingespeist wer-
den, dazulernt. „Wenn ich als Her-

steller alles richtig gemacht habe, die
Software aber Falsches dazulernt,
hafte ich dann?“, fragt Wiring. Her-
steller sollten deshalb in ihren Verträ-
gen klar festlegen, wo ihre Verant-
wortung endet und die des Anwen-
ders beginnt. Komplett eliminieren
können die Hersteller ihr Haftungsri-
siko aber nicht. „Die gesetzliche Pro-
dukthaftung gegenüber Dritten, in
diesem Fall Patienten, kann rechtlich
nicht beschränkt werden“, betont
Wiring.
Er sieht noch eine dritte große
Hürde für die Einführung von KI im
Gesundheitswesen: „Wer eine solche
medizinische Software auf den Markt
bringen will, braucht eine CE-Zertifi-
zierung.“ Diese Art Tüv für Medizin-
produkte werde von speziellen Stel-
len vergeben. Diese seien momentan
aber völlig überlastet. Auch Professor
Hahn sieht hier Probleme: „Spätes-
tens wenn Trainingsdaten in noch
größerem Umfang verfügbar sind,
werden so viele Hersteller auf den
Markt drängen, dass die Zulassung
zum Flaschenhals wird.“

Gesundheitswesen


Hürden für Dr. Algorithmus


Gesundheitsdaten genießen hohen rechtlichen Schutz. Das hemmt die Wirtschaft.


Sixten Abeling ist
verantwortlicher Redak-
teur für Steuerrecht.
http://www.der-betrieb.de

Star Wars


technology


in a Flintstones


healthcare


system.


Horst Hahn
Fraunhofer Institut
für Digitale Medizin
(MEVIS)

OP-Roboter:
Die Digitalisierung
spielt im Gesundheits-
wesen eine immer
größere Rolle.

Kyodo News/Getty Images

Recht & Steuern
DIENSTAG, 15. OKTOBER 2019, NR. 198

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