Handelsblatt - 15.10.2019

(やまだぃちぅ) #1

N


och in dieser Woche
könnte Washington
Sanktionen gegen den
Nato-Partner Türkei verhängen.
„Das Finanzministerium ist be-
reit, und die Gesetzgeber arbei-
ten an zusätzlichen Lösungen“,
schrieb US-Präsident Donald
Trump mit Verweis auf den US-
Kongress. Dort kursieren mehre-
re Entwürfe für Sanktionen,
über die in den kommenden Ta-
gen abgestimmt werden könnte.
US-Finanzminister Steven Mnu-
chin hatte am Freitag Sanktio-
nen in Aussicht gestellt, die aber
bislang nicht verhängt wurden.
Einer der engsten Verbünde-
ten Trumps, der Senator Lind-
sey Graham, kündigte „schmerz-
hafte Sanktionen” an. Seine
Gesetzesvorlage sieht Visa-
Beschränkungen sowie Sanktio-
nen gegen „jede ausländische
Person“ vor, die das türkische
Militär unterstützt. Zudem soll
die Verfügungsgewalt über Ver-
mögenswerte des türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdo-
gan und hochrangiger Beamter
in den USA eingeschränkt wer-
den. „Die Türkei will wie ein
Verbündeter behandelt werden.
Also muss sie anfangen, sich wie
einer zu benehmen“, sagte die
republikanische Abgeordnete
Liz Cheney. Die Aussicht auf
Strafmaßnahmen setzte die tür-
kischen Märkte unter Druck.
Der Istanbuler Leitindex ISE
verlor bis Montagnachmittag
mehr als fünf Prozent.
Auch die Europäische Union
ist nicht machtlos gegen die mili-
tärische Offensive in Nordsy-
rien. Wirtschaftssanktionen
würden die Türkei empfindlich
treffen – vor allem, wenn sich
die EU entschließen würde, das
Land aus der EU-Zollunion aus-
zuschließen. Türkische Produk-
te würden dann nicht nur inner-
halb der EU teurer, sondern
auch in allen weiteren Ländern,
mit denen die EU Handelsab-
kommen geschlossen hat.
Bisher spricht sich in der
deutschen Regierungskoalition
aber niemand für dieses Mittel
aus. „Von massiven Wirtschafts-
sanktionen gegen einen Nato-

Partner halte ich nichts. Die di-
plomatischen Mittel sind noch
lange nicht erschöpft“, sagte der
Unions-Außenpolitiker Jürgen
Hardt (CDU). Hardt verlangte ei-
ne Sondersitzung des Nato-Rats.
„Das könnte dann auch in der
Türkei Teile von Erdogans Un-
terstützern zum Nachdenken
bringen“, sagte er. Nato-General-
sekretär Jens Stoltenberg warnte
zuletzt vor einer Anti-Türkei-
Stimmung. „Die Türkei ist wich-
tig für die Nato“, mahnte er.
Bundeskanzlerin Angela Mer-
kel (CDU) hatte am Sonntag-
abend eine Stunde lang mit Er-
dogan telefoniert und ihn aufge-
fordert, die Offensive in der
Türkei zu beenden. Deutsch-
land, Frankreich und die Nieder-
lande kündigten an, keine Ex-
porte von Waffen an die Türkei
mehr zu genehmigen, die in Sy-
rien eingesetzt werden könnten.
„Diese Ankündigung ist reine
Symbolpolitik“, hieß es aller-
dings in Industriekreisen. Seit
dem Putsch in der Türkei 2016
gebe es bereits einen solchen
Exportstopp. Das Einzige, was
seither noch an die Türkei gelie-
fert werde, seien Komponenten
und Ersatzteile für Schiffe.
Die EU-Außenminister verfass-
ten am Montag nach einem Tref-
fen in Luxemburg eine gemein-
same Erklärung: Der Rat fordere
die Türkei „nachdrücklich auf,
ihre einseitigen Militäraktionen
in Nordost-Syrien einzustellen
und ihre Streitkräfte abzuzie-
hen“, heißt es darin. Die Außen-
minister plädierten für politi-
sche und diplomatische Lösun-
gen. Ende der Woche wolle man
die unterschiedlichen Stand-
punkte der Mitgliedstaaten zu
einem gemeinsamen Waffenem-
bargo koordinieren.
In Washington ist schneller
Bewegung zu erwarten. Führen-
de Republikaner waren entsetzt
über Trumps Entscheidung, die
US-Truppen in Nordsyrien dras-
tisch zu reduzieren. Es gilt als
wahrscheinlich, dass eine Mehr-
heit im republikanisch domi-
nierten Senat sogar ein Veto des
Präsidenten gegen Sanktionen
überstimmen würde. Trump
dürfte sich dem also kaum in
den Weg stellen. Die Bundesre-
gierung betonte, dass man die
USA weiterhin in der Verantwor-
tung für die Lage in Syrien sehe.
Möglicherweise hatte sich
Trump schlicht verkalkuliert:
Das Analyse-Portal „Axios“ zi-
tierte mehrere Regierungsbeam-
te, die erklärten, Trump habe
Erdogans Drohungen einer Inva-
sion gegen die Kurden bis zu-
letzt nicht ernst genommen.
Annett Meiritz, Donata Riedel,
Eva Fischer

Sanktionen


USA und EU wollen Ende


der türkischen Offensive


nandersetzung mit dem Nato-Partner Türkei strebe


man nicht an. Auch Frankreich zog seine Spezial-


kräfte am Montag aus der Region zurück.


Ankaras Ziel ist es, eine 30 Kilometer breite Zone


zu kontrollieren, die von Kobane im Westen bis


Hassaka im Osten reichen soll. In der heute über-


wiegend von Kurden besiedelten Region sollen bis


zu zwei Millionen Flüchtlinge angesiedelt werden,


die vor dem seit acht Jahren andauernden Bürger-


krieg in die Türkei geflohen sind.


In den vergangenen fünf Tagen rückten türki-


sche Truppen und deren Verbündete in Städte und


Dörfer in Nordsyrien vor und lieferten sich Gefech-


te mit Kämpfern der YPG. Nach türkischen Anga-


ben sind seit Beginn der Offensive am Mittwoch


440 Kämpfer getötet worden. Die syrisch-kurdi-


schen Kräfte sprechen von 56 Toten in ihren Rei-


hen. Ankara gab die Zahl ihrer getöteten Soldaten


mit vier an, zudem seien 16 verbündete syrische


Kämpfer umgekommen.


Assad will die Macht im Land


Jetzt hoffen die YPG-Milizen auf die Hilfe Assads.


Ob das Bündnis allerdings stabil ist, wird von Ex-


perten bezweifelt. Er sehe keine Zeichen, dass As-


sad den Kurden Autonomie einräumen werde,


meint zum Beispiel Michael Eppel, der sich an


der Universität Haifa auf die Geschichte der Kur-


den spezialisiert hat. Für wahrscheinlicher halten


es Beobachter, dass die Allianz von Damaskus auf-


gelöst wird, sobald syrische Truppen das kurdi-


sche Gebiet unter Kontrolle haben. Auch der Iran,


eine weitere wichtige Stütze Assads, wäre an ei-


ner kurdischen Autonomie in Nordsyrien nicht in-


teressiert. Denn auf iranischem Staatsgebiet leben


acht bis zwölf Millionen Kurden, die dann von Te-


heran ebenfalls Autonomie einfordern könnten,


so Eppel.


Die kurdische Minderheit in Syrien wurde in der


Vergangenheit von Assad besonders schlecht behan-


delt. Und der Machthaber geht in vielen Teilen Sy-


riens noch immer brutal gegen Zivilisten und Auf-


ständische vor. Auch am vergangenen Wochenende


flogen syrische und russische Militärflugzeuge Ein-


sätze in der Region Idlib im Nordwesten des Landes.


Vom aktuellen Chaos in Nordsyrien profitiert
auch der Islamische Staat (IS). Er ist als quasi-staat-
liches Gebilde zwar verschwunden, maßgeblich
auch dank des Engagements der YPG, die dazu von
den USA mit Geld und Waffen ausgestattet worden
war. Tausende von IS-Milizen und Anhängern sind
im kurdischen Gebiet eingesperrt.
Schläferzellen des IS und radikale Islamisten
könnten jetzt den Zerfall der Ordnung in Nord -
syrien nutzen, um ihre Terroraktivitäten zu verstär-
ken, meint der israelische Kurdenexperte Eppel.
Laut Angaben der YPG-Dachorganisation SDF be-
wachen die Kurden 20 kleine Gefängnisse mit
10 000 Insassen, denen Mitgliedschaft beim IS vor-
geworfen wird. In der von der Türkei beanspruch-
ten Zone befinden sich 15 Prozent der Gefangenen,
schätzt das US-Außenministerium. Am Montag
stürmten türkische Truppen ein IS-Gefängnis mit
über 800 Insassen, das von der YPG kontrolliert
worden war. Zum Zeitpunkt des Eintreffens der
türkischen Soldaten war das Gebäude leer.
Das US-Streitkräftekommando im Nahen Osten
kam im Sommer indes zu dem Ergebnis, dass der Is-
lamische Staat noch nicht besiegt sei. In einem Be-
richt des US-Kommandos (US Centcom), vier Mona-
te vor dem türkischen Einmarsch verfasst, heißt es
unter anderem, dass „die US-gestützten Syrischen
Demokratischen Kämpfer (SDF) weiterhin nicht in
der Lage sind, langfristig wirkende Maßnahmen ge-
gen den IS zu ergreifen“. Dem Bericht zufolge würde
der IS Finanznetzwerke in Syrien und im Irak auf-
bauen und über soziale Medien Unterstützer rekru-
tieren. Bereits vor der türkischen Intervention hatte
der IS in der Region mehrere Anschläge verübt.
Wenn der türkische Präsident seine Truppen zu-
rückziehen muss, würde ihm das innenpolitisch
schaden. Denkbar wäre auch, dass sich Assad und
Erdogan auf ein gemeinsames Ziel einigen: die Ent-
waffnung der YPG. Assad könnte die Macht über
den Nordosten Syriens übernehmen, und die Tür-
kei hätte keine YPG-Miliz mehr an ihrer Grenze.
Womöglich muss Assad dafür nicht viel mehr tun,
als noch etwas länger zu warten.


Kommentar Seite 15



Donald Trump:
Rückzug aus dem
umstrittenen
Gebiet.

Gabriella Demczuk/The New York Times

Türkische Soldaten
auf dem Weg nach
Syrien: Ankara will
die Grenzgebiete
auf beiden Seiten
kontrollieren.

Anas Alkharboutli/dpa

Wirtschaft & Politik


DIENSTAG, 15. OKTOBER 2019, NR. 198


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