Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

DIE ZEIT


WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


SYRIEN DEBATTE

Deutsche Soldaten ins Krisengebiet? Der viel kritisierte Vorschlag


von Annegret Kramp-Karrenbauer war fällig VON JÖRG LAU


Kann man seine Meinung nicht mehr frei sagen, wie viele glauben?


Das Gegenteil ist richtig: Es gibt zu viel davon VON CHARLOTTE PARNACK


Außer man tut es Die Schreispirale


S


ie sind selten, die Momente, in denen
man Politikern auf offener Welt-
bühne beim Umdenken zuschauen
kann. Dies hier ist so einer.
Die deutsche Verteidigungsmi-
nisterin Annegret Kramp-Karren-
bauer hat vorgeschlagen, zum Schutz der Bevöl-
kerung eine »international kontrollierte Sicher-
heitszone« in Nordsyrien einzurichten. Sie werde
darüber in den kommenden Tagen mit Briten
und Franzosen sprechen. Ohne Türken und
Russen werde es natürlich nicht gehen.
Die Initiative der Ministerin war mutig, auch
wenn zunächst unklar bleibt, wie genau sie sich
den deutschen Beitrag vorstellt. Es funktioniert
nicht mehr, Trumps Rückzug, Erdoğans Invasion
und Putins Patronage gleichermaßen zu geißeln


  • um sich dann wieder in wohliger Resignation
    dem beklagenswerten Zustand der Bundeswehr
    zu widmen, der uns (leider, leider!) – zur Absti-
    nenz verdamme.
    Unter Deutschlands Partnern kann das nie-
    mand mehr hören. Die vermuten schon lange, dass
    die Bundeswehr absichtlich so schlecht ausgestattet
    ist: damit sie gar nicht erst infrage kommt. Unsere
    Nachbarn fürchten, wie ein polnischer Außen-
    minister bereits vor acht Jahren gesagt hat, »deut-
    sche Macht weniger als deutsche Untätigkeit«.


Hoffentlich ist es wirklich ein Vorstoß zur
Rettung der Kurden

Annegret Kramp-Karrenbauer hat das verstan-
den – und geht damit ein hohes Risiko ein, denn
ihr Vorpreschen wirft jede Menge Fragen auf:
Handelt es sich eigentlich nur um eine CDU-
Idee oder um richtige Regierungspolitik? (Außen-
minister Maas wurde offenbar nur per SMS ein-
geweiht, Markus Söder wusste von nichts.) Hätte
die Bundeswehr überhaupt genügend freie Kräf-
te, um mit anderen Partnern in Syrien zu pa-
trouillieren? Unter welchem völkerrechtlichen
Schirm sollte der Einsatz stattfinden? Ein UN-
Mandat bräuchte die russische Zustimmung –
was wäre wohl Putins Preis dafür?
Und schließlich: Würde eine Schutzzone in
den kurdischen Gebieten, die ja nicht gegen
Erdoğan durchgesetzt werden könnte, nicht
den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Tür-
ken gewissermaßen nachträglich ratifizieren?
Der Reihe nach: Ja, die Berliner Koalition hat
offenbar keine abgestimmte Außenpolitik. (Sie

hat eigentlich auch nichts, was den Namen »Au-
ßenpolitik« verdiente.) Die Bundeswehr ist, sie-
he oben, am Limit. Ein UN-Mandat, wenn man
es denn ausverhandeln kann, wird teuer: Putin
wird es sich mit Zugeständnissen anderswo
(Ostukraine, Krim) versilbern lassen. Das hat
am Dienstag dieser Woche Präsident Erdoğan zu
spüren bekommen: In Sotschi vereinbarte er mit
Putin, dass Russen und Türken künftig gemein-
sam in Nordsyrien patrouillieren.
Ist dazwischen noch Platz für eine internatio-
nale Mission, wie AKK sie vorschlägt? Wer über
die Zukunft Syriens mitbestimmen will, müsste
bereit sein, eigene Soldaten zu entsenden.
Helmut Kohl handelte noch nach dem Prin-
zip, dass deutsche Soldaten nie wieder eingesetzt
werden sollten, wo einst deutsche Stiefel ein-
marschiert waren. Joschka Fischer begründete
die Abkehr von dieser Doktrin ebenfalls histo-
risch: Nie wieder dürften Deutsche nach dem
Genozid an den Juden einem Völkermord zu-
schauen; daher müssten sie im Kosovo den Ser-
ben in den Arm fallen. Nach 9/11 zogen deutsche
Soldaten aus Solidarität nach Afghanistan. Am
Irak- und am Libyenkrieg nahm man nicht teil,
am einen nicht wegen der falschen Begründung,
am anderen nicht wegen der befürchteten Folgen.
Beides war richtig, führte aber zu einer Art
Regression: Am Kampf gegen den »Islamischen
Staat« beteiligten sich die Deutschen spät und bloß
per Luftaufklärung sowie durch Waffenlieferungen
an die kurdischen Peschmerga im Irak. Als kürzlich
erwogen wurde, den Schiffsverkehr in der Straße
von Hormus mit einer europäischen Mission gegen
iranische Attentate zu sichern, winkte Berlin ab.
Das war angesichts der Interessen einer Export-
nation an sicheren Seewegen unhaltbar.
Dieses eine Mal kam man damit noch durch.
Dann aber zog Trump seine Truppen aus Syrien
ab. Die Berliner Kritik an dieser fatalen Entschei-
dung wirkt jedoch nur noch heuchlerisch, solange
Deutschland ausschließt, sich selbst dort mit Sol-
daten zu engagieren. Die Verteidigungsministerin
hat das erkannt und für einen Augenblick den
Raum des politisch Möglichen geöffnet: Was, wenn
die Deutschen gar nicht so handlungsunfähig sind,
wie sie sich selbst gern einreden? Da kann man nur
sagen: Hoffentlich ist dies wirklich ein Vorstoß zur
Rettung der Kurden – und nicht zur Rettung der
deutschen Verteidigungsministerin.

A http://www.zeit.de/audio

E


in Zeichen war es schon, das von
der Universität Hamburg ausging:
Als Bernd Lucke, ausgestiegenes
Gründungsmitglied der AfD, dort
vergangene Woche eine Vorlesung
halten wollte, wurde er niederge-
brüllt: »Nazi-Schweine raus aus der Uni!« Der
Professor wurde beschimpft und bedrängt. Er
verließ den Campus unter Polizeischutz.
Ein Zeichen also – nur wogegen? Gegen
rechts? Viele würden wohl eher sagen: gegen die
Meinungsfreiheit.
»In Deutschland darf man nichts Schlechtes
über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist be-
schimpft zu werden« – dieser Aussage stimmen 68
Prozent aller Jugendlichen zu. Das ergab die Shell
Jugendstudie 2019, die einen Tag vor der Lucke-Vor-
lesung öffentlich wurde. 53 Prozent denken oben-
drein, »die Regierung verschweigt der Bevölkerung
die Wahrheit«. Wohlgemerkt: Die Rede ist hier von
12- bis 25-Jährigen. Von der Generation Greta also,
die weltweit für ihre Anliegen auf die Straße geht.
Vielleicht wiederholt die rebellische Jugend
vielfach nur, was sie zu Hause hört: Einer Allens-
bach-Studie zufolge sind 78 Prozent der Deutschen
bei Kommentaren zu einigen oder sogar zu vielen
Themen inzwischen »vorsichtig«.

Die Diskurs-DNA
des 21. Jahrhunderts

Jetzt im Ernst? Ausgerechnet heute, wo es mehr
Meinung denn je gibt, auf allen Kanälen, rund
um die Uhr, soll die Meinungsfreiheit in Gefahr
sein? Man könnte es sich nun leicht machen und
das Gefühl für abwegig erklären. Das ist es aber
gar nicht. Es hat einen logischen Ursprung: Wo es
immer mehr Meinungen gibt, gibt es auch immer
mehr Gegenmeinungen. Und mit den Stand-
punkten ist es wie mit Kindern: Je mehr auf ein-
an der tref fen, desto lauter muss der Einzelne sein,
um aufzufallen. Und desto grober und schriller.
Die wenigsten werden also darum fürchten, ob
sie eine Position äußern können. Sondern darum,
ob sie die sozialen Kosten aushalten. Dieser Befund
aber ist weder tragisch noch neu: Es ist von Vorteil,
wenn Menschen bei heiklen Themen zweimal
nachdenken, bevor sie sich äußern. Es sind auch
nicht alle Menschen schlechter geworden.
Wer sich gegen den Mainstream stellen wollte,
musste schon immer mit Gegenwind rechnen. Be-
reits in den Siebzigerjahren beschrieb Elisabeth

Noelle-Neumann ihre Theorie der Schweigespira-
le, wonach Standpunkte seltener geäußert werden,
je mehr sie von der Einschätzung des wahrgenom-
menen Meinungsklimas abweichen. Was aber ist
dieses Meinungsklima?
Wahrscheinlich würde das zum Beispiel eine
Flüchtlingshelferin in Thüringen anders beschrei-
ben als der Asta in Hamburg. Die öffentliche Mei-
nung ist keine objektive Größe, sie variiert mit Ort
und Zeit. Und sie wird ständig neu ausgehandelt.
Neu ist nicht dieser Aushandlungsprozess an
sich. Neu ist, wie viele Milieus dabei ihre jeweils
eigenen Wahrheiten gegeneinander abgleichen.
War man früher dem peinlichen NPD-Onkel
allenfalls bei Familienfesten ausgeliefert, prallen
heute in sozialen Medien alle Milieus aufeinander.
Unentwegt, ungebremst, ungefiltert.
So verschlingen sich zwei Spiralen: eine
Schweige- und eine Schreispirale. Die Diskurs-
DNA des 21. Jahrhunderts kann brutal sein. Ein
Halbsatz kann für einen Shitstorm reichen. Die
Grenzen zwischen Widerspruch und Rufmord zer-
fließen. Kürzlich urteilte ein Gericht, es sei keine
Beleidigung, die Politikerin Renate Künast ein
»Stück Scheiße« zu nennen.
Wer daraus aber schließt, der Diskurs sei völlig
entgrenzt, bleibt auf halbem Weg stehen. Der Fall
Künast etwa wurde breit kritisiert. Die Gesellschaft
hat reagiert. Sie hat ihre Reflexe nicht verlernt –
sondern verändert. Öffentliche Meinung ist ein
Kulturprodukt, das erstritten wird, nicht erschwie-
gen. Der Attentäter von Halle teilte seinen Hass
nur in obskuren Foren. Kaum jemand hatte die
Chance zu widersprechen.
Natürlich: Nicht jeder Widerspruch ist gut,
zumal dann nicht, wenn er statt veränderbarer Auf-
fassungen des anderen dessen unveränderbare Ei-
genschaften wie Geschlecht, Hautfarbe oder Re-
ligion angreift. Umso wichtiger werden diskursive
Schutzräume, vom Bundestag bis zu Hörsälen, in
denen es um Argumente geht und nicht um Per-
sonen, um Lösungen und nicht nur ums Mit-
diskutieren. In denen der zivilisatorische Wert von
Streit gepflegt wird. Denn der ist hoch.
Nach Bernd Luckes geplatzter Vorlesung haben
fast alle Parteien in Hamburg das Geschehen ver-
urteilt. Medien haben berichtet. Auf Twitter war
die Schreispirale auf voller Lautstärke. Aber einen
Tag nach seinem ersten Anlauf hat Bernd Lucke
ein Seminar an der Uni gehalten. Störungsfrei.

A http://www.zeit.de/audio

Titelfoto [M]: Nigel Parry/the licensing project

Die Logikfalle


der Grünen


We g d a m it!


Kunstkrimi


Wer beim Klima
auf Wissenschaft

pocht, kann nicht
an Homöopathie

glauben


Wissen, Seite 33

Der wiederverwend-


bare Kaffeebecher


ist weder hip noch


umweltfreundlich
Z – Zeit zum Entdecken, Seite 63

Wie aus einem Bild


von Gerhard Richter


zwei wurden –


ein Berliner


Fälschungsskandal
Feuilleton, Seite 51

Ein Luxusrestaurant am Strand
von Lima reichte den Herren
Speise karten mit Preisen, den Da-
men solche ohne Preise – damit sie
sich »keine Gedanken machen«
mussten. Jetzt soll der Inhaber eine
Strafe von 55.000 Euro wegen Dis-
kriminierung zahlen. Die schönste
Lösung bestünde darin, die Preise
von allen Karten zu entfernen. Die
meisten Gedanken macht man sich
sowieso erst danach. GRN.

Preisfrei


PROMINENT IGNORIERT

Kl. Bilder (v.o.): The Burtons/Getty Images;
Panthermedia/imago

Noch nie hatte Donald Trump


weniger Unterstützung.


Noch nie waren seine


Entscheidungen wirrer.


Was ihn dennoch


an der Macht hält –


und was ihn erstmals


wirklich gefährdet


POLITIK SEITE 2-

Wendet


sich das


Blatt?


PREISE IM AUSLAND:
DK 58,00/FIN 8,00/E 6,80/
CAN 7,30/F 6,80/NL 6,00/
A 5,70/CH 7.90/I 6,80/GR 7,30/
B 6,00/P 7,10/L 6,00/H 2560,

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PREIS DEUTSCHLAND 5,50 € 24. OKTOBER 2019 No 44

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JEDEN FREITAG.
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