STREIT
»Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.« HELMUT SCHMIDT
10 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44
DIE ZEIT: Frau Özdemir, Sie sind kurdischer Ab-
stammung, Herr Güven ist türkischer Abstam-
mung, wenn Sie sich beide heute in Nordsyrien
begegnen würden, würden Sie dann aufeinander
schießen?
Cansu Özdemir: Das würde wahrscheinlich davon
abhängen, ob wir beide Teil einer Partei wären, die
in diesem Konflikt beteiligt ist. Aber wir haben
uns ja entschieden, hier zu sitzen und das Streit-
gespräch zu führen.
Bülent Güven: Ich bin Pazifist, ich würde auf nie-
manden schießen.
Özdemir: Ich sehe mich als einen Teil der kurdi-
schen Bevölkerung, als ein Teil einer betroffenen
Gruppe, bei der die Gefahr besteht, dass sie gerade
ethnisch gesäubert wird.
Güven: Ethnische Säuberung? Den Begriff lehne
ich ab. Was die türkische Armee betreibt, ist kein
Krieg gegen die Kurden an sich, sondern ein Krieg
gegen eine Terrororganisation, die auch in der
Türkei mehrere Male Attentate verübt, auch jetzt
im Zuge der Militäroperationen, und Stadtteile
mit Raketen angegriffen hat, wodurch sehr viele
Zivilisten umgekommen sind.
Özedmir: Von Nordsyriens gehen überhaupt keine
Angriffe auf die Türkei aus. Erdoğans Krieg richtet
sich gegen die Zivilbevölkerung.
Güven: Überhaupt keine Angriffe?! Da kann ich
Ihnen nur vehement widersprechen ...
ZEIT: Sie werden sich da nicht einig werden ...
Güven: Mag sein. Aber was ich schon sagen möch-
te, ist, dass Deutschland sich jetzt sehr wider-
sprüchlich verhält. Erst sagt Außenminister Heiko
Maas im Morgenmagazin, dass der Einsatz der
Türkei völkerrechtswidrig ist, und am Abend sagt
die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-
Karrenbauer, dass Deutschland in derselben Region
bei der Errichtung einer Sicherheitszone mitma-
chen sollte.
Özdemir: Es geht ja der Türkei überhaupt nicht
darum, sich dort selbst zu verteidigen oder einen
gewissen Schutz zu gewährleisten. Es geht ihr da-
rum, die dortige Bevölkerung, die aus vielen eth-
nischen und religiösen Gruppen besteht, zu ver-
treiben und islamistische Strukturen zu etablieren.
ZEIT: Was halten Sie, Frau Özdemir, denn von
dem Vorschlag von Frau Kramp-Karrenbauer? Der
würde ja auch einen besseren Schutz für die Kur-
den bedeuten.
Özdemir: Die Haltung der Bundesregierung ist
widersprüchlich. Ich wünsche mir, dass eine
Schutzgarantie der Vereinten Nationen zustande
kommt.
ZEIT: Wenn Sie beide auf den Grundkonflikt
schauen, den zwischen den Kurden und der Tür-
kei, worauf können Sie sich beide, die hier in
Deutschland leben, eigentlich einigen?
Güven: Präsident Erdoğan hat in seiner Regie-
rungszeit sehr viele Rechte für die Kurden einge-
führt, in der türkischen Regierung sitzen Kurden,
der türkische Geheimdienstchef ist Kurde, der
türkische Außenminister ist Kurde, der türkische
Gesundheitsminister ist Kurde, es gibt innerhalb
der Regierungspartei ...
Özdemir: ... das sind doch alles Menschen, die
damals vertrieben wurden aus ihren Dörfern, weil
sie zerstört wurden.
Güven: Aber die werden alles, sie werden Ärzte,
Politiker, Bürgermeister.
Özdemir: Solange sie sich an die Regeln der AKP
halten, kommen sie an diese Positionen.
ZEIT: Wir merken schon, Sie können sich auch
hier nicht einigen. Herr Güven, können Sie ver-
stehen, dass aus deutscher Sicht eine gewisse Skep-
sis herrscht, wenn in der Türkei Leute als Terroris-
ten kritisiert werden, die einfach nur Kritiker der
Regierungspartei AKP sind?
Güven: Wir müssen auch ein bisschen Empathie
mir der Türkei haben. Die Türkei ist vor drei Jah-
ren mit einem Militärputsch konfrontiert worden,
sie ist mit Terrororganisationen konfrontiert, die
ihre territoriale Sicherheit infrage stellen.
Özdemir: Wir wissen, dass der türkische Geheim-
dienst hier in Deutschland aktiv ist, dass Opposi-
tionelle hier verfolgt werden. Es hat sich auch oft
gezeigt, dass türkische Bürgerinnen und Bürger
den türkischen Sicherheitsbehörden melden, wenn
sich Oppositionelle hier in den sozialen Medien
kritisch gegenüber über die AKP äußern. Die
Konsequenzen daraus erlebe ich immer wieder. Ich
werde manchmal nachts anrufen von Leuten, die
sagen,so, ich werde hier gerade am Istanbuler
Flughafen festgehalten, und ich werde gleich vor
ein Gericht gestellt, was soll ich denn jetzt tun?
ZEIT: Sie, Frau Özdemir, haben sich allerdings
immer wieder für die Aufhebung des Verbots der
PKK ausgesprochen, einer Organisation, die zu-
letzt in der Türkei 2016 sehr schwere Anschläge
mit vielen zivilen Opfern verübt hat und die in
Deutschland laut Verfassungsschutz kurdische Ju-
gendliche für den Kampf gegen den türkischen
»Faschismus« rekrutiert. Sieht sich eigentlich jeder
Kurde von der PKK vertreten?
Özdemir: Die PKK hat sich mit einem Brief 2014
an die Bundesregierung gewandt und gesagt, dass
auch sie eine Veränderung durchlebt hat und be-
reit ist, in Gespräche zu kommen, sie hat den
Friedensprozess unterstützt. 2014 hat die PKK
Jesiden und Jesidinnen vor dem »Islamischen
Staat« gerettet. Wir sehen an den Strukturen in
Nordostsyrien, dass sie die progressivste Kraft in
der Region ist.
ZEIT: Die Frage bleibt, ob die PKK eine Terror-
organisation ist.
Özdemir: Sie ist Konfliktpartei in einem bewaff-
neten Konflikt. Ich denke, so muss man das be-
trachten, damit man bei diesem Konflikt weiter-
kommt in Richtung Frieden.
Güven: Die PKK ist auch in Deutschland eine
Terrororganisation, und zwar nicht nur, weil sie
Brandanschläge auf Moscheen verübt, sondern
auch weil sie hier Drogenhandel und Menschen-
handel betreibt und Schutzgelderpressung. Man
kann das Kurdenproblem mit der PKK nicht lö-
sen, weil die PKK gar nicht an einem Frieden in-
teressiert ist.
ZEIT: Wie beeinflusst der Einmarsch der türki-
schen Armee in Nordsyrien Ihr beider Leben hier
in Hamburg ganz konkret?
Özdemir: Ich versuche ständig neue Informatio-
nen zu bekommen und bin sehr beunruhigt. Es ist
für mich als Politikerin aber auch so, dass ich dann
in solchen Phasen immer mehr von Drohungen
betroffen bin, über die sozialen Medien.
ZEIT: Von welcher Richtung kommt das?
Özdemir: Von türkischer Richtung, von türkischen
Nationalisten. Von ihnen bekomme ich Mord-
und Vergewaltigungsdrohungen. Das schränkt na-
türlich den Alltag ein, weil man vorsichtiger wird.
Man schaut sich ständig um.
ZEIT: Wurden Sie schon tätlich angegriffen?
Özdemir: Tätlich nicht, aber ich wurde in Altona
zum Beispiel schon öfter dumm angemacht und
als Terroristin beschimpft. Vor meinem Büro stan-
den türkische Rechtsextremisten mit ihren Autos
und haben laute nationalistische Musik abgespielt.
So etwas ist für viele Kurdinnen und Kurden Alltag
in Deutschland. Deswegen stellen wir uns immer
die Frage: Sind wir als Kritikerinnen und Kritiker
der türkischen Regierung überhaupt sicher?
ZEIT: Wie sieht es bei Ihnen aus, Herr Güven?
Güven: Also, ich sehe die Lage sehr entspannt, weil
ich mich in Gegenden bewege, Moscheen, Vereine,
aber auch in Cafés, wo Türken und Kurden zu-
sammenkommen. Da sehe ich keine Probleme. Es
gibt natürlich eine gewisse Minderheit innerhalb
der kurdischen Community, die radikal ist, die die
Terrororganisation PKK unterstützt, also, da kann
es sein, dass so etwas vorkommt.
ZEIT: Das heißt, die Kurden, mit denen Sie zu tun
haben, regt der Einmarsch der Türkei nicht auf?
Güven: Überhaupt nicht, im Gegenteil, die finden
ihn auch gut, weil sie ihn aufgrund der Sicher-
heitsinteressen der Türkei für nötig halten. Die
PKK sind nicht die Kurden.
ZEIT: Frau Özdemir, sind Sie etwa nur undankbar
gegenüber der Türkei?
Özdemir: Wohl kaum. Das Problem ist, dass selbst
in der türkischen Zivilbevölkerung ein starker
anti kur di scher Rassismus existiert, aber auch ein
Rassismus, der sich gegen andere Minderheiten
richtet, zum Beispiel gegen Christen und Aleviten.
Es gab in der türkischen Geschichte ja auch den
Spruch: Ein guter Kurde ist ein toter Kurde. Und
das zeigt doch auch diesen Rassismus, der ...
Güven: ... Sie kennen sich mit der Türkei nicht
aus. Solche Leute wie Sie, die in der Diaspora le-
ben, haben ein ganz surreales, irreales Bild von
dem Land, über das wir reden.
Özdemir: Ich kenne dieses Land sehr gut!
ZEIT: In der Diaspora leben Sie ja nun beide,
sprich unter Verhältnissen von Meinungs- und In-
formationsfreiheit. Wie ist es eigentlich möglich,
dass die Kurden und die Türken, die in Deutsch-
land leben, daran scheitern, irgendetwas Konstruk-
tives zu diesem Konflikt beizutragen? Wenn man
Ihnen beiden zuhört, hat man den Eindruck, Sie
können sich auf überhaupt nichts verständigen.
Özdemir: Also, ich bin der Auffassung, dass der
gemeinsame Nenner sein sollte, dass man eine
friedliche Lösung des Konflikt möchte.
Güven: Ich kann das unterschreiben. Aber die
Führer der PKK haben gesagt, wir wollen diesen
Frieden nicht.
ZEIT: Wir sind schon wieder in der Türkei. Warum
schafft man es nicht, in der Diaspora eine eigene
Rolle, einen eigenen Standpunkt dazu zu ent-
wickeln, unabhängig von einer Regierung und einer
Bewegung?
Özdemir: Das Problem ist doch, dass Menschen,
vor allem Oppositionelle, immer die Befürchtung
haben müssen, hier in Deutschland angegriffen zu
werden, und dann entwickelt sich natürlich eine
Verteidigungshaltung. Es gibt da beispielsweise die
Osmanen Germania, den bewaffneten Arm der
AKP in Deutschland.
Güven: Ich denke, dass die Mehrheit der Kurden
und Türken in Deutschland keine Probleme hat.
Wenn man in die Moscheen geht, wenn man
Hochzeiten feiert, wenn man in den Cafés auf
dem Hamburger Steindamm sitzt, dann leben da
alle gut zusammen.
ZEIT: Warum können Sie, Frau Özdemir, nicht
anfangen mit einer Geste und einfach sagen: Sym-
pathie für die PKK geht keinesfalls, solange sie
türkische Moscheen bedroht oder Jugendliche an
die Front lockt?
Özdemir: Es geht hier nicht um die Frage der Sym-
pathie, es geht um eine politische Haltung. Frauen
und Männer in Nordostsyrien sind gleichberech-
tigt auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Diese
Frauen und Männer haben den »Islamischen Staat«
bekämpft, dem sollte Wertschätzung entgegen-
gebracht werden.
ZEIT: Herr Güven, warum kommt von Ihnen als
AKP-naher Politiker so wenig Kritik an dem Um-
stand, dass in der Türkei alle möglichen Leute
wegen Meinungsäußerungen als angebliche Terro-
risten verfolgt werden?
Güven: Also, ich sage immer meine Meinung dazu,
was ich davon halte, auch zu den Verantwortlichen
in der Türkei, wenn ich mal die Möglichkeit habe,
mit denen zu sprechen. Aber noch mal: Ich finde
wirklich, die Mehrheit der Einwanderer lebt hier
ganz friedlich, und diese Entspannung setzt sich
auch immer weiter fort.
Özdemir: Ich sehe eben diese Entspannung hier in
Deutschland nicht. Viele Kurden trauen sich zum
Beispiel nicht mehr, mit der deutschen Presse zu
sprechen, weil sie Angst haben, dass, wenn sie in
die Türkei einreisen, Konsequenzen auf sie war-
ten. Und das sind Menschen, die wirklich politisch
überhaupt nicht aktiv sind, die vielleicht noch
nicht mal auf einer Demonstration waren.
Güven: Es reisen jedes Jahr Millionen von Men-
schen in die Türkei ein und aus; vielleicht gibt es
20 bis 30 solcher Fälle, wie Sie sie schildern, und
egal was man über die Türkei sagt, es gibt dort
immer noch ein funktionierendes Rechtssystem.
Wenn die Leute unschuldig sind, werden sie frei-
gelassen.
Özdemir: Die Türkei ist kein Rechtsstaat.
Güven: Ja, Ihrer Meinung nach ist sie kein Rechts-
staat. Wissen Sie, wenn ich Sie so wahrnehme,
sind Sie aus meiner Sicht keine Vertreterin der
Linkspartei, obwohl Sie in Hamburg Fraktions-
vorsitzende sind; man hört von Ihnen kaum Aus-
sagen über gesellschaftliche Gerechtigkeit, statt-
dessen treten Sie in der Öffentlichkeit, auch in den
sozialen Medien, als Lobbyistin der PKK auf.
Özdemir: So werde ich vielleicht von Ihnen wahr-
genommen. Viele Akteurinnen und Akteure in der
Stadt sehen das ganz anders.
Moderation: Frank Drieschner und Özlem Topçu
»Ich bekomme Mord
drohungen von türkischen
Nationalisten«
In ihrer Heimat tobt Krieg. Können sich eine Deutschkurdin und ein Deutschtürke noch auf irgendetwas einigen? Ein Dialogversuch
Cansu Özdemir, 31,
ist Kurdin und
stellvertretende
Fraktionschefin
der Linken in der
Hamburgischen
Bürgerschaft.
Der Verfassungs
schutz rechnete
sie 2011 dem
Umfeld der
verbotenen
kurdischen PKK zu
Bülent Güven, 48,
geboren in der
Türkei, ist Unter
nehmensberater
und Vizevorsitzen
der der »Union
internationaler
Demokraten«,
einer Lobby
organisation, die
der türkischen
Regierungspartei
AKP nahesteht
Fotos: Thies Rätzke für DIE ZEIT
»Die PKK ist auch in
Deutschland eine
Terrororganisation«