Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1
In meinen Träumen kommt immer wieder ein Ort vor, den ich im realen Leben nicht kenne. Es ist eine namenlose Siedlung inmitten einer grünen, hügeligen Gegend, die nie völlig gleich aussieht. Hin und wieder fließt ein Fluss durch die Landschaft, mal gibt es eine Brücke, mal nicht. Die Stimmung, wie die Natur, kann friedlich oder bedrohlich sein. Ich bewohne dort ein Haus, das nicht immer an derselben Stelle steht, auch die Anordnung der Räume ist nicht immer die gleiche: Der Dach-boden kann sich zum Beispiel in einen Keller verwandeln oder gänzlich verschwinden. Im Nachbarhaus mag eine Kinder-schar fröhlich herumtoben oder, im nächsten Traum, ein alter, vereinsamter Junggeselle vor sich hin dösen. Ich wundere mich über die Abenteuer, die sich dort ereignen. Neulich trat zum Beispiel der Fluss über die Ufer, das Wasser überflutete den Hof und drohte ins Haus einzudringen. Was bedeutet dieser Ort, was bedeuten die bizarren Vor-kommnisse? Ist diese Siedlung vielleicht aus einem längst vergessenen Film in mein Unterbewusstsein gewandert, oder entspringt sie einer verschwommenen Kindheitserinnerung? Spiegelt die flüchtige Landschaft einen seelischen Zustand oder Ereignisse, die anderenorts stattfinden? Trotz aller Ver-änderungen weiß ich, dass es immer derselbe, deutlich er-kennbare Landstrich ist. Ganz sicher ist dieser Traumort kein

Paradies; die Dinge sind dort dem Verfall anheimgegeben, immer wieder ist etwas zu richten oder zu reparieren. Wo-möglich ändert sich nicht allein seine Erscheinung, sondern auch seine Bedeutung, die ich gerade deshalb nicht zu ent-rätseln vermag. Ich versuche es immer wieder aufs Neue.Solche schwankenden, unsteten Traumbilder können eine Metapher für eine sich unablässig wandelnde Welt sein, die ein Schriftsteller kaum in Worte fassen kann, weil Literatur ein langsames Gewerbe ist: Der langwierige Schreibprozess kann mit dem heutigen Tempo kaum Schritt halten. Umso größer unsere Sehnsucht ist nach festen Bezugs- und Ankerpunkten, in einer Welt, die sich – so Zygmunt Bauman – zunehmend verflüssigt. Verständlicherweise weckt bei manchen Menschen die zunehmende Flüchtigkeit der Dinge das Bedürfnis nach sta-bilen, unverrückbaren Richtwerten. Beides hat seine Tücken,
das Fließende wie das Feste. Das Paradies ist ein stabiler, bis zur Schmerzlichkeit unveränderlicher Ort – zu Menschen wurden Eva und Adam erst nach ihrer Vertreibung. Davor kannten sie kein Leid, keine Vergänglichkeit, keinen Tod. Die Vertreibung aus dem Paradies setzte die Zeit in Bewegung – wie ein Film, der auf Knopfdruck zu laufen beginnt.Ich habe überlegt, ob ich eines Tages losziehen und diese rät-selhaft vertraute Siedlung suchen sollte. Aber wo? Möglicher-

weise ist es ein Ort aus der Vergangenheit, aus einem frühe-ren Leben. Vielleicht hat ihn der Erzähler meines nächsten Romans erdacht, der hin und wieder von mir träumt.

»Das Paradies ist ein bis zur Schmerzlichkeit unveränderlicher Ort«


Olga Tokarczuk, 57, wurde in der vergangenen Foto Thomas RabschAufgezeichnet von Olga MannheimerZu hören unter http://www.zeit.de/audio
Woche mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Die polnische Schriftstellerin debütierte vor dreißig Jahren mit einem Gedichtband. Seither wurden ihre Romane, Erzählungen und Essays in vierzig Sprachen übersetzt und sowohl in Polen als auch international vielfach ausgezeichnet. In einer hochgelobten
deutschen Übersetzung ist kürzlich im Kampa Verlag ihr neuester Roman »Die Jakobsbücher« erschienen
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