an, grün schimmern dort die Flechten, Algen und Moo-
se. Reetdächer verlieren ihre anfangs goldgelbe Farbe, die
Reetschicht wird dünner, Moos wächst. Eines Tages muss
jedes Dach neu gedeckt werden, denn nichts ist für im-
mer, und deshalb gibt es Reinhold Junker.
Er stützt sich mit der Hand gegen das Reet und balanciert
auf einer Holzbohle seitwärts das Dach entlang. Das Reet
raschelt unter den Schritten. Unter ihm, bis zur Traufe,
sieht das Dach schon fertig aus, eine satte Schicht golde-
nes Reet, über ihm die nackten Dachsparren, die sich zum
First hinaufziehen, darunter Dämmplatten in Holzfarbe.
Er greift zwei Werkzeuge: eine unterarmlange, ge-
schwungene Nadel, an deren Spitze ein Draht befestigt
ist, und einen Metallgreifer, der so aussieht wie die Tei-
le, mit denen Großstadtmüllmänner Kaugummipapiere
von der Straße fischen. Dann näht er, so nennt sich das,
die Halme am Dach fest. Und nicht nur das Wort weckt
Assoziationen mit einem Krankenhaus-OP-Saal, auch
Junker sieht dort oben auf dem Dach für einen Moment
aus wie ein Chirurg. Mit einem leichten Zittern treibt
er die Nadel durch das Reet und führt den Draht an
ihrer Spitze unter der Dachlatte hindurch. Mit der an-
deren Hand versenkt er einen Metallhaken zwischen den
Halmen und angelt nach Nadel und Draht. Nach ein
paar Augenblicken bekommt er den Draht zu fassen und
zieht ihn auf der anderen Seite der Dachlatte heraus.
Dann verknotet er die beiden Draht enden und befestigt
so das Bündel Reet am Dach.
Als Junker in den Sechziger- und Siebzigerjahren auf-
wuchs, trugen im Alten Land noch die meisten Dächer
Reet. Schilf gab es an der Elbe im Überfluss. Kilometer-
weit ziehen sich die mannshohen Gräser an den Ufern
entlang, so ist das heute noch. Wer vom Deich zum Was-
ser geht, sieht das andere Ufer nicht mehr. Im Winter,
wenn der Boden gefroren war, schlugen die Bauern das
Reet, kämmten es – befreiten es also von den großen
Blättern und dem Unkraut –, trockneten es und banden
es schließlich auf die Dächer. Reetdächerdecken ist ein
Handwerk, das jahrtausendealt ist. Junker selbst kommt
nicht aus einer Reetdachdecker-Familie. »Aber irgend-
wann bekam das Haus, in dem ich mit meinen Eltern
wohnte, ein Reetdach«, sagt er. Er sah dabei zu, wie die
Handwerker die Reethalme aufs Dach banden, und half
ein wenig mit, es gefiel ihm. Fortan verdiente er sich in
den Ferien ein paar Mark dazu: Er saß im Dach, wenn re-
pariert oder gedeckt wurde, nahm Seile entgegen, wickelte
sie um die Dachlatten und reichte sie an die Dach decker
hinaus, die sie über den Halmen zusammenzurrten.
Nach der Schule wollte Junker eigentlich Tischler werden.
Aber die Menschen bestellten ihre Möbel längst nicht
mehr bei ihrem Tischler, sondern fuhren ins Möbelhaus.
Spanholzmöbel waren Fortschritt – und vor allem güns-
tig. Im Oktober 1974 eröffnete in München der erste Ikea
Deutschlands. Als Junker fünf Jahre später einen Aus-
bildungsplatz suchte, brauchte niemand mehr Tischler.
Das vielleicht erste Mal griff die Globalisierung in Rein-
hold Junkers Leben ein: Statt Tischler zu lernen, wurde er
Dachdecker mit der Spezialisierung aufs Reetdachdecken.
Junker lernte in einem Betrieb, in dem das Handwerk von
Generation zu Generation weitergegeben worden war
wie Folklore. »Vieles von dem, was mein Meister machte,
war überliefert, einiges davon auch falsch«, sagt er. Kaum
einen Dachdecker im Alten Land habe es damals inte-
ressiert, wie die Kollegen ihr Handwerk ausübten. Jeder
habe es so gemacht, wie er es gelernt hatte. Kaum einer
blickte zur Seite und fragte: Geht das noch besser? Wie
Um ein Dach auszubessern, müssen die Handwerker das Reet auf die richtige Länge kürzen
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