Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

D


as Abitur in Bayern sei viel
schwerer als das in anderen
Bundesländern. Immer wieder
bekam Severin Wenzeck aus
München diesen Satz als Schüler zu hören.
Ein paar Jahre später wollte er es genauer
wissen und verglich als Student für seine
Masterarbeit die Abituraufgaben mehrerer
Jahrgänge in Bayern und Berlin. Und tat-
sächlich: Während man in Bayern im
Schnitt 30 (Teil-)Aufgaben lösen muss, rei-
chen in Berlin im Schnitt 14. In Bayern
muss man den Stoff der ganzen Oberstufe
parat haben, in Berlin nur Teile davon.
Was Wenzeck für das Fach Mathe he-
rausgefunden hat, gilt allgemein: Das Abitur
ist nicht überall in Deutschland gleich
schwer. Je nachdem, in welchem Bundes-
land Schülerinnen und Schüler ihre Ab-
schlussprüfung machen, müssen sie Unter-
schiedliches leisten. Ein paar Beispiele:
· In manchen Bundesländern darf man im
Abitur ein zweisprachiges Lexikon benut-
zen, in anderen nur ein einsprachiges.
· In Bayern bekommen Schüler im münd-
lichen Abitur eine halbe Stunde vor der
Prüfung ein Thema gestellt, in Hamburg
dürfen sie sich auf die Präsentationsprüfung
zwei Wochen vorbereiten.
· Und auch die Noten fallen auffällig unter-
schiedlich aus. Während etwa in Thüringen
37 Prozent der Schüler ihr Abi mit einer
Eins vor dem Komma abschließen, sind es
in Schleswig-Holstein nur 17 Prozent.


Das ist ungerecht. Denn das Abitur-
zeugnis ist die Eintrittskarte ins Studium.
Jeder, der das Abitur besteht, darf in ganz
Deutschland studieren. In den USA zum
Beispiel ist das anders, dort entscheidet jede
Hochschule selbst über den Zugang zum
Studium. In Frankreich oder China da-
gegen gibt es eine nationale Abschluss-
prüfung: Alle Schüler müssen zur selben
Zeit die exakt gleichen Aufgaben lösen.
Auch in Deutschland sind die Bildungs-
minister unter Druck geraten, die Abitur-
niveaus anzugleichen. Anlass war ein Urteil
des Bundesverfassungsgerichts, wonach das
Abitur-Chaos gegen den Gleichheitssatz des
Grundgesetzes verstößt. Geklagt hatte ein
Bewerber fürs Medizinstudium. In diesem
Fach ist es besonders schwer, einen Studien-
platz zu ergattern, es kommt auf jedes
Zehntel der Abi-Note an. Bewerber aus
Bundesländern mit einem schwereren Abi-
tur erlitten deshalb »erhebliche Nachteile«.
Seitdem versuchen die Bundesländer, das
Abitur anzugleichen. Seit zwei Jahren gibt es
zum Beispiel für die Hauptfächer einen
bundesweiten Katalog von Abituraufgaben.
In Deutsch, Mathematik und Englisch ab-
solvieren jetzt Abiturienten aus (fast) allen
Bundesländern zur selben Stunde parallel
ihre Prüfung.
Dennoch bleiben Unterschiede. Denn
neben den gemeinsamen gibt es in jedem
Land noch eigene Aufgaben. Die Prüflinge
dürfen auswählen, welche sie bearbeiten.

Zudem können die Bundesländer die exter-
nen Aufgaben verändern, also schwerer
oder einfacher machen.
Ohnehin macht die schriftliche Prüfung
am Ende der Gymnasialzeit nur gut ein
Viertel der Abi-Note aus. Weit stärker ins
Gewicht fallen die Punkte, die ein Schüler
in seinen Oberstufenkursen fürs Reifezeug-
nis sammelt. Auch hier herrscht Willkür,
sprich 16 Bundesländer haben 16 unter-
schiedliche Prüfungsordnungen. Mal müs-
sen 40 Kurse ins Abitur eingebracht werden
(Sachsen), mal nur 32 (Berlin), mal zählen
Leistungskurse doppelt für die Abiturnote,
mal nur einfach.
Während in Schleswig-Holstein alle
Schüler Mathe auf Leistungskursniveau
pauken müssen, reicht in Hamburg der
Grundkurs. In Hessen muss nur eine
Natur wis sen schaf t bis zum Ab itur be le gt
werden, in Mecklenburg-Vorpommern
zwei. Die Folge: Schüler mit identischen
Leistungen bekämen in 16 Ländern 16 ver-
schiedene Abiturnoten, das zeigen Berech-
nungen.
Auch hier haben sich die Kultusminister
vorgenommen, den Wildwuchs zu be-
schneiden: Von 2021 an wollen sie die Zahl
der anzurechnenden Kurse und ihre Ge-
wichtung angleichen. Das deutsche Abitur
wird also ein bisschen einheitlicher – ein
Einheitsabitur wird es dennoch niemals ge-
ben. Die Ungerechtigkeit wird bestehen
bleiben, das ist der Preis des Föderalismus.

VORAUSSETZUNG

Schlechtes Zeugnis


Illustration: Lisa Tegtmeier für DIE ZEIT

Wie gerecht ist das Abi?


Ist es in Bremen wirklich leichter als in Bayern?
VON MARTIN SPIEWAK

ZEIT ABITUR Nr. 44/2019 16

Free download pdf