Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

DER POLITISCHE FRAGEBOGEN


»Mich muss niemand


um Verzeihung bitten«


Wie verrückt ist die Welt gerade? Und wie verrückt sind Sie?


Diese Woche beantwortet Winfried Kretschmann unsere Fragen


1 Welches Tier ist das politischste?
Zurzeit die Biene. Artenschutz ist zum
Glück in aller Munde. In Baden-Württem-
berg wurde zum Schutz der Bienen sogar
ein Volksbegehren gestartet.


2 Welcher politische Moment hat Sie
geprägt – außer dem Kniefall von Willy
Brandt?
Das Wahlergebnis der baden-württem-
bergischen Grünen von 1980 von 5,
Prozent. Es war das erste Mal, dass Grüne
in einem Flächenstaat ins Parlament
einzogen, und das Momentum für mich,
dass etwas Neues beginnt: Natur als
Politik.


3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Die wütende Reaktion des Rektors auf
meine Abiturrede im Jahr 1968.
Was hat ihn so aufgeregt?
Es war eine aufmüpfige Rede zu »Demo-
kratie an der Schule« respektive ihrem
Fehlen. Das hat ihm nicht gepasst. Bis
dahin waren literarische Reden üblich.


4 Wann und warum haben Sie wegen
Politik geweint?
Noch nie.


5 Haben Sie eine Überzeugung, die sich
mit den gesellschaftlichen Konventionen
nicht verträgt?
Die Mode mit zerrissenen Hosen finde
ich dekadent.


6 Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
Als ich 2015 bewirken konnte, dass über
tausend aus IS-Gefangenschaft entkom-
mene jesidische Frauen aus dem Nord-
irak nach Baden-Württemberg kommen
konnten.


7 Und wann haben Sie sich besonders
ohnmächtig gefühlt?
Ich habe mich bisher, Gott sei Dank, nie
besonders ohnmächtig gefühlt.


8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe? Sie
dürfen allerdings keinen Apfelbaum
pflanzen.
Kämpfen, hoffen und beten, dass es nicht
passiert.
Viele Jugendliche kämpfen gegen die Klima-
krise, mit dem Gefühl, dass die Welt unter-
gehen könnte. Teilen Sie das Gefühl?
Ich verstehe es, teile es aber nicht. Ich
halte es mit Hölderlin: »Wo aber Gefahr
ist, wächst das Rettende auch.«


9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Natürlich ist mir das »Dafür« lieber, aber
ein »Nein« ist oft ein Beginn, der Anfang
vom »Ja«.


10 Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Die linksradikalen Überzeugungen aus
meiner Studentenzeit. Ich halte sie für
fatale Irrtümer.
Wie würden Sie sich heute bezeichnen, eher
links oder eher rechts?
Grün.
Eher linksgrün oder konservativgrün?
Grün. Die Schöpfung zu bewahren ist
konservativ. Das Ziel zu erreichen bedarf
zugleich umwälzender Reformen.


11 Könnten Sie jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Aber ja.
Haben Sie schon mal jemanden geküsst, der
aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Wenn man vor dem Küssen erst nach
dem Parteiprogramm fragt, liest man
besser gleich die ZEIT.


12 Haben Sie mal einen Freund oder eine
Freundin wegen Politik verloren? Und
wenn ja – vermissen Sie ihn oder sie?
Nein.


13 Welches Gesetz haben Sie mal
gebrochen?
Geschwindigkeitsbegrenzungen, schon
öfters.
Gerade stimmte der Bundestag gegen ein
Tempolimit auf Autobahnen. Hätten Sie
dafür gestimmt?
Ja. Als Naturwissenschaftler sage ich:
Ekin=½mv^2. Als Politiker: Eine Ge-
schwindigkeitsbegrenzung führt zu mehr
Sicherheit und weniger Spritverbrauch,
damit weniger CO₂-Emission, zudem
verbessert sich der Verkehrsfluss, also
weniger Stau und Stress.


14 Waren Sie in Ihrer Schulzeit beliebt
oder unbeliebt, und was
haben Sie daraus politisch gelernt?
Ich war Schülersprecher. Bestimmt war
ich nicht bei allen Lehrern beliebt. Ich
wüsste aber nicht, was man aus Beliebt-
heit in der Schule lernen kann.


Sie waren später selbst Lehrer, waren Sie da
beliebt?
Eindruck und Rückmeldung lassen es
vermuten.
Würden Sie, wenn Sie noch Lehrer wären,
den Schülern, die gegen Regeln verstoßen
und freitags nicht zur Schule gehen, um fürs
Klima zu demonstrieren, mit Sanktionen
drohen?
Ich würde sie jedenfalls ins Klassenbuch
eintragen. Ob und wie man das sanktio-
niert, muss die Schulgemeinschaft ent-
scheiden.

15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich?
Keine.

16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
Schönschwätzer.

17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Andrea Nahles. Ich habe nicht verstan-
den, warum die Sozialdemokraten eine so
in der Wolle gefärbte Sozialdemokratin
absägen.

18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Ich musste schon mal jemanden um Ent-
schuldigung bitten, ist aber schon länger
her. Mich muss niemand um Verzeihung
bitten.

19 Welche Politikerin, welcher Politiker
sollte mehr zu sagen haben?
Rory Stewart, ein Mitglied der Tories. Ich
glaube, wenn so jemand mehr zu sagen
hätte, dann sähe es besser aus in der Welt.
So jemanden bräuchten die Briten wieder.
Denn auch Labour hat niemanden, über
den ich mich freuen könnte. Jedenfalls

niemanden, den ich kenne. Corbyn, fin-
de ich, ist keine Alternative zu Johnson.

20 Welche politische Phrase
möchten Sie verbieten?
»Das wird man ja wohl noch sagen dür-
fen.«

21 Finden Sie es richtig, politische Entschei-
dungen zu treffen, auch wenn Sie wissen,
dass die Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Ja. Das gehört zur Verantwortung dazu.
Angela Merkel hat kürzlich zu dem Thema
gesagt: »Politik ist das, was möglich ist.«
Das ist eine gravierende Verkürzung ei-
nes Zitates von Otto von Bismarck. Es
heißt richtig: »Politik ist die Kunst des
Möglichen.« Das ist etwas ganz anderes.
Das Wort »Kunst« heißt, den Raum des
Möglichen zu erweitern. Das muss man
versuchen. Wir haben die richtigen
Dinge beim Kampf gegen den Klima-
wandel eingeleitet, aber es geht nicht
schnell genug. Also muss man den
Raum erweitern. Wenn man sagt, »Poli-
tik ist das, was möglich ist«, dann tue
ich nur das, was ohne sie auch gesche-
hen würde. Das kann nicht der Sinn
von Politik sein.
Bedeutet das in Zahlen übersetzt, dass 10
Euro für die Tonne CO₂, wie sie die
Bundesregierung demnächst erheben will,
nicht ausreichen im Kampf gegen die Kli-
makrise – weil das nicht genug verändern
würde?
Wir müssen bei 40 Euro pro Tonne an-
fangen, und es muss hochgehen bis 180
Euro pro Tonne. 10 Euro hat keine Len-
kungswirkung.
Könnte ein grüner Kanzler 180 Euro pro
Tonne durchsetzen? Auch gegen den Wi-
derstand der Wirtschaft?
Der Verband Deutscher Maschinen- und
Anlagenbau hat vor wenigen Tagen für

einen Einstieg mit 40 Euro pro Tonne
CO₂ plädiert. Die Erhöhung würde suk-
zessive und planmäßig über einen länge-
ren Zeitraum erfolgen. Planbarkeit ist
eine der wichtigsten Bedingungen für die
Wirtschaft.

22 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Wir könnten mehr Unternehmergeist
gebrauchen.
Interessanter Satz aus dem Mund eines
grünen Politikers.
Da haben Sie vielleicht ein Klischee im
Kopf.

23 Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Dass man das Gefühl hat, dass die Tage
immer zu kurz sind.

24 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Da müssen Sie andere fragen.
Viele Menschen, die wegen der Klimakrise
auf die Straße gehen, halten alle regieren-
den Politiker für einen Teil des Problems.
Sie würden damit zum Teil des Problems
gehören, ist das richtig?
Nein.
Ein Beispiel: Baden-Württemberg ist Schluss-
licht bei der Windkraft.
Aber warum? Daran sind wir doch nicht
selbst schuld. Durch die restriktiven Aus-
schreiberegeln des Bundes ist bei uns die
Windkraft praktisch zum Erliegen ge-
kommen. Das kann ich allein nicht än-
dern. Aber ich bedauere es außerordent-
lich. Wir haben Jahre gebraucht, bis wir
die Blockadepolitik meiner Vorgänger
geändert haben. Dann gab es einen rich-
tigen Hochlauf, da hatten wir an die 150
neue Windräder in einem Jahr. Jetzt ist
das praktisch durch die Entscheidung
der Bundesregierung zusammengebro-
chen und werden noch zwei oder drei im
Jahr gebaut, mehr nicht. Das ist im An-
gesicht dessen, was mit dem Klimawan-
del auf uns zukommt, völlig unverant-
wortlich.

25 Nennen Sie ein politisches Buch, das
man gelesen haben muss.
Vita activa von Hannah Arendt.

26 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Bei der Welt würde ich acht sagen, ich
selber eins.

27 Der beste politische Witz?
Ich habe keinen politischen Witz auf
Lager.

28 Was sagt Ihnen dieses Bild (siehe das
Foto eines Mercedes links)?
So einen Mercedes hatte ich auch, nur in
Weinrot.
Würden Sie den gern noch fahren?
Nein. Der ist nicht umweltfreundlich.
Das Letzte, was wir über Sie und Ihre Autos
gelesen haben, ist, dass Sie sich einen Diesel
gekauft haben.
Das war im Jahr 2017. Damals gab es
noch keine deutschen Elektroautos, die für
meine Familie auf dem Land gepasst hät-
ten, vor allem was die Reichweite angeht.
Jetzt bin ich gerade dabei, ein Elektroauto
zu bestellen.
Sie haben 2011 gesagt: »Weniger Autos sind
natürlich besser als mehr.« Würden Sie den
Satz noch mal wiederholen?
Ja. Der Satz war richtig, aber nur mit
dem, was ich dazugesagt habe. Ich habe
damals auch gesagt, wie viele Autos ge-
kauft werden, entscheidet allerdings nicht
der Ministerpräsident, sondern der
Markt. Und deswegen kommt es drauf
an, was für Autos man baut. Vor acht
Jahren hat mich der Satz ein halbes Jahr
beschäftigt. Heute würde wahrscheinlich
kaum noch jemand widersprechen. Heute
ist doch keiner mehr der Meinung, dass
noch mehr Autos in den Städten herum-
fahren sollten. Wir leben in Stuttgart in
einer Stauregion. Die Staus in und um
die Stadt hatte ich damals vor Augen.
Deswegen ist da auch nichts zurückzu-
nehmen. Aber Politik besteht nicht aus
Halbsätzen.
Das war ein ganzer Satz.
Sie besteht auch nicht aus Ganzsätzen,
Politik besteht aus Einsichten.

29 Wovor haben Sie Angst – außer
dem Tod?
Dass meinen Enkeln etwas Schlimmes
passiert.

30 Was macht Ihnen Hoffnung?
Wenn Menschen sich um eine Idee ver-
sammeln und handeln. Dadurch können
sie das Unwahrscheinliche möglich ma-
chen. Man hat das am Fall der Berliner
Mauer gesehen.

Die Fragen stellte Petra Pinzler

Jede Woche stellen wir Politikern
und Prominenten die stets selben
30 Fragen, um zu erfahren, was sie
als politische Menschen
ausmacht – und wie sie dazu
wurden. Und wo sich neue Fragen
ergeben, haken wir nach.
Die Nachfragen setzen wir kursiv.

Mercedes-Benz-Oldtimer
(siehe Frage 28)

Wahlsieg 2011

Illustration: Alex Solman für DIE ZEIT; kl. Fotos (v.o.): Markus van Offern/imago; Michael Trippel/laif

Winfried Kretschmann, 71, studierte Chemie und Biologie für das Lehramt an Gymnasien. Im Jahr 2011 wurde er
als erster Grüner Ministerpräsident eines Bundeslandes. 2021 will er in Baden-Württemberg wieder antreten

8 POLITIK 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44

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