Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 POLITIK 9


Erhard Eppler starb am 19. Oktober in
Schwäbisch Hall. Er wurde 92 Jahre alt

Foto: Konrad Rufus Müller/Agentur Focus

Der etwas andere Pazifist


Eine Würdigung des sozialdemokratischen Visionärs Erhard Eppler VON GERHARD SCHRÖDER


E


rhard Eppler war ein Vordenker und
ein Wegweiser in schwierigen Zeiten,
nicht nur für seine Partei und für unser
Land, sondern auch für mich persön-
lich – in meinen Juso-Zeiten, während
meiner Kanzlerschaft und auch danach.
Unsere Wege haben sich häufig gekreuzt. Da-
bei waren wir nicht immer einer Meinung. Auch
lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir unter-
schiedliche politische Charaktere waren. Aber das
machte gerade den Reiz unserer Gespräche aus.
Vor allem war mir jedoch eines sehr wichtig: sein
Rat und seine Einschätzung politischer Ereignisse
und Entwicklungen.
In schwierigen Phasen meiner Kanzlerschaft
unterstützte er mich, insbesondere während der
Aus ein an der set zun gen um den Einsatz der Bundes-
wehr im Kosovo-Konflikt 1999 und während der
innerparteilichen Debatten um die Agenda 2010.
Ohne seine Hilfe wäre die Durchsetzung dieser
Entscheidungen schwieriger, wenn nicht gar un-
möglich gewesen.
Selten habe ich einen so politischen Menschen
kennengelernt wie Erhard Eppler, der bis ins hohe
Alter aktiv blieb. Vor zwei Jahren durfte ich zu
seinem 90. Geburtstag in der Evangelischen Aka-
demie Bad Boll die Laudatio halten. Das Publi-
kum erlebte einen agilen, hellwachen und humor-
vollen Jubilar. Er schickte mir Briefe und Artikel,
warb für einen von ihm gegründeten Friedens-
gesprächskreis und setzte sich für eine Verbesse-
rung des deutsch-russischen Verhältnisses ein.
In unseren Gesprächen beeindruckte mich,
dass er die Fähigkeit besaß, analytisches Denken,
Reflexion und politisches Handeln mit ein an der zu
verbinden. Aber vor allem hatte er ein mächtiges
Werkzeug: seine Sprache. Wer ihm zuhörte, der
war beeindruckt von ihrer Präzision, von der un-
glaublichen Argumentations- und Überzeugungs-
kraft. Seine Sprache war nicht wissenschaftlich
verklausuliert, sondern eingängig und anschaulich.
Und daher konnte er viele Debatten beeinflus-
sen. Einen Begriff prägte Erhard Eppler in beson-
derer Weise: Nachhaltigkeit. Dieser Begriff war für


NACHRUF


ihn nie auf das Ökologische beschränkt, sondern
ein umfassender politischer Ansatz, der die Voraus-
setzungen für ein menschenwürdiges Leben in Frie-
den, Sicherheit und Wohlstand schaffen sollte. Das
galt sowohl für die Umweltpolitik als auch für die
So zial- und Finanzpolitik und ebenso in den inter-
nationalen Beziehungen. In meiner Regierungszeit
griffen wir diesen Ansatz auf, entwickelten eine na-
tionale Nachhaltigkeitsstrategie und beriefen den
Rat für Nachhaltige Entwicklung.
Erhard Eppler gehörte zu den Ersten, die auf die
großen Chancen eines ökologischen Wachstums-
pfades für die entwickelten Industriegesellschaften
hinwiesen. Eine Position, die zunächst auf Ableh-
nung stieß, und zwar bis hinein in die eigene Partei.
In der Sozialdemokratie sollte es noch ein Jahrzehnt
dauern, bis das Thema Nachhaltigkeit program-
matisch verankert werden konnte. Angesichts der
aktuellen Herausforderungen, die der Klimawandel
verursacht, bleibt die Zielsetzung einer sozialen und
ökologischen Demokratie sein Vermächtnis.
Aber Erhard Eppler war keinesfalls ein Ver-
zichtsethiker oder gar ein Gesinnungsethiker, son-
dern ein Ethiker, der die Folgen des eigenen Han-
delns für die Zukunft bedachte. Er blendete dabei
die Wirklichkeit nicht aus. Pragmatismus war für
ihn kein Gegensatz zum visionären Denken, denn
Politik hatte für ihn immer auch realitätstauglich zu
sein. Gerade wegen dieses doppelten Bekenntnisses
zur Zukunft wie zur Gegenwart ließ er sich nie
ideologisch vereinnahmen.
Besonders deutlich wurde dies, als der Nachrüs-
tungsgegner Erhard Eppler in jener für die So zial-
demo kra tie ungemein schwierigen Entscheidungs-
findung über den Einsatz deutscher Soldaten im
Kosovo im Jahr 1999 eindeutig Stellung bezog: Zu-
sehen bei Menschenrechtsverletzungen, abwarten,
wenn die Rechte der Schwächeren mit Füßen getre-
ten werden, so sagte er, »ist nicht automatisch die
pazifistische Art«. Dass die deutsche Sozialdemokra-
tie diese schwierige Lage gemeistert und die histo-
risch richtige Entscheidung auf dem Parteitag im
Jahr 1999 getroffen hat, war auch Erhard Epplers
intellektueller Kraft, seiner sprachlichen Klarheit

und seiner politischen Sensibilität zu verdanken – Ei-
genschaften und Fähigkeiten, mit denen er die Partei
beschwor und sie am Ende überzeugen konnte.
Mit eindringlicher Schärfe hatte Erhard Eppler
schon früh auf die mörderischen Risiken einer »pri-
vatisierten Gewalt« aufmerksam gemacht, wie wir
sie dann am 11. September 2001 erleben mussten.
Aber er reduzierte diese Gefahren nicht auf den in-
ternationalen Terrorismus, sondern wies zu Recht
darauf hin, dass an den Orten, wo staatliche Ord-
nung zerfällt, kommerzialisierte Gewalt entsteht.
Diese Gewalt, das wissen wir heute, bedroht nicht
nur unsere Sicherheit, sondern rührt an den Wur-
zeln der sozialen Gerechtigkeit. Denn in dem
Maße, wie Gewalt privatisiert wird, privatisieren
Einzelne die Sicherheit. Damit wird Schutz zu einer
Frage des Geldbeutels.
Erhard Eppler stellte damals eine der zentralen
Zukunftsfragen: Welche Rolle wollen wir dem Staat
und dem Handeln multinationaler Institutionen
beimessen? Eppler wollte immer den aktiven und
interventionsfähigen Staat. Ohne ihn, davon war er
überzeugt, wäre Eigenverantwortung nichts anderes
als Privatisierung – der Bildung, der öffentlichen
Güter und der Infrastruktur, aber eben auch der
Lebensrisiken. Er war für einen, wie er sagte, »not-
wendigen Staat«, der sein Handeln nicht nach Par-
tikularinteressen ausrichtet, sondern der dem Ge-
meinwohl verpflichtet ist. Damit vertrat Erhard
Eppler eine ursozialdemokratische Einstellung, der
wir auch heute verpflichtet bleiben.
Es war die Art des Denkens in Prinzipien und
Konsequenzen, die Erhard Eppler unverwechselbar
machte. Seine visionären Thesen zu Nachhaltigkeit
und zur Zukunftstauglichkeit von Politik bleiben
für uns und unsere Kinder von größter, von über-
lebenswichtiger Bedeutung. Daher werden wir
noch für lange Zeit in den großen gesellschaftlichen
Debatten auf seine Visionen zurückgreifen können.
Erhard Eppler war ein großer Deutscher und ein
großartiger Mensch. Ich werde ihn vermissen.

Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 Kanzler der
Bundesrepublik Deutschland

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