Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.10.2019

(avery) #1

ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND


Freitag, 18. Oktober 2019·Nr. 242/42 R1 HERAUSGEGEBEN VON GERALD BRAUNBERGER, WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER 3,00 € D 2955 A F. A. Z. im Internet:faz.net


DFB-Generalsekretär Curtius


über Gündogan und Can,


zurückgenommene Likes und den


Integrationsmotor.Sport, Seite 28


Wie es Philipp Keel geglückt ist,


die Hälfte von Diogenes aus dem


Bettschart-Nachlass zu kaufen


und den Verlag wieder in Familien-


hand zu vereinen.Feuilleton, Seite 9


Wo kann noch gebaut werden?


Tarek Al-Wazir sprach mit Bürger-


meistern aus dem Frankfurter Um-


land.Rhein-Main-Zeitung, Seite 29


Finanzminister Olaf Scholz reist


zur IWF-Herbsttagung nach


Amerika. Ist es womöglich sein


Abschied?Wirtschaft, Seite 17


Zehntausende ziehen friedlich


durch Katalonien – den Bildern


der Gewalt haben sie aber wenig


entgegenzusetzen.Politik, Seite 3


Frankfurter Bogen


D


ie Proteste gegen die Strafen für
zwölf Separatisten haben den Ka-
talonien-Konflikt wieder aufleben las-
sen. Vor zwei Jahren wollten Carles
Puigdemont und seine Mitstreiter Ka-
talonien unabhängig machen. Ihr Ver-
such endete in einem politischen Fias-
ko. Seitdem ist nichts vorangegangen.
Die Flammen des schwelenden Kon-
flikts schlagen wieder hoch. Hundert-
tausende werden an diesem Freitag
nach Barcelona strömen, um für die
Freilassung ihrer Anführer und eine ei-
gene Republik zu demonstrieren. Die
separatistische Führung kündigt trot-
zig an: „Wir werden es wieder tun.“
Weder in Barcelona noch in Madrid
ist die Bereitschaft zu erkennen, das
Urteil als einen Wendepunkt zu nut-
zen oder wenigstens innezuhalten, um
aus Fehlern zu lernen. Nach Ansicht
des spanischen Ministerpräsidenten
Pedro Sánchez sind in diesen Tagen
die letzten Zuckungen der sterbenden
Unabhängigkeitsbewegung zu beob-
achten. Doch deren junge Generation
hat sich radikalisiert, und immer mehr
ignorieren die Aufrufe, nicht gewalttä-
tig zu werden. Statt nach vorne zu bli-
cken, starren alle gebannt auf die ver-
mummten Aktivisten.
Es war naiv, zu erwarten, dass ausge-
rechnet ein Richterspruch dabei hel-
fen könnte, mit einem Schlussstrich
die seit vielen Jahren schwärende Wun-
de zu heilen. Der Oberste Gerichtshof
musste deutlich machen, dass sich in
einer Demokratie niemand über die
Verfassung hinwegsetzen und Ge-
richtsbeschlüsse ignorieren kann. Die
geahndeten Verstöße waren kein politi-
scher Bagatellschaden, verursacht von
verzweifelten Katalanen, die die un-
nachgiebige Regierung in Madrid zu
Gesprächen zwingen wollten. Wer ein-
seitig die Unabhängigkeit ausruft und
dafür Steuergelder verwendet, muss
für die juristischen Folgen einstehen.
Das Urteil hat allen vor Augen ge-
führt, dass der Versuch, einseitig die
katalanische Unabhängigkeit zu er-
zwingen, nirgendwohin führt. Rück-
sichtslos haben sich die Vorkämpfer ei-
nes eigenen Staates über die andere
Hälfte der katalanischen Bürger hin-
weggesetzt, die wollen, dass ihre Hei-
mat ein Teil Spaniens bleibt. Laut neu-
en Umfragen haben wieder die Geg-
ner der Unabhängigkeit einen kleinen
Vorsprung vor ihren Befürwortern.
Seit Jahren kommt jedoch kein Lager
über fünfzig Prozent. Was fehlt, sind
mutige Politiker, die nicht in alte Refle-
xe verfallen, sondern die jeweiligen Na-
tionalisten hier wie dort in die Schran-
ken weisen. Sonst gibt es in Katalo-
nien und im Rest Spaniens weiterhin
nur Verlierer.
In Katalonien verstrich ungenutzt
viel zu viel Zeit. Im Jahr 2010 scheiter-
te das neue Autonomiestatut vor dem
Verfassungsgericht. Die Pläne für
mehr Selbstverwaltung waren nicht
perfekt, aber sie wiesen den richtigen
Weg. Die konservative Volkspartei
(PP) hatte dagegen geklagt. In ihren

sieben Jahren an der Macht taten we-
der die PP noch die katalanischen Re-
gierungen etwas, um die Mängel zu be-
heben und die Autonomie auszubau-
en, zum Beispiel durch ein Gesetz, das
die finanziellen Beziehungen zwi-
schen der mächtigen Zentralregierung
und den autonomen Regionen gerech-
ter geregelt hätte.
Das Urteil des Verfassungsgerichts
wurde zum Startschuss der Unabhän-
gigkeitsbewegung. Die separatisti-
schen Parteien übernahmen die Regio-
nalregierung und missbrauchen deren
Infrastruktur seitdem für ihr einziges
Ziel. Ihre eigentlichen Aufgaben im
Sinne der Bürger vertagt diese Regie-
rung auf die Zeit nach der Unabhängig-
keit. Die Ausschreitungen und die Blo-
ckaden der vergangenen Tage haben

die vielen Katalanen, die einfach nur
in Ruhe ihr Leben führen wollen, wie-
der zu Geiseln des Konflikts gemacht.
Es besteht wenig Grund, zu hoffen,
dass sich in absehbarer Zeit viel än-
dert. In Madrid sind seit bald vier Jah-
ren schwache Minderheitskabinette
oder geschäftsführende Regierungen
im Amt. Sie erwiesen sich auch bei vie-
len anderen wichtigen Fragen als re-
formunfähig. Dabei kann sich Spanien
die Dauerkrise in Katalonien, wo ein
Großteil des Geldes verdient wird, gar
nicht leisten. Nach Jahren des Wachs-
tums verliert die Wirtschaft wieder an
Fahrt.
Wie ein Mühlstein hängen die unge-
lösten Probleme Kataloniens am Hals
der Regierung in Madrid. Im Februar
scheiterte die sozialistische Minder-
heitsregierung, weil die beiden separa-
tistischen Parteien aus Katalonien
nicht bereit waren, ihren Haushalt zu
unterstützen. Im April zog die rechts-
populistische Vox-Partei ins nationale
Parlament ein und schwächte die bei-
den anderen konservativen Parteien:
Viele Vox-Wähler waren unzufrieden
mit deren Katalonien-Politik.
Diese politische Blockade droht wei-
terzugehen. Welche Wirkung das Ur-
teil und seine Folgen entfalten, wird
sich bei der Parlamentswahl am 10. No-
vember zeigen. Wie hart Pedro Sán-
chez am Ende durchgreift, könnte ent-
scheidend für das Wahlergebnis sein.
Vor zwei Jahren brachte die massive In-
tervention der Zentralregierung nach
dem gescheiterten Referendum den se-
paratistischen Parteien noch mehr
Wähler. Erstarken diese radikalen
Kräfte im nationalen Parlament, wer-
den es Sánchez’ Sozialisten und ihre
Partner noch schwerer haben, eine
Mehrheit zu finden, um endlich den
Dialog in Gang zu bringen, den ganz
Spanien so dringend braucht.

D

ie Erleichterung ist groß, dass
kurz vor Ultimo die Regierung
Johnson und die Europäische Union
eine Einigung über ein Austrittsab-
kommen erzielt haben. Das Gespenst
eines ungeordneten Austritts ist zwar
nicht gebannt, aber die Gefahr, dass es
zum großen Chaos für die Wirtschaft
diesseits und jenseits des Ärmelkanals
und auf der irischen Insel kommt –
und dort sogar zu einem Wiederaufle-
ben der Gewalt –, ist geringer gewor-
den. Die sachliche Hürde – das künfti-
ge Zollregime zwischen der Republik
Irland und Nordirland – scheint genom-
men zu sein; allerdings muss sich in
der Praxis noch erweisen, ob die tech-
nische Lösung tatsächlich die Quadra-
tur des Kreises ist und funktionieren
wird. Tatsächlich bekommt Nordirland
einen Sonderstatus: Es ist zwar Teil
der Zollunion des Königreichs, bleibt
aber mit der EU in einer Zollpartner-
schaft verbunden und muss auch EU-
Binnenmarktregeln befolgen. Gänz-
lich neu kommt einem das nicht vor.
Das Urteil darüber wird vor allem die
britische Politik fällen.
Den Willen zur Einigung haben bei-
de Seiten unter Beweis gestellt. Die
EU-Führung kann zufrieden mit dem

„ausgewogenen“ Abkommen sein,
weil es Kernanliegen der Union respek-
tiert, zum Beispiel die Integrität des
Binnenmarktes. Bewegt hat sich mehr
die britische Regierung unter Boris
Johnson, der bislang durch markige
Sprüche und drastische Wortwahl auf-
gefallen war. Doch auch der Premier-
minister konnte nicht so tun, als gebe
es die irischen politischen und wirt-
schaftlichen Besonderheiten nicht.
Was Johnson als „großartigen, neu-
en Brexit-Deal“ preist, muss jetzt die
Feuertaufe bestehen. So bombensi-
cher ist es nicht, dass das Abkommen
an diesem Samstag eine Mehrheit im
Unterhaus bekommt. Die Gegner ma-
chen schon mobil; die einen, weil ih-
nen der Brexit nicht hart genug ist, an-
dere, weil das Vereinigte Königreich
nicht nahe genug an der EU bleibt, die
protestantischen Nordiren, weil sie
jedweden Sonderstatus ablehnen.
Wenn aber Johnson eine Mehrheit für
seinen Deal erhält, der so weit von
dem nicht entfernt ist, den seine Vor-
gängerin ausgehandelt hatte, dann
wird das Königreich die EU verlassen:
auf geordnetem Wege und aller Vor-
aussicht nach am 31. Oktober. Früher
oder später wird es dann im König-
reich Neuwahlen geben, die EU kann
sich endlich anderen dringenden The-
men zuwenden, und beide Seiten kön-
nen über ihre Zukunft reden. Es wird
Zeit, dieses Kapitel abzuschließen.

hmk./job./Lt. BRÜSSEL/LONDON/BER-
LIN, 17. Oktober. Die Europäische Union
und das Vereinigte Königreich haben sich
nach tagelangen Verhandlungen doch
noch auf einen Austrittsvertrag geeinigt.
Kurz vor Beginn des Gipfeltreffens der
EU-Staats- und -Regierungschefs in Brüs-
sel verkündeten Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker und der britische Pre-
mierminister Boris Johnson am Donners-
tag den Durchbruch. Die Vertreter der 27
EU-Partner hießen die Einigung am
Abend nach einer kurzen Aussprache gut.
Das britische Unterhaus soll am Samstag
darüber abstimmen. Der Ausgang dort ist
allerdings alles andere als sicher.
Der irische Ministerpräsident Leo Va-
radkar begrüßte das Brexit-Abkommen
ausdrücklich: „Wir haben eine einzigarti-
ge Lösung für Nordirland gefunden, die
der einzigartigen Geschichte und Geogra-
phie Rechnung trägt.“ EU-Chefunter-
händler Michel Barnier hatte Varadkar
eine entscheidende Rolle bei der Kompro-
misssuche zugeschrieben. Es sei zuletzt
viel über technische Fragen und Waren ge-
sprochen worden. „Was aber für mich seit
drei Jahren wirklich zählt, sind die Bürger
Nordirlands und Irlands. Was wirklich
zählt, ist Frieden“, sagte er. Juncker
sprach von einer „fairen und ausgewoge-
nen“ Vereinbarung. Es gebe nun keine gu-
ten Gründe mehr für eine abermalige Ver-
schiebung des für Ende Oktober vorgese-
henen Brexits.
Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte
am Abend in Brüssel klar, dass die 27
Staats- und Regierungschefs keine Vorbe-
dingungen an das Unterhaus gestellt hät-
ten. Das britische Parlament sei ein „al-
tes, erfahrenes, weises Parlament“, das
eine freie Entscheidung treffen werde.
Die EU-27 hätten sich nicht mit allen
„Wenn-Aber-Fragen“ beschäftigt. Wenn
das Unterhaus abgestimmt habe, würden
sich die EU-Partner mit dem Ausgang be-
fassen. Auch in den Schlussfolgerungen
des Gipfeltreffens wurde die Frage einer
möglichen Verschiebung des Brexits
nicht aufgegriffen. Nach britischen Me-
dienberichten soll Johnson die EU-27 ge-
beten haben, eine Verschiebung auszu-
schließen und so das Unterhaus vor die
Wahl zu stellen, den Deal entweder anzu-
nehmen oder einen ungeordneten Brexit
zu riskieren. Entsprechend wurden die
Aussagen Junckers interpretiert.
Johnson betonte, mit dem Deal könne
Großbritannien einen „echten Brexit“
vollziehen. „Das heißt, dass das Vereinig-
te Königreich die EU am 31. Oktober voll-
ständig und ganz verlässt“, sagte er. Groß-


britannien könne künftig Handelsabkom-
men mit Partnern in aller Welt abschlie-
ßen und allein über Gesetze, Grenzen
und sein Geld entscheiden. Zugleich rief
er die Abgeordneten im Unterhaus dazu
auf, dem Entwurf zuzustimmen. „Jetzt ist
der Moment, um den Brexit zu Ende zu
bringen“, sagte er. Es sei an der Zeit, sich
wieder „anderen Prioritäten zuzuwenden
wie dem Lebensstandard, dem Nationa-
len Gesundheitsdienst, der Gewaltkrimi-
nalität und unserer Umwelt“.
Die protestantische nordirische DUP,
die Johnsons Regierung stützt, lehnte den
Brüsseler Kompromiss in einer Stellung-
nahme ab. Er schaffe Trennlinien zwi-
schen Nordirland und dem Rest des Verei-
nigten Königreichs. Der Kompromiss
sieht vor, dass Nordirland faktisch in der
EU-Zollunion bleibt. Es sind damit Kon-
trollen in der Irischen See nötig. Die EU-
Partner kamen Johnson in der Schluss-
phase der Verhandlungen in einem ent-

scheidenden Punkt entgegen. Der Ver-
bleib Nordirlands in der Zollunion soll an
die Zustimmung des Regionalparlaments
in Belfast gekoppelt sein. Es kann voraus-
sichtlich erstmals Ende 2024 darüber be-
finden, ob der Sonderstatus fortbestehen
soll. Die Präsidentin der Sinn Fein, Mary
Lou McDonald, lobte hingegen, dass
durch den Kompromiss ein No-Deal Bre-
xit abgewendet worden sei. Allerdings
könne jeder Deal nur den Schaden be-
grenzen, der durch den Austritt aus der
Europäischen Union entstehe.
Die Vorsitzenden der britischen Opposi-
tionsparteien kritisierten den Vertragsent-
wurf scharf und kündigten an, ihn nicht
im Parlament zu unterstützen. Er sei
„noch schlechter als Theresa Mays Deal,
der mit überwältigender Mehrheit abge-
lehnt wurde“, sagte Labour-Chef Jeremy
Corbyn am Donnerstag. Die Vorsitzende
der Liberaldemokraten, Jo Swinson, be-
zeichnete den Deal als einen „Akt des wirt-

schaftlichen Vandalismus“, dessen Auswir-
kungen schlimmer wären als die der inter-
nationalen Finanzkrise vor zehn Jahren.
Auch der Anführer der nicht im Parla-
ment vertretenen Brexit Party, Nigel Fara-
ge, sprach sich gegen den Vertrag aus.
„Dies ist einfach kein Brexit“, sagte er.
Ratspräsident Donald Tusk sagte, er
hoffe immer noch, dass die Briten eines
Tages in die EU zurückkehren würden.
Die Tür bleibe für sie immer offen. Mer-
kel sprach sich dafür aus, schnell die Ver-
handlungen über ein Handelsabkommen
aufzunehmen. Außenminister Heiko
Maas sprach von „hoffnungsvollen Nach-
richten“ und lobte den EU-Unterhändler
Barnier für dessen „diplomatisches Kunst-
stück“. Wirtschaftsminister Peter Altmai-
er sagte, nun sei es möglich, die befürchte-
ten negativen Effekte für die Wirtschaft
zu begrenzen und neue günstige Vereinba-
rungen zu schließen.(Siehe Seite 2 sowie
Wirtschaft, Seiten 15 und 23.)

Unabhängigkeitsmarsch


In derLuft


„Deutliche Distanzierung“


bub./elo.BERLIN, 17.Oktober. Bundes-
präsident Frank-Walter Steinmeier ist
entschieden der Einschätzung entgegen-
getreten, dass es sich bei den Morden in
Halle um die Tat eines Einzeltäters ge-
handelt habe. In einer Grundsatzrede
über den Zusammenhang zwischen ver-
rohter Sprache und Gewalt, die Steinmei-
er vor der Konrad-Adenauer-Stiftung
hielt, sagte er am Donnerstag: „Wie kann
ein Täter als Einzeltäter gelten, wenn er
von rechtsextremen Seilschaften im In-
ternet inspiriert und getragen, von dump-
fen Parolen auf Marktplätzen und in so-
zialen Medien befeuert wird?“ Die Tat
von Halle – der Täter hatte sich gewalt-
sam Zutritt zu einer Synagoge verschaf-
fen wollen, war gescheitert und hatte an-
schließend zwei Menschen erschossen –
reihe sich ein in eine „lange Linie von
rechtsextrem, antisemitisch oder rassis-
tisch motivierten Morden und Gewaltak-

ten in unserem Land“. Wer heute noch
von Einzelfällen spreche, der rede an der
„Tiefenstruktur des Problems“ vorbei.
Wer den Zusammenhang solcher Gewalt-
taten mit einer „Verrohung unserer De-
batten“ leugne, sei „entweder naiv oder
nachlässig“.
Der Bundespräsident sagte, Grenzzie-
hung bedeute nicht Gesprächsabbruch.
„Im Gegenteil, die Grenzziehung gegen
Hass, Hetze und Herabsetzung ist Voraus-
setzung für eine gelingende, demokrati-
sche Debatte mit Andersdenkenden.“
Steinmeier empfahl, man möge sich an
die Debatten nach dem Mauerfall erin-
nern, wenn es um die heutige Diskussion
über die Demokratie gehe. „Ich glaube:
Wir haben da einen gewaltigen Erfah-
rungsschatz in unserem Land, aus dem
wir bislang noch viel zu wenig gemacht
haben. Gerade auf der Suche nach der De-
mokratie von morgen hat uns das Erbe

der Friedlichen Revolution, das Erbe Ost-
deutschlands viel zu sagen.“
Im Bundestag wurde ebenfalls über die
Taten von Halle und den Antisemitismus
debattiert. Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) kündigte einen Sechs-
Punkte-Plan zur Bekämpfung des Antise-
mitismus an. In einer gemeinschaftlichen
Aktion von Bund und Ländern werde man
„alles Menschenmögliche“ tun, um jüdi-
sche Einrichtungen besser zu schützen,
sagte Seehofer. Er lobte die Sicherheitsbe-
hörden als „qualifiziert, sensibel und auf-
merksam“ bei der Verfolgung antisemiti-
scher Straftaten, sowohl das Bundeskrimi-
nalamt als auch der Verfassungsschutz
brauchten aber „einige hundert“ zusätzli-
che Stellen. Bundesjustizministerin Chris-
tine Lambrecht (SPD) kündigte für kom-
mende Woche konkrete Vorschläge zum
schärferen Kampf gegen Rechtsextreme
an.(Siehe Seite 4; Kommentar Seite 8.)

Heute


F.A.Z. Frankfurt, 17. Oktober. Die Verei-
nigten Staaten und die Türkei haben sich
auf eine Waffenruhe in Nordsyrien geei-
nigt. Die Türkei werde ihren Militärein-
satz gegen die Kurdenmilizen fünf Tage
lang stoppen, sagte der amerikanische Vi-
zepräsident Mike Pence am Donnerstag-
abend in einer Pressekonferenz in Anka-
ra. Ziel sei es, dass die Kämpfer der
„Volksverteidigungskräfte“ (YPG) abzie-
hen können. Diese Phase habe bereits be-
gonnen. Nach dem vollständigen Abzug
der Milizionäre solle die Offensive ganz
beendet werden. Eine amerikanische De-
legation unter Führung von Pence und
der türkische Präsident Recep Tayyip Er-
dogan hatten die Vereinbarung am Don-
nerstag in mehrstündigen Verhandlun-
gen erzielt. „Das ist ein großartiger Tag
für die Zivilisation“, sagte der amerikani-
sche Präsident Donald Trump in Fort
Worth in Texas. Die von der YPG ange-

führten „Syrian Democratic Forces“
(SDF) wollen die Waffenruhe akzeptie-
ren. „Wir werden alles tun, damit die Waf-
fenruhe ein Erfolg wird“, sagte SDF-Be-
fehlshaber Mazloum Abdi dem kurdi-
schen Sender Ronahi TV.
Die Türkei hatte vor einer Woche einen
Militäreinsatz gegen die YPG-Miliz begon-
nen, die in Nordsyrien ein großes Gebiet
kontrolliert. Ankara betrachtet die YPG
als verlängerten Arm der terroristischen
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Ziel der
Operation „Friedensquelle“ ist es, jenseits
der türkischen Südgrenze in einem gut 30
Kilometer breiten Streifen eine sogenann-
te Sicherheitszone zu errichten. Der türki-
sche Außenminister Mevlüt Cavusoglu er-
klärte am Donnerstag, mit Amerika sei
verabredet worden, dass die Türkei die
Kontrolle über die geplante Sicherheitszo-
ne übernehmen solle. Vereinbart sei zu-
dem, dass die schweren Waffen der YPG

eingesammelt und deren Stellungen zer-
stört werden sollten.
Möglich war die türkische Offensive
erst durch einen von Trump veranlassten
Abzug der amerikanischen Truppen aus
der Region geworden. Für die Vereinig-
ten Staaten waren die Kurden in Nordsy-
rien die entscheidenden Alliierten im
Krieg gegen den „Islamischen Staat“
(IS). Der türkische Einmarsch stieß inter-
national auf große Kritik, weil ein Wie-
dererstarken des IS sowie eine weitere
Destabilisierung des Bürgerkriegslands
Syrien befürchtet wurden. Anfang der
Woche hatte Amerika Sanktionen gegen
die Türkei verhängt. Diese sollen im Fal-
le einer dauerhaften Waffenruhe in Nord-
syrien wieder aufgehoben werden, wie
Vizepräsident Pence am Donnerstag er-
klärte. Vorerst würden keine weiteren
Strafmaßnahmen gegen die Türkei ver-
hängt.(Siehe Seiten 5 und 8.)

Feuerprobe steht noch aus:Johnson und Juncker verkünden am Donnerstag das Ergebnis ihrer Einigung. Foto Bloomberg


Schwieriges


Erbe


Erleichterung nach Brexit-Einigung


Varadkar: Einzigartige Lösung für Nordirland / Johnson: Austritt am 31. Oktober / Zustimmung im Unterhaus ungewiss


Der spanische Mühlstein


VonHans-Christian Rößler


Waffenruhe für Nordsyrien vereinbart


Vizepräsident Pence erzielt Einigung mit Erdogan / Kurdische Milizen sollen abziehen


Steinmeier: Stephan B. war kein Einzeltäter


Rede über die Morde in Halle / Seehofer kündigt Plan zum Kampf gegen Antisemitismus an


Briefe an die Herausgeber Seite 25


Der Katalonien-Konflikt
istwieder voll entbrannt.
Seit dem Fiasko vor zwei
Jahren geht nichts voran.

Aufatmen


VonKlaus-Dieter Frankenberger


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Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Österreich, Portugal (Cont.), Slowakei, Slowenien, Spanien 3,80 € / Griechenland, Kanaren, Malta, Niederlande, Zypern 3,90 € / Dänemark 29dkr/ Großbritannien 3,70 £ / Schweiz 5,10 sfrs / Ungarn 1050 Ft

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